Ist doch auch ganz schön, dass heutzutage ein Chefdirigent das Berliner Philharmonische Orchester im aufrechten Gang verlassen kann, umjubelt und mit Blumensträußen im Arm, statt wie im letzten Jahrhundert mit den Füßen voran, beweint und mit letzten floralen Grüßen auf den Sarg. Da kann man dann auch ein bissl kritisch (Kulturradio) oder sogar äußerst kritisch bis krawallig (VAN Magazin) bilanzieren, ohne sich der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener schuldig zu machen. Aber mit ebensolchem Recht darf man auch mal hemmungslos lobpreishudeln wie der Tagesspiegel-Autor Frederik Hanssen im Programmheft oder die rasende rbb-Kulturreporterin Maria Ossowski. Zumal wenn Simon Rattle am 20. Juni 2018 mit derselben 6. Sinfonie von Gustav Mahler quittiert, mit der er am 14. November 1987 debütierte. Die Älteren werden sich erinnern; der Konzertgänger ist jung genug, um damals eher Voyage, voyage von Desireless gehört zu haben.
Damals war nasser, niesliger November, es gab quasi in Spuckweite der Philharmonie die Mauer und darüber den Himmel über Berlin und in der Ferne den Bericht aus Bonn (mehr solche Sachen in meiner literarischen Chronik der Rattle-Ära im aktuellen Philharmoniker Magazin). Jetzt ist Jahrhundertsommer und Deutschland immer noch Weltmeister und auch sonst gehts uns ja gold wie nie zuvor, auch wenn die Stimmung gerade mies ist, so von der Fußballtendenz und vom Regierungsklimatischen her. Identitätsphilosophische Fragen: Ist Berlin noch dieselbe Stadt wie vor dreißigeinhalb Jahren? Ist Simon Rattle noch derselbe Mensch? Und Mahlers Sechste noch dieselbe Sinfonie?
Zumindest in der Mitte nicht. Denn damals spielte man meist das Scherzo als zweiten und das Andante als dritten Satz. Wissen die Älteren noch, wie Rattle das 1987 machte? Heute dreht mans (wie Mahler ganz kurz vor der Premiere 1906 entschied) lieber um, erst Andante, dann Scherzo. So auch Rattle 2018. Und auch wenn es der kompositorischen Grundkonzeption zuwiderlaufen sollte, hat es wirkungstechnisch viel für sich: Wenn es nach der äußerst unruhigen Ruhe des langsamen Satzes im Scherzo von neuem losmarschiert wie im Kopfsatz, knallt das umso krasser. Und ums Knallen ist es Rattle zu tun. Getreu Alban Bergs Es gibt doch nur eine VI. trotz der Pastorale (1908 an Webern) fasst Rattle Mahler so unpastoral es nur geht an – hart, ja erbarmungslos. Da klingt das Ende des ersten Satzes fast eher nach Varèse als nach überkandidelt-verzweifelter Spätromantik. Im Scherzo könnte man stellenweise an Sacre du Printemps denken; alles andere als geheuer, wer da zum Tanz aufspielt. Jonathan Kellys Oboe hat im Andante noch die schönsten Töne beigesteuert, doch im Scherzo gleicht das Staccato von Oboe und Fagott dem unerbittliche Ticken einer Uhr über dem Tanzboden; bald darauf gehts mit Basstuba-Brodeln ins schwarze Loch, die acht Hörner erheben sich erstmals auf die Höhe von 120 Grad. Großer visueller Effekt, auch. Die Klanglandschaft aber, die Rattle zu Beginn des direkt anschließenden Finales sich ausbreiten lässt, ist von so desolater Pracht, dass einem ganz anders wird.
Dass es wieder mal sehr laut ist, ist per se kein Einwand. Die enorme Lautstärke passiert ja nicht irgendwie, sondern ist Absicht; kann man mögen oder nicht. Allerdings ist dieser hohe Grundpegel (gerade bei Rattles stets brillantem, demonstrativem Formbewusstsein) doch auch ein ökonomisches Problem. Etwa wenn der knallende Hammer im Finale einfach nicht mehr so herausknallt wie er vielleicht sollte. Weil von Anfang an mit dem Hammer musiziert wurde; nicht nur, aber auch. Klarheit und Härte sind das Plus der Aufführung. Das Schwelgerische, Sinistre, Doppelbödige mag manch einer vermissen.
Aber woran könnte dieser Ansatz sich besser bewähren als an Mahlers Sechster? Es ist eine auf erstklassige Weise eindeutige Interpretation und darum eine große.
Und der Sechsten ist ja ohnehin trotz schröcklicher Unerbittlichkeit die Gunst des Publikums sicher, dank Hammer und Kuhglocken. Eine junge blonde Frau auf dem Podium, die hinreißend vor sich hingegähnt und ihr Haar liebkost hat, gerät beim Niedersausen des Hammers in ebenso freudige Ekstase wie eine nicht minder hinreißende Greisin in Block A. Der Schrecken gebiert Kichern, in allen Preisklassen und Lebensaltern.
Am eindrücklichsten aber klingt am Ende das verzweifelte Ringen um Schönheit nach, mit dem Konzertmeister Daniel Stabrawa in seinen herzzerreißenden Soli sich dem Abgrund entgegenstellt. Soli von einer liebevollen Intensität, die auch dem scheidenden Rattle gelten dürfte. Es sind ja auch einige Ex-Philharmoniker im Publikum zu sehen, etwa Guy Braunstein. Und nicht nur da. Denn das ist doch wohl Brett Dean, der da so begeistert am dritten Bratschenpult spielt?
Der frenetische Jubel des Berliner Publikums ist ja nun schon ein Gebot der Höflichkeit, aber er kommt doch spürbar aus brodelndem, tosendem Herzensgrunde. Kein Husten zuvor, fast 90 Minuten lang, und kein Handybimmeln. Simon Rattle spricht dann noch famous last words: Mein wundervolles Orchester und mein wundervolles Publikum, Sie sind tief in meinem Herzen gebunden. Danke für alles. Dasselbe soll er schon am ersten letzten Abend gesagt haben; aber an diesem zweiten, allerletzten Abend bricht ihm die Stimme weg beim danke.
Das also wars in der Philharmonie. Als Chefdirigent. Einen Nachschlag gibts noch am Wochenende in der Waldbühne. Aber Simon Rattle kommt ja wieder, im März 2019 als Gastdirigent. Der ehemalige Chef hat noch eine Lebensperspektive. Ist doch auch ganz schön.
Weitere Kritiken: Schlatz arbeitet akribisch die spezifischen Rattle-Stärken heraus. Krieger hat interessanterweise eine lichte, hoffnungsvolle Sechste gehört. Außerdem Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Kulturradio