Der französische Titel lohnt allein schon deshalb, weil offen bleibt, ob er DER, DIE oder DAS UNSICHTBARE bedeutet. Aber das ist nur einer von vielen Gründen, warum Aribert Reimanns neue Oper L’Invisible, uraufgeführt am Sonntag an der Deutschen Oper Berlin, so sehr lohnt: Dringliche Empfehlung für alle, denen diese Kunstform am Herzen liegt!
Das WER, WIE, WAS der Oper ist allerdings komplex. Aber nicht esoterisch, sondern hinreichend durchdringbar, um eine packende Opernerfahrung zu machen. Vorausgesetzt, man macht sich vorher ein klein wenig mit dem dreiteiligen Aufbau der Sache vertraut.
Denn das WER könnte zunächst verwirren, weil sich in den Szenen der Oper, die Reimann nach drei Kurzdramen von Maurice Maeterlinck geschrieben hat, die Figuren verdoppeln und verdreifachen. Ein blinder Großvater wird zu einem alten Mann auf der Straße, der in ein Weihnachtswohnzimmer schaut, und schließlich zum Helfer zweier Schwestern im Kampf gegen eine unsichtbare böse Königin. In dieser Schlacht wird eine Frau, die zunächst eher Nebenfigur schien (als Schwester am Tisch und Enkelin auf der Straße), zur tragischen Heldin. Verzweifelt ringt sie ums Leben ihres kleinen Bruders, der wiederum mit dem unsichtbaren, aber am Ende auf merkwürdige Weise hörbaren Neugeborenen in Szene 1 identisch sein könnte, dessen Mutter im Kindbett stirbt. Drei unsichtbare Countertenorstimmen, die in Interludes zwischen den Szenen zu hören waren, inkorporieren sich im dritten Bild schließlich als grausige Dienerinnen der todbringenden Königin. Dass fortwährend über die Wände huschende Schatten die eigentlichen, entscheidenden Handlungen ausführen, macht das WER noch tummeliger.
Die Sänger geben Halt. In unendlicher Melodie, bald rezitativisch, bald arios, doch immer klar verständlich führen sie uns durchs Dickicht. Die Oper ist fast komplett aus dem Ensemble besetzt, das hier Riesen-Ehre aufs Haus häuft: vom markanten, nie kraftmeiernden, sondern Brüche zeichnenden Bassbariton Stephen Bronks über den hellen, präzisen Tenor von Thomas Blondelle bis zum charakteristischen Mezzosopran von Annika Schlicht. Man bedauert, den eindrucksvollen Bassbariton von Seth Carico nur in der ersten Szene hören zu dürfen, so wie man auch die umwerfende Ronnita Miller, die nur einen kleinen Auftritt hat, gern länger erlebte. Die drei Counter Tim Severloh, Matthew Shaw und Martin Wölfel (keine Ahnung, wer wer ist) sind ein gutes Gespann, das teilweise madrigaleske Formen in den fließenden Musikstrom einspeist. Herausragend allerdings, was Bühnenpräsenz, dramatische Intensität, Textgestaltung und Meisterung von Höhen angeht, ist die gastierende Rachel Harnisch.
Wie überzeugend sämtliche Sänger zur Geltung kommen, dürfte ein Gutteil auch Verdienst von Aribert Reimann sein, der die menschliche Stimme offenbar besser kennt und inniger liebt als jeder andere lebende Komponist. Und überdies mit der Deutschen Oper vertraut ist wie kein Zweiter: Hier begann er 1955 direkt nach dem Abitur seine Karriere als Korrepetitor, hier feierten fünf seiner neun Opern ihre Premieren.
Man wundert sich nur, dass Reimann es sich nicht verbeten hat, die Stimme des Kindes Tintagiles in der dritten Szene mit einem Mikrofon zu verstärken. Salvador Macedo spricht ja wunderbar: Ist es wirklich so wichtig, dass man jedes Wort des Kindes so genau versteht? Denn seine Stimme ist bereits dadurch herausgehoben, dass sie als einzige nicht singt, sondern spricht. Doch der Lautsprecher trennt sie vom Körper des Kindes und macht sie zu einem klanglichen Fremdkörper, der die Bedeutungsebenen auf der Bühne ungut verschiebt. (Ein Missgriff, der leider auch bei Sprechrollen in der Philharmonie immer wieder zu erleben ist.)
Das ist aber nur ein kleiner Makel an diesem Abend. Denn sonst ist das WIE rundum überzeugend, ja begeisternd: Reimanns musikalisches Denken und dessen Umsetzung durch Sänger und Orchester verleihen dem faszinierenden, aber schwer durchdringlichen Handlungskuddelmuddel eine unmittelbar packende, ja mitreißende Wirkung.
