Dieses Konzert treibt dem Konzertgänger den Griesgram aus, der tief in ihm steckt: Sich einlassen oder gleich abhauen heißt die Devise, wenn der Pianist Marino Formenti die diesjährige MaerzMusik eröffnet, zum zweiten Mal mit dem Untertitel Festival für Zeitfragen. Dem Kritiker der Berliner Zeitung hat bereits die Lektüre des Programms die Laune verhagelt, Casus knacksus seines Tadels: zu viel Gelaber, zu wenig Musik. Nun hat sich auch dem Konzertgänger schon während seines geisteswissenschaftlichen Studiums das tolle Treiben der Diskurserotiker nie erschlossen, darum meidet er die umfangreiche Thinking Together-Konferenz des Festivals zum Thema Zeit und Digitalisierung (für Diskursmasochisten auch als 12stündiger Livestream) wie der Teufel das Weihwasser.
Aber der sympathische Pianist Marino Formenti, der das Eröffnungskonzert (vulgo Opening: Time to gather) im Haus der Berliner Festspiele gibt, ist alles andere als ein theorieseliger Plapperfroh. Wenn er in seinem italienisch gefärbten Wienerisch zum Publikum spricht, dann mit der Aufforderung, sich mal locker zu machen und bittebitte zwischendurch etwas zu trinken zu holen (aber, wir sind ja in Deutschland, nur Becher in den Saal, keine Gläser). Die Hörer sitzen nicht im Saal, sondern auf der Bühne ums Klavier, auf Sesseln, Sofas, Hockern, Bänken, dem Boden und weit verteilten Matratzen. Digitalisiert ist hier nichts, nur die Zeit dehnt sich: Es gibt kein festgelegtes Programm, zum Start ertönen die unterarmdreschende 6. Sonate von Galina Ustwolskaja und das ätherische Wiegenlied des alten Franz Liszt. Für das weitere Programm nimmt Formenti Wünsche entgegen, er hat die mitgebrachten Noten über mehrere Tische ausgebreitet; und das Publikum ist auch eingeladen, ans Klavier zu kommen und etwas vorzuspielen. Am Anfang zieht es sich, einige Interessierte schwarwenzeln ums Klavier, aber keiner traut sich so recht; man wäre schon dankbar, wenn jemand den Flohwalzer darböte.
Doch wer den inneren Griesgram überwindet und nicht abhaut, sondern abwartet und Tee trinkt (oder Sekt), der wird belohnt. Formenti spielt sehr wandelbar und zum Glück nicht als Hintergrundbeschallung, er bittet das relaxte Publikum während der Stücke um Ruhe. In größeren Abständen erklingen eine Sarabande von J. S. Bach, eine heftige Clusterbrumme von Giacinto Scelsi (im Unterschied zu Ustwolskajas spröde donnernder Hardcore-Spiritualität ein südländisch feuriges Klanggewitter, bei dem allerdings den Hörern auf der Matratze unter dem Flügel das Lachen vergehen dürfte), John Lennon, ein paar Takte Griechischer Wein, eine Scarlatti-Sonate, eine Geschwind-Gnossienne von Eric Satie, introvertierte Préludes von Gaspard le Roux und dann wieder Cluster, diesmal frei nach Smells like Teen Spirit von Nirvana.
Als Formenti gegen 22 Uhr die Hörer für seine Verhältnisse fast unwirsch auffordert, aufzustehen und herumzugehen, zu trinken, zu flirten, sonst könnt ihr gleich in die Philharmonie gehen, entspannt sich der Konzertgänger zähneknirschend und legt sich auf eine Matratze in der Seitenbühne, was tatsächlich recht angenehm ist. Mittlerweile ist auch das Eis geschmolzen und einige Gäste setzen sich ans Klavier, offenbar ist mancher (Semi-)Profi im Publikum. Ein älterer Syrer namens Mohammed singt a cappella ein wehmütig wirkendes melismatisches arabisches Lied, später wagt sich ein todesmutiger Herr mit brüchiger Stimme an den Leiermann aus der Winterreise. Viel Bach, zwischendurch kann man rumgehen und die Bühnenbeleuchtung inspizieren oder Wein trinken; die Herren von der Qualitätspresse gucken weiterhin sauertöpfisch.
Durchaus unspontan und akkurat vorbereitet ist aber der Höhepunkt des Programms, den Mario Formenti kurz vor 23 Uhr spielt, das 30minütige Stück DW 12 Cellular Automata for solo piano (danke an Dominique Schweizer für den Titel) von Bernhard Lang zwischen Free Jazz, Nocturne und Klaviertechno, in dem irgendwann in einer Clusterkanonade auch die Fanfaren der Hammerklaviersonate auftauchen.
Ein ziemlich konjunktivisches, aber sehr sympathisches Konzert. In den nächsten Tagen gibt es vom Computer komponierte Musik und einen Winterreise-Schwerpunkt (Schubert ist immer zeitgenössisch), außerdem ein nächtliches Schlafkonzert und einen 30-Stunden-Gig.
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