20.1.2016 – Ohne Unterlass: DSO mit Kristjan Järvi und James Carter eröffnet Ultraschall-Festival

In Berlin ist immer Festival. Nach inoffiziellen Festtagen alter Musik mit dem Freiburger BarockConsort, der Akademie für Alte Musik und MusicAeterna wurde am Mittwoch ULTRASCHALL BERLIN eröffnet, das gemeinsame Festival für neue Musik von Kulturradio und Deutschlandradio Kultur. Im Haus des Rundfunks spielte das Deutsche Symphonie-Orchester unter der Leitung von Kristjan Järvi, jüngstem Spross der musikalischen Järvi-Sippe, gebürtigem Esten und naturalisiertem Amerikaner, ausschließlich amerikanische Musik von 1990 bis 2013.

Es ist sympathisch, dass neue Musik heute mit kleinem n geschrieben wird und ein Gegenwartsfestival nicht mehr mit Klängen eröffnen muss, die jedem zufällig hereingepurzelten Hörer einen Schreck bis ans Ende seiner Tage einjagen. Aber ganz so harmlos, wie dieses Konzert beginnt, muss es vielleicht auch nicht sein. Aaron Jay Kernis bezieht sich in Musica Celestis (1990) auf Hildegard von Bingen und imaginiert ohne Unterlass singende Engel im Himmel. Wenn man in Michael Heinemanns einschüchternd gelehrtem Reclambändchen Kleine Geschichte der Musik von der heftigen Irritation liest, die Hildegards eher aus Unkenntnis denn aus Mutwillen nonkonforme Kompositionen bei ihren Zeitgenossen ausgelöst haben müssen, ist Kernis‘ makelloser Wohlklang schon erstaunlich. Das Stück beginnt und endet wie Lohengrin, ist dazwischen bewegter, in seinen Aufwärtsbewegungen etwas plakativ; in der zweiten Hälfte gibt es eine interessante Passage: eine Steigerung ins Schrille, dann eine Generalpause und schließlich gläserne Zaubertonsphäre. Trotzdem: Wenn das Himmelsmusik ist, dann doch lieber zu Pierre Boulez in die Hölle.

Was bei Kernis Hildegard, ist bei Philip Lasser Bach und das Problem ähnlich. Der Komponist erläutert, sein klassisch dreisätziges Klavierkonzert The Circle and the Child (2013) basiere auf dem Choral Ihr Gestirn‘, ihr hohen Lüfte BWV 476, und erläutert vollmundig: Wie ein erlesener Duft strömt sein Choral aus jeder Passage meines Konzerts (Zitat aus dem Programmheft). Die aus dem Choral herausgefilterte aufsteigende fünftönige Skala entpuppt sich dann jedoch als die untere Hälfte der C-Dur-Tonleiter, die sich auch aus Alle meine Entchen herausfiltern lässt, und wiederholt sich tatsächlich ohne Unterlass. Es ist zwar witzig, wenn der 2. Satz dann mit einer 5fachen Tonrepetition beginnt, aber die Musik fließt und klingelt einlullend, selbst die eingestreuten Bitonalitäten im Finale. Die Pianistin Simone Dinnerstein klimpert tiefenentspannt mit. – Freundlicher Applaus sowie zwei halbe Buhrufe, die keinen ganzen ergeben.

Zum Glück wird es nach der Pause besser. 40 Changing Orbits /(2012) des Opernkomponisten und Rappers Gene Pritsker, der schon mit dem großen Joe Zawinul musizierte, ist durchaus fernsehshowtauglich und mitwippbar, aber mehr als Bigbandsound, die Orchesterfarben schillern in allen Nuancen; wenngleich die Musiker des DSO auch hier noch etwas unterfordert wirken. Erfahrungswert, schon beim Konzerthausorchester bemerkt: Wenn eine Aufführung die Musiker nervt, sieht man es am deutlichsten in den Gesichtern der Bratscher.

Der Dirigent Kristjan Järvi nervt allerdings nicht, er leitet umsichtig und tanzt sympathisch ungelenk mit. Noch weniger nervt der großartige Saxophonist James Carter (hier bei den Leverkusener Jazztagen 2004), der den Abend rettet: in Roberto Sierras Concerto for Saxophones and Orchestra (2002). Es gibt definitiv zu wenige Saxophonkonzerte in der klassischen Musik; erst recht von jazzkundigen Ligeti-Schülern, wie Sierra einer ist. Es ist kein Jazz mit Symphonieorchester, sondern ein klassisches Solokonzert (wenngleich jazziger als die jazzigen Stücke von Milhaud, Ravel oder Strawinsky), das Orchester antwortet, spielt, streitet mit dem Solisten. Vor allem aber trägt es ihn auf Flügeln, mit gutem Grund. Schon bei der ersten Solokadenz (mit Tenorsaxophon) gibt es berechtigten Zwischenapplaus für den ohne Unterlass virtuosen Carter. Im zweiten Satz greift Carter zum Sopransaxophon, Donau und Mississippi (oder Hudson) treffen aufeinander, und das Instrument klappert, pustet, keucht und pocht wie bei Lachenmann, nur viel lustiger. Das ist Musica celestis: ein sensationell gutes Konzert mit einem grandiosen Musiker.

Am Donnerstag steht bei Ultraschall kein Mangel an kompositorischem Ernst zu befürchten: In den Rundfunkstudios der DDR in der Nalepastraße, tief im Osten Berlins, gibt es eine Hommage an den 90jährigen Friedrich Cerha, den österreichischen Doyen der Nachkriegs-Avantgarde und Lulu-Vollender. Am Freitag geht es nach Kreuzberg und Neukölln, am Wochenende nach Friedrichshain, bevor das Festival Sonntagabend zum Abschluss in den Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks zurückkehrt.

Hier geht’s zu den Festivalberichten junger Reporter von 15 bis 24.

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