Schaut man sich die Liste der Klavierrezitals im Kammermusiksaal an, könnte man meinen, es gäbe weltweit nur circa zehn hörenswerte Pianisten. Umso begrüßenswerter sind Einrichtungen wie der Weddinger Pianosalon Christophori oder Barnaby Weilers (in diesem Jahr leider ausgefallenes) Berliner Klavierfestival. Ein weiterer Versuch, blühende oder gar wuchernde Oasen im Berliner pianistischen Ödland zu schaffen, sind seit einiger Zeit die C. Bechstein Klavierabende im Kleinen Saal des Konzerthauses. Im ersten Konzert der neuen Saison gärtnert der renommierte, hierzulande aber bizarr unbekannte Pariser Pianist Michel Dalberto à la française: neben Pianolympischem von Debussy und Ravel gibts rare Pflanzen von Fauré und Franck.
Denn wer kennt hierzustadt schon César Francks Prélude, Choral et Fugue von 1884? Das ist Musik, die in selbstverständlicher Noblesse strömt, vielleicht nicht frei von einer gelegentlichen Prise Schunkeligkeit. Ihr Herzstück ist der Choral in der Mitte, unterbaut von expressiven Arpeggien, aber ohne alle Kraftmeierei. Hier eine Aufnahme von Alfred Cortot:
Eine noch erstaunlichere Entdeckung scheinen die Stücke von Gabriel Fauré, ein Impromptu und zwei Nocturnes in schön schubertigen B-Tonarten. Klare Linien haben die und stecken doch voller überraschender Momente und Wendungen, die sie vor jeder Gefälligkeit bewahren. Besonders aufregend ist das späte 13. Nocturne b-Moll (1922), tonal sperrig, von Dissonanzen wie wertvollen Blüten durchsprenkelt, sehr verdichtet, teils dissoziativ. Am Schluss pendelt lang eine kleine Terz, man weiß nicht recht, ob lakonisch oder fatal.
Dalberto spielt dieses Werk hell, strukturiert, deutlich – insgesamt eher ins Lakonische tendierend. Hier eine nebelndere, aufwallendere Interpretation von Horowitz, Tendenz stärker ins Fatale:
Davor gabs das 6. Nocturne Des-Dur von 1894, hier eine Aufnahme mit Dalberto:
Obwohl das 7. Nocturne nicht auf dem Programm stand, darf es hier nicht fehlen, denn von diesem Stück gibt es eine eigenhändige Einspielung von Gabriel Fauré (via Welte-Mignon), sehr klar und beschwingt – eine Spielkultur, die man bei Dalberto wiederfindet:
Michel Dalberto ist der Typ Pianist, der reinstürmt und losspielen möchte, aber vom einfühllosen Begrüßungsapplaus daran gehindert wird. Er strahlt weite Weltläufigkeit aus, in der doch ein verstecktes Vor-der-Welt-Davonlaufen-Wollen steckt, trägt Fliege und tupft sich zwischen den Stücken mit einem schwarzen Einstecktuch Schweißperlen von der Stirn; und zwar bei gehaltenem Pedal, das so etwa Mondstrahlen und Wasserspiegelungen zauberlichtlich verbindet (und zugleich das Publikum am Reinklatschen hindert). Insgesamt fünf Stücke von Claude Debussy spielt Dalberto mit wunderbar weichem Anschlag, den der samtige Ton des Bechsteinflügels verstärkt. Das hörfühlt sich alles eminent authentisch an.
Das dämonische Potenzial des Bechstein, zumal im Bass, legt schließlich Maurice Ravels Gaspard de la Nuit frei. Eine Interpretation wie aus dem Traumgartenbuch. Sie zeigt dann auch Dalbertos hohe technische Virtuosität, die in den Stücken zuvor weniger wichtig war. Doch auch hier drängt sie sich nicht in den Vordergrund gegenüber Spannung, Grusel, Gewalt. Das abrupte Aufgischten in der Ondine verbreitet gehörigen Schrecken. Das sich permanent wiederholende b in Le Gibet (Der Galgen) ist von einer schneidenden Unerbittlichkeit, kein Glockenklang, sondern toxische Glockenblumen, Giftstängel vor und über allem anderen musikalischen Geschehen. Die zwergicht kompakten Tonrepetitionen in Scarbo wirken danach wie das in andere Albtraumgärten geschossene b der zuvorigen Galgenparzelle.
Als Zugabe das Menuett aus Ravels Sonatine.
Eigentlich müsste bei einem solchen Programm mit einem solchen Pianisten das klavierinteressierte Publikum Schlange stehen. Deutschland braucht nicht nur eine Alphabetisierungskampagne, sondern auch eine Klaviatisierungskampagne.
Das nächste Konzert der Bechstein-Reihe gibt ein junger, in Berlin präsenterer Pianist, nämlich William Youn. Mit einem Programm, in dem Musik von Clara Schumann eine besonders rare Blume ist. Am 19. Oktober.
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Schöne Besprechung. Fauré und 1922 erscheint einem fast ein Widerspruch in sich.
Ja, erstaunlich. Fauré starb 1924, theoretisch hätte er sich noch Hindemiths Sancta Susanna und die Rhapsody in Blue anhören können, im Kino „Nosferatu“ anschauen und den „Ulysses“ lesen.