Das Streichquartett ist untoter denn je. Es gibt eine Menge großartiger Nachwuchs-Ensembles; das Publikum wird nicht kleiner, höchstens feiner; das langjährig eingespielte Mandelring-Quartett zieht Hörer in Scharen mit kompromisslosem Mendelssohn non-stop an (und beginnt nächste Woche seinen neuen Berlin-Zyklus).
Das seit über 30 Jahren erprobte Vogler-Quartett hat ein treues Publikum, das bei seinen regelmäßigen Auftritten im Konzerthaus den Kleinen (aber feinen) Saal zuverlässig füllt. Die Musiker belohnen es, indem sie die Standardwerke des Repertoires immer wieder mit überraschenden, verblüffenden, auch irritierenden Novitäten kombinieren und interessante Gäste einladen: etwa den Kompon-/Klarinettisten Jörg Widmann oder den Paradiesvogler Moritz Eggert.
Wenn diesmal der 1977 geborene Taner Akyol sich mit seiner Bağlama zum klassischen Streichquartett dazugesellt, gehen in Hatirlamalar (Erinnerungen) türkische Melismatik und die A- und Mikrotonalität der Neuen Musik die organischste Verbindung ein; wunderbar, wie am Schluss die Zupf- und Klopfwellen quer durch die Instrumente laufen. Aber das musikalische Potenzial der Bağlama hat sich bereits bis zu Jugend musiziert herumgesprochen.
Die zweite Akyol-Komposition an diesem Abend ist für Streichquartett pur geschrieben. So leid es einem tut, nicht noch mehr Bağlama zu hören, beweist die Uraufführung von Berkin eindrücklich, dass Akyol viel mehr ist als „nur“ ein Virtuose auf seinem Instrument. Das liegt nicht nur am erschütternden Hintergrund des Stückes, das Akyol dem 15jährigen Berkin Elvan gewidmet hat, der am Rand der Gezi-Proteste durch ein Tränengasgeschoss der türkischen Polizei getötet wurde. In Akyols Berkin spricht unverkennbar das Vokabular der Neuen Musik, aber im Dienst höchster Ausdrucksintensität und mit einem vollen Sound, der im besten Sinn folkloristisch wirkt. Vor dem rasend bewegten Schlussabschnitt, in dem Verzweiflung und Hoffnung aufeinander prallen, gibt es eine lange, in immer höhere Regionen steigende elegische Passage, die fast an Samuel Barbers Adagio for Strings erinnert. Will sagen: Akyol komponiert auf eine Weise, die direkt zum Hörer spricht.
Akyol ist in Berlin u.a. mit seinem gleichnamigen Trio und mit der Kinderoper Ali Baba und die 40 Räuber an der Komischen Oper zu erleben. Ganz nebensächlich hingegen die Tatsache, auf die die Frau des Konzertgängers aufmerksam macht: „Neben diesem feschen Türken seht ihr Deutschen aus wie Kartoffeln.“
Eins wäre aber zu verbessern: Die interessante Einführung, die Tim Vogler gibt und in der Akyol eine Dur-Tonleiter anatolischen nichttemperierten Modellen gegenüberstellt, etwa der Hüseyin-Skala, ist zumal von den hinteren Plätzen akustisch kaum zu verstehen.
Die beiden Streichquartett-Klassiker, die Akyols ausdrucksstarke Musik an diesem Abend sehr durchdacht rahmen, gehören zu den intensivsten Vertretern ihrer Gattung: In Beethovens äußerst verknapptem Streichquartett f-Moll op. 95 (1810), dem Quartetto serioso, prallen schon in den ersten 10 Sekunden die gegensätzlichsten Emotionen aufeinander, stürmische Bewegung einerseits, hoffnungslos sich entgegenwerfende Schönheit andererseits. Genau das richtige Stück also für das Vogler-Quartett, bei dem konzentrierte Expressivität immer über geschmeidigem Wohlklang steht. Der fahle Septakkord zwischen Allegretto und Scherzo verschlägt einem den Atem ebenso wie die ausdrucksstarke Einleitung zum Finale. Schade nur, dass während des Trios eine Dame mit klackernden Absätzen den Saal umrundet – ein akustisches Inferno, wie der Konzertgänger es von zuhause kennt, wenn die Tochter in Mamas guten Stiefeln feine Dame spielt; aber dort stört es nur die Nachbarn, nicht Beethoven. Nicht störend, sondern geradezu bizarr ist die Coda dieses Quartetts: Auch wenn man bei Beethoven nun wirklich manches ad aspera ad astra kennt, klingt dieser jubelnde Dur-Schluss wie angeklebt.
Auch in Bedřich Smetanas 1. Streichquartett e.Moll ‚Aus meinem Leben‘ entsteht die Musik aus kleinen, hochexpressiven Gesten, aber was herauskommt, ist keine aphoristische Verdichtung, sondern epische Breite. Es ist eins der erschütterndsten und unterhaltsamsten Quartette zugleich. In der Polka schrummeln die Voglers mit stoischer Präzision, und dem Konzertgänger ist trotz Fastenzeit, als hätte er schon zehn tschechische Biere intus und es gäbe keine Zeit mehr. Doch im Schlusssatz erklingt unabwendbar die Katastrophe, das viergestrichene Tinnitus-E der ersten Geige; und auf heftigem Tremologrund wirbeln die Erinnerungen an Leben, Lust und Liebe der vorderen Sätze verzweifelt dem Untergang entgegen.
Als Zugabe reißt Erwin Schulhoffs grandiose Tarantella das Publikum von den Sitzen. Am 7. Mai sieht man sich wieder im Kleinen, aber feinen Saal des Konzerthauses.
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