Gefühlte Deutschlanderst- und Weltuntergangsaufführung.
Aber es stimmt nicht, dass Mieczysław Weinbergs Sinfonie Nr. 5 f-Moll op. 76 (1962) am Freitagabend hierzulande zum ersten Mal gespielt würde. Es war sogar dasselbe Orchester, auch wenn es damals nicht Konzerthausorchester hieß, sondern Berliner Sinfonieorchester, das 1963 der Hauptstadt der DDR einen besonderen Kunstgenuss bescherte (Neues Deutschland vom 15.2.1963), und zwar unter Leitung des Dirigenten Kirill Kondraschin, dem damals der 20jährige Thomas Sanderling assistierte, der jetzt 73 ist und Weinbergs Sinfonie als Berliner Zweitaufführung im Konzerthaus dirigiert.
Und die Welt geht auch nicht unter bei diesem düsteren Werk, obwohl es sich heftig so anfühlt, vom gruselig wispernden Beginn an, zu dem sogar das ungezogene Tuscheln des Publikums passen will: Ein omnipräsentes Pendeln wird im Lauf des unerbittlichen Kopfsatzes immer massiver und stählerner. Ein nachtmusikhaftes Adagio sostenuto, das mit tiefen Harfen und Vogelrufen an Mahlers Siebte erinnert. Ein Gespensterscherzo und ein Finale voll Verzweiflung, Traurigkeit, Resignation. Ein ungreifbar jüdisches Lied von der Erde meint man da zu hören, doch ohne Silberbarke; zwischendurch ist es auch ein Walzer von der Erde, aber wo bei Mahler die lange Linie und die Stimme der Sängerin die musikalische Einheit sichern, reihen sich in diesem zerhackstückten Gesang Celesta, Harfe, Cello, Geige, Oboe, Klarinette, Flöte, Horn, Fagott, gestopfte Trompete für je einige Töne aneinander.
Dass die Solisten des Konzerthausorchesters in diesem Trümmerdefilee ihre große Klasse beweisen, verhindert nicht ein erhebliches Aus-dem-Saal-Defilieren des ärgerlich unruhigen Publikums. Was nicht an der Qualität dieser Musik oder ihrer Darbietung liegt, sondern vermutlich an ihrer im Vergleich zu Schostakowitschs Maskenspielen krass uncamouflierten Negativität. Trotzdem erstaunlich, dass ein Publikum, das Schostakowitsch und Mahler liebt, bei Weinberg in Scharen entfleucht, der doch offenhörlich kein Epigone, sondern ein Geistesverwandter dieser beiden war (wie Jens Schubbe im Programmheft ganz richtig schreibt). Der Schluss von Weinbergs Sinfonie erinnert, wie ein älterer Besucher feststellt, deutlich an den morbide tickenden und klappernden Schluss von Schostakowitschs letzter Sinfonie – die rund zehn Jahre nach Weinbergs Fünfter entstand. Die Einflüsse flossen anscheinend in beide Richtungen.
Aber Weinberg (1919-1996) hat danach noch 17 weitere Sinfonien komponiert, statt unterzugehen. Es ist zu hoffen, dass dem Berliner Publikum weitere Trübsal blüht, zumal es seit einem Jahr sogar eine Internationale Weinberg-Gesellschaft gibt. Auch das DSO unter Tugan Sokhiev hat sich ja schon um Weinberg verdient gemacht; auf eine Oper wie Die Passagierin in Bregenz, Karlsruhe und Frankfurt oder zuletzt Der Idiot in Mannheim wagt man kaum zu hoffen.
Bis dahin kann man sich tiefer in Weinbergs Fünfte einhören, hier in der Aufnahme des Polnischen Radiosinfonieorchesters unter Gabriel Chmura:
Um so trüber sann Weinbergs Sinfonie, als ihr im Konzerthaus der strahlende Glanz von Beethovens Violinkonzert D-Dur vorausging. Routiniert, aber ohne den letzten Dampf im Kessel begleitete das Orchester den (kurzfristig eingesprungenen) jungen tschechischen Geiger Josef Špaček, mit brillanter Fritz-Kreisler-Kadenz; ein paar mehr Widerhaken dürfte es gern geben, wenn dieser ausgezeichnete Musiker wieder nach Berlin kommt.
Das gleiche Programm noch einmal am heutigen Samstagabend.
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