Segen oder Fluch für Georg Friedrich Haas‘ in vain, dass es regelmäßig zum Klassiker der neuesten Musik hochgejatzt wird? Im Epilog seines Buchs The Rest Is Noise über die Musik des 20. Jahrhunderts schreibt Alex Ross, das im Jahr 2000 entstandene in vain könnte der österreichisch-deutschen Musik einen neuen Weg weisen, und der vehemente Fürsprecher Simon Rattle nennt das Stück gar ein musikgeschichtliches new beginning. Gute Sache jedenfalls, dass dieser Ruf bei der zweimaligen Aufführung im Radialsystem für volles Haus sorgt. Es spielt das Ensemble KNM, dessen Existenz durch die Berliner Politik und Verwaltung derzeit offenbar massiv gefährdet ist – mehr dazu weiter unten.
Denn zuerst gilts hier der Kunst! Eine gute Stunde lang, und wie. 24 Instrumente, ein Drittel davon Streicher, anderthalb Drittel Bläser, dazu Schlagzeuge, Klavier, Akkordeon, Harfe – eine mittelgroße Besetzung, die einerseits zu orchestralem Rausch in der Lage ist, andererseits horribile dictu „durchhörbar“. Erleuchtung statt Erschlagnis. Der Kontrast von Licht und Dunkel ereignet sich nicht nur klanglich, sondern auch wörtlich: Kommt einem die erste zwischenzeitliche Verdunklung des Saals noch wie ein billiger Trick vor, kann man sich der Wirkung der erneuten Einschwärzung gegen Schluss nicht entziehen. Immer wieder blenden kurz Lichter auf und verschwinden wieder, fast schmerzhaft für die Augen. Für die Musiker muss diese Belastung des Sehens übrigens eine größere Herausforderung sein als das minutenlange Auswendigspielen im Dunkeln.
Und auch im Hörer ereignet sich dieser Kontrast von Licht und Dunkel. In klangliche Urgründe scheint es ihn oft zu ziehen: Rattle sprach einmal (neben einigen weniger ergiebigen Sprachbildern) davon, dass eine bestimmte Passsage von in vain so klinge, wie es in Wagners Unterbewusstsein geklungen haben müsse, bevor er das Vorspiel zum Rheingold schrieb.
Dann aber katapulsiert in vain den Hörer in ätherische Hochgründe. Und immer wieder abwärtssirrende Figuren, lange liegende Abschnitte, Mikrotönik, Oberton-Reflexionen: Der klangliche Reichtum ist ungeheuer, obwohl oder gerade weil er aus Verzicht auf „melodische Linien, wohltemperierte Tonhöhenraster und Akzentstufentakt“ (Bernhard Günther) entsteht. Die Verwandtschaft zu Griseys Spektralmusik ist greifbar, aber der Ton doch völlig eigen. Es ist – und das spricht dann vielleicht wirklich für einen Klassiker – nicht leicht, zur Orientierung bei großen Namen anzudocken. Ein Versuch: Vielleicht hätte Bruckner so komponiert, nachdem er ganz viel Ligeti gehört hat? Denn das ist vielleicht der höchste Reiz von Haas‘ in vain: die unerschöpfliche Spiralenwirkung auf den Hörer. Dass diese Musik ihn ermüdungslos weiter und weiter und weiter trägt.
Die Aufführung durch das kompetente Ensemble KNM unter dem Dirigenten Stephan Winkler wirkt mustergültig. Das ist Musik, die der Live-Erfahrung bedarf, der Aufführung im Raum und unter Menschen (auch wenn man in vain auch auf Youtube findet). Im Radialsystem sind hochkonzentrierte, der Sache hingegebene Musiker zu erleben, denen der Protest-Modus spürbar wesensfremd ist. Dennoch wendet sich der Manager des Ensembles vor dem Konzert mit der Bitte um Unterstützung ans Publikum: Durch die Kündigung seiner Probenräume im landeseigenen Podewil sieht das KNM sich in seiner Existenz bedroht.
Auf der Homepage des Ensemble KNM heißt es:
Die Existenz des Ensemble KNM Berlin, das seit mehr als dreißig Jahren die Neue Musik Landschaft international prägt, wird durch die lokale Kulturpolitik für ein paar Büroarbeitsplätze aufs Spiel gesetzt.
(Weitere Informationen unter www.kammerensemble.de)
Seit mehr als 20 Jahren arbeitet und probt das KNM Berlin im Podewil. Diese Residenz ist ein wesentlicher Garant für den Erfolg und die Stabilität eines freien Ensembles, das sich ohne institutionelle Förderung in einem höchst liberalen Umfeld behaupten muss und möchte.
Der Vermieter, die landeseigene Kulturprojekte Berlin GmbH, beabsichtigt nun den Vertrag nicht zu verlängern und meldet quasi Eigenbedarf zum 01.01.2020 an.
Die Verhandlungen mit der Geschäftsführung der Kulturprojekte sind gescheitert. Seitens der Senatsverwaltung für Kultur und Europa ist keine Hilfestellung zu erkennen. Ein Konzept des Ensembles zur verstärkten inhaltlichen Kooperation zwischen der Kulturprojekte und dem KNM wurde nicht einmal diskutiert.
So wird einem Berliner Protagonisten im Bereich zeitgenössische Musik der Boden unter den Füßen weggezogen.
Die Musiker haben auch eine Online-Petition mit der Bitte um Unterstützung gestartet. Es ist zu hoffen, dass der Kultursenator Klaus Lederer, erklärermaßen ja ein großer Freund der freien Szene, das Ensemble KNM nicht im Dunkel stehen lässt.
Nachtrag: Der Besuch auch der zweiten Aufführung von „in vain“ am Mittwoch erweist sich als überaus lohnend. Betörende Schönheit, aufregende Ruhe. Viel stärker noch als beim ersten Mal stellt sich der Eindruck wechselnder Klanglandschaften ein, musikalischer Klima- oder Zeitzonen, die der Hörer durchquert. Ein Stück, das man immer wieder hören möchte.