Staunenswertes gibts im Berliner Konzertleben zu vermelden: Mit das aufregendste, jedenfalls das verdienstvollste und mutigste Konzert der neuen Saison spielen die Berliner Symphoniker, für den ignoranten Konzertgänger bisher bloß so ein Peter-und-der-Wolf-Orchester. Von wegen. Denn zwei von drei Namen sind fast völlig unbekannt in dem Programm Verfemte Meister, das sich am Sonntagnachmittag in der Philharmonie jüdischen bzw jüdischstämmigen und im „Dritten Reich“ unhörbar gemachten Komponisten widmet.
Das Orchester wurde 2004 vom Berliner Senat finanziell ausgehungert und rackert seitdem mit ihrem unermüdlichen Chefdirigenten Lior Shambadal, um zu überleben: mit populären Programmen und auf endlosen Tourneen, wesentlich unterstützt von einem Förderverein und einem treuen Stammpublikum wie ein feste Burg. Ist es da visionär oder wahnwitzig, in Berlin nun statt der Best-of-Classics Ernst Toch und Erich Jacques Wolff zu spielen? Auf jeden Fall hat es Methode, denn im Programm der Berliner Symphoniker gibt es verblüffenderweise mehr Raritäten zu entdecken als bei der vergleichsweise auf Goldrosen gebetteten Konkurrenz. Der neue Intendant Peter P.(an?) Pachl steckt dahinter.
Im Programm Verfemte Meister gelingt tatsächlich die Kreisatur des Quaders: Komplexe Brocken addieren sich zu einem wohligen Hörerlebnis am Sonntagnachmittag.
Der Name von Ernst Toch (1887-1964) ist in Berlin noch am ehesten durch die empfehlenswerte Kammermusikreihe Spectrum Concerts geläufig (auch solche Überlebenskünstler im Konzertbetrieb). Der vor 1933 sehr erfolgreiche Toch nannte sich selbst später den vergessensten Komponisten der Welt im 20. Jahrhundert. Das hier gespielte Märchen für Orchester Peter Pan von 1956 ist ein klanglich reizvolles Spektakel: der mittlere Satz ein Reigen von sinistrer Ruhe aus instrumentalen Einzelereignissen, die Sätze 1 und 3 dagegen von vertrackter Schärfe. Zumal das Allegro-vivo-Finale hat stellenweise was von einer Mischung aus Schostakowitsch und Saint-Saëns; die Paarung von Fagott und Piccoloflöte klingt wie aus dem Karneval der unentdeckten Tiere.
Im Mittelpunkt des Programms steht das Violinkonzert Es-Dur von Erich Jacques Wolff (1874-1913), eines Wieners wie Toch.
Das kompromisslos unavantgardistische Werk wurde 1909 in der alten Philharmonie in der Bernburger Straße uraufgeführt; es ist also auch ein Stück Berliner Stadtgeschichte, das hier wiederbelebt wird. Und wie, dank des hervorragend präparierten Orchesters und des außerordentlichen Solisten Maximilian Simon! Der erste Satz, der allein länger ist als die beiden folgenden, besteht aus komplexen Abschnitten in komplexen Wechseln, aber kehrt immer wieder zurück in die Grundhaltung eines wohligen, dabei tief melancholischen Singens. Man spürt, dass Wolff ein herausragender Liedkomponist war, weniger ein großer Formarchitekt, und das große Orchesterwerk der Sonderfall in seinem Schaffen. Als eine Art Grundgestalt des Violinkonzerts zeigt sich in der Kadenz eine fast paradoxe Figur, die einerseits geradezu hypnotisch in sich selbst ruht, andererseits ständig in die Höhe strebt. Die von einem Harfenrauschen getragene Rückkehr der singenden Solovioline ins komplex beruhigte Tutti ist ein besonders wohliger Moment.
Betörend der zweite Satz, wenn sich dem solistischen Englischhorn ein Kontrafagott aus tiefster Tiefe beigesellt und die Geige in zartester Höhe einsetzt. Sehnende Figuren im Überfluss hat dieser Satz, dessen Beginn mit Schwermütig, nicht zu langsam überschrieben ist: manchmal wie eine Vision von Fritz Kreisler direkt nach einem Tristan-Besuch. Im dritten Satz kehrt dann, vor einem fröhlichen Schlusshüpfer, das Thema aus dem ersten Satz wieder, quasi gläsern, wie verklärt; ein berückender Moment.
2012 wurde Wolffs Violinkonzert zum ersten Mal nach fast 100 Jahren wieder aufgeführt, es gibt einen Mitschnitt:
Der Solist Maximilian Simon, der im Violinkonzert so berührend singt wie virtuos brilliert, zeigt sein enormes Niveau auch in der Zugabe, Grażyna Bacewiczs Polnischer Caprice, die sehr elegisch beginnt und dann abgeht wie eine Łódźer Katze nach ein paar Gläsern Grasovka. (Lesezugabe: Maximilian Simon im Gespräch über Zugaben.)
Die Berliner Symphoniker muten mit diesem Programm ihrem treuen Stammpublikum schon etwas zu, nicht klanglich, sondern weil es Entdeckerfreude erfordert. Aber das, wie man so leichtfertig schreibt, kleinbürgerliche Publikum hört sich dieses fast dreiviertelstündige unbekannte Werk mit einer ruhigen Offenheit und Konzentration an, die beeindruckt und von der sich mancher Abonnent der fancy Berliner Philharmoniker ein paar Scheiben abschneiden sollte. Hoffentlich wissen die Hörer zu schätzen, was sie hier entdecken dürfen.
In der Pause ist durchaus hier und da etwas Maulen zu hören. Den Wunsch nach vertrauterem Terrain befriedigt dann eine makellose Aufführung von Felix Mendelssohn Bartholdys Reformationssymphonie mit ihrem ergreifenden Andante und dem Ein feste Burg ist unser Gott-Finale. Und Mendelssohn passt natürlich programmatisch hervorragend. Besonders pikant im Zusammenhang der Verfemten Meister klingt dieses berühmte aufsteigende Geigenthema im Kopfsatz, das ausgerechnet Richard Wagner ausgerechnet für den Parsifal klaute: der Meister all derjenigen Nationalblock- und Widerwarte, die Mendelssohn das Deutschsein absprechen wollten. Das macht dieses Programm über die musikalischen Rehabilitationen hinaus besonders verdienstvoll in Zeiten, in denen allen Ernstes wieder diskutiert wird, ob jemand namens Muhterem Aras deutsch sein könne. Unterkomplexe Zeiten erleben wir gerade, in denen einem unwohl wird.
Das nächste Konzert der Berliner Symphoniker findet am 28. Oktober im Konzerthaus statt. Hier gehts zur Programmübersicht.
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