Das einzige, was hinreißender ist als eine hinreißende Pianistin, sind zwei hinreißende Pianistinnen. Und wie Aristoteles schrieb, Platon sei sein Freund, die Wahrheit aber noch mehr, so muss der Konzertgänger bekennen, dass strikte Neutralität gegenüber äußerlichen Reizen seine Freundin ist, aber mehr noch die unwiderstehliche Attraktivität der klavierspielenden Schwestern Katia & Marielle Labèque. Die sind so hinreißend, da wird er ganz hirnrissig. Noch hinreißender aber, dass die Kunst der Schwestern sich am äußerst selten gespielten Doppelklavierkonzert von Max Bruch bewährt. Semyon Bychkov stellt es bei den Berliner Philharmonikern zwischen Detlev Glanert und Antonín Dvořák, in eine Drillingsreihe von Werken, die in gewisser Weise alle kleine Schwestern von Johannes Brahms sind. Die große Schwester Brahms ist die allgegenwärtige Abwesende in diesem Konzert, das als Ganzes dann aber nicht ganz so hinreißend ist wie die Labèque-Sœurs.
Max Bruchs Konzert für zwei Klaviere und Orchester op. 88a (1915) beginnt mit einer dramatischen Fanfare, als käme gleich sonstwas. Zu Beginn des Finales kehrt die Fanfare wieder, in gesteigerter Form, als wär inzwischen Ungeheures geschehen. Ist es aber nicht so recht. Die Dramatik des Beginns findet keine Ausführung, keine Begründung, verpufft. Im zweiten Satz weht Brahmsmotivik vorüber, aber es wirkt ungewollt aphoristisch, zerfallend. Das Adagio, an dritter Stelle, beginnt berührend, aber es entfaltet sich nichts, singt sich nicht aus, sondern schwillt nur an. Das große Finalbohei hat was von Krönung ohne Leib drunter.
Dieses Anschwellen statt Entfaltung kennzeichnet das ganze Werk, das mit seinen gut 20 Minuten kurios gestaucht wirkt: ein seltsames Missverhältnis von vertikaler und horizontaler Ausdehnung. Wie ein Elefant, der auf dem Rüssel steht.
Merkwürdige Formprobleme für einen Komponisten, der als so konservativ gilt, dass er angeblich noch an Mendelssohn festhielt, als es schon den Sacre und die Zweite Wiener Schule gab. Ist ja auch eine Erkenntnis: warum von Bruch kaum je was außer dem ewigen Violinkonzert gespielt wird (z.B. am heutigen Freitagabend beim RSB). Dabei sind klangliche Reize ja da. Hätte Bruch lieber Valses sentimentales schreiben sollen statt großer Form?
Die zwei Klaviere freilich, die der auf dem Rüssel stehende Elefant auf den Fußsohlen balanciert, haben ihren zoologischen Wert. Ohnedies ja pfiffig, das Klavier vor dem Untergang im sehrspätromantischen Riesenorchesterapparat zu bewahren, indem man einfach zwei davon nimmt. Andererseits geht Persönliches ein bisschen flöten, das Ringen des Einzelnen und so; die Verdopplung verstärkt den repräsentativen Charakter.
Dargeboten aber wirds ausgezeichnet. Die Labèques, Schwestern nicht nur im Sinn von sœurs, sondern hier auch von infirmières, injizieren der Sache jede Menge Leben. Beide ganz in Schwarz, unten Schlaghosen und obenrum mit glitzernden Applikationen, silberglitzrig bei der linken am hinteren, hochgedeckelten Steinway, rosasilbrig bei der rechten am vorderen, abgedeckelten. Am schönsten tönt bald zu Beginn das bach’sch angehauchte, gedämpfte Doppelsolo. Die Labèques spielen klar, anmutig, in blindem Verständnis.
Am schönsten freilich ist die Zugabe, bei der sie nebeneinander am linken Flügel sitzen, Maurice Ravels Ma mère l’oye:
Die Berliner Philharmoniker sind hervorragend präpariert. Semyon Bychkov dirigiert die Chose zweckdienlich und angenehm sachlich, auch wenn er manchmal mit dem Stab so nach unten piekst, dass die erste Streicherreihe dem Pult nicht zu nah sitzen sollte.
Die Qualität des Orchesters ist in Antonín Dvořáks 7. Sinfonie d-Moll besser investiert. Leider jetzt ohne die Labèques. Aber das Werk, das nun wahrlich nichts von kleiner Schwester hat, trägt genug Feuer in sich selbst, auch wenn die Interpretation die Flammen nicht allzu hoch lodern lässt. Bychkov setzt die Schwerpunkte recht knallig, und es knallt nicht immer an den spannendsten Stellen und Wendepunkten. Vor allem aus dem ersten und vierten Satz ließe sich wohl mehr an Nachdruck und Spannung holen. Die Klangbalance der Orchestergruppen wirkt manchmal schief. Drücken im Kopfsatz die nebeneinander sitzenden ersten und zweiten Geigen nicht den Rest gar sehr an die Wand?
Nach einem toll gespielten mauen Werk also ein mau gespieltes tolles Werk.
Zu Beginn gabs noch Detlev Glanerts Weites Land (2013), das im Untertitel die große Schwester beim Namen nennt: Musik mit Brahms für Orchester. Von der fallenden Brahms-Terz der 4. Sinfonie aus entfaltet sich eine Weite, in der es nicht unbedingt flächig zugeht, sondern viel Orchesterstaub aufgewirbelt wird. Man blickt nicht weit. Es ist viel Norddeutschland darin, liest man Glanert staunend, der Brahmsische Geruch von Marschland und großen Himmeln. Nun ja. Das brahmsisch besetzte Orchester steht in dem Elfminüter doch in einem unbefriedigenden Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Wenn Bruch der auf dem Rüssel stehende Elefant ist, dann Weites Land vielleicht die auf dem Kopf stehende Heidschnucke.
Nächstes Jahr gibts nach dieser Musik mit Brahms eine Oper mit Fontane, nämlich Oceane an der Deutschen Oper, da hat man die Chance, sich genauer in Glanert einzuhören.
Das Konzert nochmal am Freitag und Samstag.
Hintergrund-Informationen zur prononciation anglaise der Labèque-Schwestern sowie zu den amourösen Verhältnissen der ausführenden Musiker auf der Facebook-Seite von Hundert11.