Das schlimmste Publikum aller Zeiten ist gefunden: Es versammelte sich am Montagabend in der Berliner Philharmonie zum Gastspiel der Moskauer Philharmoniker.
So wie man in Tschaikowskys Pathétique weiß, dass das dicke Ende kommen wird, gings einem an diesem Abend mit dem Publikum: Hatte es sich bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert mit dem jungen amerikanischen Überfliegepianisten George Li (einem Musiker, der seine überragenden technischen Fähigkeiten ohne jedes Getue in den Dienst der musikalischen Sache stellt, glasklar und helldeutlich) noch ganz gesittet betragen, setzte es in der Pathétique zielgerichtete Hustenattacken auf die delikatesten Stellen, etwa das sechsfache Piano im Kopfsatz vor dem großen Donnerschlag; im Ergebnis eine Art Knüppelstereophonie-Erlebnis der Extrastörklasse. Piepsen, Fiepsen, Kichern überdies. Dem Orchester unter seinem langjährigen Chefdirigenten Yuri Simonov konnte man indes weder beeindruckende Wucht noch einen doch ziemlich krachledernen Sound absprechen – hier fehlte ein Quäntchen Spannung, dort die gewisse Biegsamkeit, und manchmal schiens gar polternd sowjetmilitärisch. Als Simonov nun (sei es aus vielleicht fragwürdiger ästhetischer Erwägung, sei es, um weitere Röchelknüppeleien zu unterbinden) attacca vom wahnsinnigen dritten Satz ins Finale hinüber wollte, übertönte johlendes Jubeln des begeisterten Publikums den Beginn des Adagio lamentoso; woraufhin der 78jährige Simonov entsetzt die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug …
… und weiterdirigierte. Die geschockten Musiker aber übertrafen sich selbst, die Hörner schnarrten im rechten Moment wie zum Ende der Welt etc pp. Und Simonov präsentierte dem Publikum anschließend (nach dem Motto, jetzt ist auch egal) noch einen bunten Strauß von Zugaben, darunter Rachmaninows Vocalise. Was vielleicht, nach der Pathétique, eine noch größere Hörstörung ist als alles Reinhusten und Draufklatschen. Das Publikum aber jubelte, johlte.
Konzertbesprechung im Tagesspiegel
Auch wenn ich meist nicht kommentiere, da ich weitab vom Berliner Geschehen bin – ich bewundere die Rezensionen von A.S., und auch die Kommentare – die Haltung, die sich darin ausspricht …
Sehr geehrter Herr Selge, ich weiß keinen anderen Weg, als hier meine Bitte auszusprechen:gibt es eine Möglichkeit,Ihnen eine Nachricht „privater“ zukommen zu lassen? Es geht (wenn Sie sich noch erinnern) um Ihre Rezension „Herbstorganisch“ …
Liebe Frau Mildschuh, Sie können mir gern eine E-Mail schreiben an konzertgaengerberlin@gmail.com
Mal abgesehen von der Grundkontroverse um den Applaus zwischen den Sätzen (manche Musiker selbst fänden Zwischenapplaus schön, für mich gehören die Pausen zur Musik, Kompromiss unmöglich) frag ich mich gerade bei dieser Stelle: wie entsteht der Impuls des Klatschbedürfnisses eigentlich bei der Pathetique?
Entweder man kennt das Stück nicht und fühlt es nach drei Sätzen am Ende (unwahrscheinlich), ist möglicherweise erleichtert ein etwas ungewollte Weihnachtsgeschenk abgesessen zu haben?
Oder man kennt das Stück und die Debatte – dann aber achtet man doch auf den Dirigenten. Greift der zum Schweisstuch, richtet er sich die Rockschösse, bestellt er sich einen Kaffee? Oder erstarrt er, Hände erhoben, um sich nach einem kurzen Verweilen in den Satz zu stürzen bzw. zu schleichen?
Derart vorbereitete Hörer aber sollten doch den entsprechenden Blick, die entsprechende Erwartung haben und daher vor Fehl-, Vor- oder Falschklatschen bewahrt sein?
Was passiert da eigentlich?
Nebenbei:
Wären Sie am Samstag zu Petrenko gegangen, hätten Sie auch eine anständige „Hörstörung“ dazu verfassen können. Irgendwas in H/K rechts fiepte im vierten Satz immer wieder in den Saal hinein, ging so in Richtung Tinnitus. Auch mahnende Blicke ua. des Herrn Welzel nützten nichts. Sehr, sehr nervig.
Im Foyer erfuhr man : einige habens gehört, andere nicht. Orgel, Lichttechnik oder Hörgeräte wurden verdächtigt – ich befürchte schon, es war irgendwelche Hardware des Hauses. NIEMAND würde einen Nachbarn lebendig lassen, der so hartnäckig in die Musik funkt.
Nebenzwei,:
Das Publikum am Sonntagabend beim DSO war vor allem nach der Pause fantastisch. Nach Restzeit ca. 4:55 – ein schönes Beispiel für kunstvolles Publikumsschweigen.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/robin-ticciati-rias-kammerchor-und-dso-berlin-steinige-neue.1091.de.html?dram:article_id=468581
Hörgeräte gibt es ja öfter. Gerhaher hat deshalb mal einen Liederabend unterbrochen und gefragt, bei wem das Hörgerät fiepe – sehr freundlich und respektvoll übrigens (er schickte voraus, dass er ja wisse, dass der Träger das wahrscheinlich selbst gar nicht hören könne).
Schweigen am Schluss ist eigentlich das Schönste. Manchmal würde ich gern direkt von der Musik hinaus in die Stille. Gewisse Zugaben, manche Garderobengespräche und jedes Themen-Nachsingen auf der Toilette finde ich noch viel störender als Applaus.
Ach, kommen Sie, Applaus ist doch immer schön, auch und gerade in der Pathétique. Er zeigt, dass das Publikum aufnahme- und begeisterungswillig ist.
Prinzipiell stimme ich Ihnen zu, ich hab gar nichts gegen Klatschen zwischen den Sätzen – das hat sowas Bildungsspießerliches, sich darüber zu echauffieren. Aber im Fall dritter Satz der Pathétique … ein Wiener Kritiker schrieb mir: „Leute, die da in Jubel ausbrechen, klopfen auch Menschen mit bipolarer Störung in deren manisch-euphorischer Phase herzhaft auf die Schultern und erklären ihnen, wie toll es anzuschauen sei, dass es ihnen endlich wieder mal so richtig super ginge …“
au weia…….
Das erinnert mich stark an eine der Geschichten über die Kaffeepausen eines Orchesters, bei der ein Störhuster, sich immer die pianissimo Stellen im Konzert aussuchte, um mit einer Hustentirade zu beginnen. Der Huster wurde ermordet – vom Flötisten! (Enrique Garcia Revilla)
Schade, ich fürchte, dafür reicht mein Spanisch nicht.
https://www.codalario.com/enrique-garcia-revilla/noticias/los-cafes-de-la-orquesta-de-enrique-garcia-revilla_5035_3_14860_0_1_in.html
https://www.elargonauta.com/libros/los-cafes-de-la-orquesta/978-84-9718-675-9/