Einfach disparat: Das Mahler Chamber Orchestra spielt Carl Nielsen und Alban Berg

Sehr disparat, sagt ein bleicher Hutträger mit der gequetschten Stimme des Kulturschaffenden, nachdem Carl Nielsens 6. Symphonie Sinfonia semplice mit einem prononcierten Schlussbrummen des Fagotts zu Ende gegangen ist. So gut hätte der Konzertgänger es nicht ausdrücken können, um so mehr hat er sich über das bunte Vielerlei gefreut: zarte Glöckchenklänge, hymnische Passagen, Klarinettentänzchen, Posaunenglissandi, Anton-Webern-Pling-Pling, todesahnungsvolles Streicherlamento, Drehorgelklänge. Der 2. Satz Humoreske klingt anfangs fast wie ein grundschulisches Orff-Instrumentarium, das dann allerdings mächtig gewaltig in Schwung kommt.

Simpel ist die Sinfonia semplice bestimmt nicht, sondern ein lustvoll unverkopftes Flickwerk, in dem völlig gegensätzliche Passagen verkuppelt werden. Geradezu kurios, dass dies ein letztes Werk ist, wenn man an die letzten Werke anderer bedeutender Symphoniker denkt; es klingt wie ein Anfang, im positiven Sinn. Mitunter wirkt es, als würde Nielsen im lustigen Wechsel andere Komponisten imitieren, nicht nur Mahlerschunkeln, Webernpiepsen, Sibeliusschwelgen, sondern sogar Komponisten der Zukunft, bis hin zu Lutosławski (Apogäum im 1. Satz, geblasen, nicht gestrichen; Tonrepetitionen im Finale).

Die, wie man als Hutträger sagen würde, kammermusikalische Faktur der Sinfonia semplice wird betont durch die Bearbeitung des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen, der eine reduzierte Fassung für 18 Musiker erstellt hat. Es klingt, als müsste es so sein: Jedes Instrument tritt individuell hervor, Triangel und Glockenspiel gleichberechtigt mit der ersten Geige, jeder liefert seinen Beitrag zum Klangwunder. (Was in der „Voll“-Version, wo  naturgemäß der Streicherklang stärker dominiert, nicht ganz so ist, wie man z.B. in den ein- und ausdrucksvollen Aufnahmen Herbert Blomstedts mit dem San Francisco Symphony Orchestra hören kann.) Die Abrahamsenversion macht außerdem die Qualität jedes einzelnen Musikers des Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Thomas Søndergård eindrucksvoll hörbar. Featured imageEs passt zu diesem schrulligen Komponisten, den Carl-Nielsen-Schwerpunkt des diesjährigen Musikfests so originell zu eröffnen; wobei es schön wäre, die Sechste dann auch einmal in Originalbesetzung im Konzertsaal zu hören. In den nächsten Tagen folgen noch die Symphonien 3 bis 5, die eher dem Begriff des neurotischen Enthusiasmus entsprechen, mit dem Leonard Bernstein Nielsens Musik beschrieben hat, sowie erfreulicherweise die 4 frühen Streichquartette. Außerdem gibt es im Foyer der Philharmonie bis zum 9. Oktober eine Ausstellung über Carl Nielsen. Mehr als die ersten beiden Symphonien fehlt im Programm jedoch das Liedschaffen, das Nielsen, wie man liest, in Dänemark so populär macht; wenn nicht als Liederabend, warum nicht an einem gemeinsamen Singabend? Auch wenn es nicht so gut klänge wie hier:

[Nachtrag: Die Nordischen Botschaften veranstalten bis zum Dezember ein NACHSPIEL mit Liedern und Kammermusik von Nielsen; und das bei freiem Eintritt.]

Die Symphonie in Spezialensemble-Version passt allerdings bestens zu Alban Bergs Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern, die wie die Sinfonia semplice 1925 entstand. Dass es hier strenger zugeht als bei Nielsen, sieht man schon an der Aufstellung, die Bläser sitzen in Reih und Glied wie Erstklässler in Nordkorea, als kollektiver Klangkörper, fast konfrontativ zu Alexander Melnikov am Klavier und Isabelle Faust an der Geige.

Aber die Bläser, allen voran das Horn (Sebastian Posch), müssen ihre Individualität keineswegs an der Garderobe abgeben, und das Stück macht durchaus Spaß (sic), auch wenn die Spaßbremse Theodor W. Adorno erklärt hat, das Lesen der Partitur des Kammerkonzerts mache ihm mehr Freude als das Hören. (Es gibt ja auch Leute, die lieber im Kochbuch lesen als zu essen.) Zwar lassen sich die zu Beginn erklingenden Motive von SCHönBErG, WEBErn und BErG im weiteren Verlauf vom Konzertgängergehör nicht immer erfassen, aber die Musik ist so schilllernd, dass das nichts macht. Das Zusammentreffen von Klavier und Geige ist ein atemberaubender Höhepunkt; der allerdings recht früh kommt, zu kurz ist das Kammerkonzert nicht. Aber es hat einen der tollsten Schlüsse der Musikgeschichte: ein endlos verklingender Monster-Akkord des Klaviers, über dem die Motive des Satzes mit immer längeren Pausen verwehen, bis zum letzten Pizzicato.

Interessant, dass der Naturtöner Nielsen hier irritierender wirkte als der Zwölftöner Berg: Auch wenn Berg mit dem Kammerkonzert nach Wozzeck neue Wege einschlug, meint man den Sound zu kennen (ohne die Struktur zu begreifen); Nielsens Sound fasziniert und verwirrt; zumindest wenn man kein Däne ist.

Als Zugabe spielten Faust und Melnikov eins der Vier Stücke für Geige und Klavier von Anton Webern, ein Bonus an der Grenze zur Unhörbarkeit. So sollte es sein, in einer idealen Welt werden Webern-Zugaben gespielt!

Mit Weberns letztem Ping im Ohr und beseelt vom unendlichen Klangreichtum Bergs und Nielsens radelt der Konzertgänger durch den Tiergarten heimwärts. Das Quietschen seines Fahrrades klingt, als zirpten noch die Grillen; aber die kalte Luft zeigt, dass Herbst ist.

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