Diese Wirkung wird von der bildstarken Inszenierung von Vasily Barkhatov (der wie Boris Johnson aussieht, aber in Jung und Sympathisch) noch unterstrichen und verstärkt: Eine Hauswand nah am Bühnenrand gewährt wechselnde Einblicke in die Handlung, während huschende Schatten auf der Wand verborgenes und hintergründiges Geschehen darstellen. Die drei Szenen hat Barkhatov in drei verschiedenen Zeiten angesiedelt, die erste in der Entstehungszeit von Maeterlincks Kurzdramen (die hier als Fin de siècle sehr treffend beschrieben scheint), die zweite in den 50er Jahren, die dritte und bei weitem längste in der Gegenwart. Erst am Ende öffnet sich ein völlig verblüffendes, überaus beklemmendes Schlusstableau – so unerträglich, dass man den Blick abwenden möchte, es aber nicht kann.
Das Erfreulichste aber ist, wie die Inszenierung sich dem Verlauf und der Logik der Musik anschmiegt, ohne sich im Illustrativen unsichtbar zu machen. Denn Reimann hat die Oper auf eine, man möchte fast sagen, traditionelle Weise bezwingend strukturiert. Da gibt es Leitmotive, bedeutungstragende Akkorde usw, vor allem aber eine symbolträchtige Instrumentierung: Im ersten Bild sind nur die Streicher zu hören, ohne alle forcierten „neuen Spielweisen“, aber in tausend Farben und Schattierungen, und man staunt über die Vielfalt an Klangmöglichkeiten, die das Orchester der Deutschen Oper unter Donald Runnicles Wirklichkeit werden lässt. Das zweite Bild gehört dann nur den stark besetzten Holzbläsern. Dazwischen die Countertenöre aus dem Off. Ungeheuerlich ist die Wirkung, wenn schließlich zum ersten Mal das Blech ertönt und die bisher unsichtbaren Stimmen die Bühne betreten: gemeinsam mit dem Kind, dem sie nach dem Leben trachten. Und erst als die Dinge sich bis ins Letzte zuspitzen, ist das ganze große Orchester da.
Das ist wohl der entscheidende Kniff in Reimanns musikalischem Umgang mit Maeterlincks drei Kurzdramen, die so übervoll sind an doch penetranter Symbolik. Keine Spur von jenem statischen Theater, nach dem Maeterlinck suchte: Reimann hat mit seinem direkten dramatischen Zugriff in gewisser Weise am Text vorbeikomponiert. Aber gerade dadurch geschieht es, dass das Geheimnis des Geschehens sich realisiert, ohne dass irgendwas an die Oberfläche gezerrt würde, etwa durch mystisch auf der Stelle tretende Raunerei. Dass man die Oper atemlos verfolgt wie einen meisterhaften Thriller, ist da nur ein Nebeneffekt; genau wie die gruselkomischen Potenziale, die Barkhatov diskret hervorhebt (etwa in den schwarzen Mülltüllkleidern der Dienerinnen oder der Ritterrüstung des Alten mit Papierkorb als Helm, Abfalltonnendeckel als Schild und Krankenhaustropf als Hellebarde).
Das führt direkt zum WAS dieses großen Abends. Der, die, das Unsichtbare mag wohl der Tod sein, der sich als Motor, Movens, Motiv durch alle Szenen zieht. Und so packend Reimanns Musikdramatik schon in technischer Hinsicht ist, so sehr berührt sein tief persönlicher Zugang. Man spürt förmlich, wie der nun 80jährige Komponist sich in den ängstlichen Augen des Zehnjährigen spiegelt, der da dem Tod gegenübersteht. Hoffnungslos, rettungslos.
Dabei sind wir alle dieses Kind, das vom Unsichtbaren getötet wird. Da nützt uns kein Schwert und auch keine Klonkriegerpuppe auf dem Krankenhaustisch.
Große Erleichterung also, dass der alte Reimann im tosenden Schlussapplaus knackig wie eine Gurke auf der Bühne herumhüpft. Das soll nicht seine letzte Oper gewesen sein, ad multos annos! Und dass das Regieteam um Vasily Barkhatov T-Shirts mit dem Bild des drangsalierten Kollegen Kirill Serebrennikov trägt, ist eine fantastische Geste der Solidarität.
Weitere Kritiken: Schlatz, Kulturradio
L’Invisible gibt es noch viermal an der Deutschen Oper, nur bis Ende Oktober.
schon vor Ihrer Kritik, nach dem Lesen der bisher erschienenen habe ich sofort eine Karte für den 22. bestellt. Dann am 22. das und am 23. Mahlers 5. schwere Kost..
Hatte aber gestern schon die Übertragung im Radio gehört und war sehr angetan, was ja bei dieser Musik auch nicht selbstverständlich ist.
Freue mich schon sehr
Wird Ihnen gefallen, alles von den Stimmen her gedacht und sehr emotional.