Das sei aber mal ein Bratschenkonzert, das alle Bratschenklischees vermeide, war neulich bei der Uraufführung eines (übrigens sehr schönen) modernen Bratschenkonzerts zu hören. Was aber sind eigentlich die Legionen von Bratschenkonzerten, die dem Bratschenklischee frönen?
Eine Antwort gibts bei den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle, der sich gutgelaunt durch seine Abschiedssaison dirigiert. Und sehr schön ist William Waltons Violakonzert (1929, rev. 1962) übrigens auch. Um nicht zu sagen schwön.
Die Uraufführung spielte Paulchen Hindemith, aber das Konzert ist frei von Hindemith-Sprödesse. Stattdessen voll der beiden großen SCHWs, die in der Musik doch am wichtigsten sind: Schwermut und Schwönheit. Was man so spätromantisch schimpft; aber als Lobeshymne, bitte sehr. Im breiten Klangfluss umspielt die Oboe von Weltstar Albrecht Meier-mit-ay die singende, brillierende Bratsche des Philharmonikerkollegen, hier nun Solisten Amihai Grosz, darüber rauscht die Harfe. Die untere und mittlere Lage versinkt manchmal ein wenig im Tutti, das ist wohl die Bratschenkrux. Aber Walton macht die Not zur Tugend, wenn am Schluss das Soloinstrument im schwermütigen Fluss in der Ferne versinkt. Ach.
Grosz neigt zum Glück nicht dazu, sich zu verstecken wie manche Orchestermusiker, die plötzlich im Solistenlichtkegel stehen. Und die dann aus falscher Bescheidenheit sogar auf eine Zugabe verzichten. Das wäre in diesem Fall sogar verantwortungslos dem Soloinstrument gegenüber. Denn wann wird der gemeine Philharmoniker-Abonnent so bald wieder eine Solobratsche hören? Und dann noch so schön wie in Max Regers g-Moll-Suite?
https://www.youtube.com/watch?v=rY2qnci5X9g&feature=youtu.be
Das Waltonkonzert kann man hier kennenlernen. Und warum nicht öfter im Konzert?
Nicht nur zwei, sondern gleich vier große SCHWs gibts in Zoltán Kodálys Háry János-Suite (1927), die auf der gleichnamigen Oper über eine Art ungarischen Münchhausen basiert: schwermütig schwön, schwungvoll – schwektakulär! Das Orchesterfarbenfeuerwerk ist die blanke Freude, am Anfang niest das ganze Orchester, dann Röhrenglocken über Militärtrommel, eine tänzelnd-marschierende Celesta, das Saxofonsolo in einem reinen Bläser-Schlagzeug-Satz und natürlich das berauschende Cimbalom, eine Art ungarisches Hackbrett.
Der Zusammenhang mit Walton wird sinnfällig, wenn der dritte Satz mit einem weltgramsinnig kantablen Bratschensolo beginnt. Das spielt nicht Amihai Grosz, der jetzt in der zweiten Reihe sitzt, sondern Naoko Shimizu.
Und der Zusammenhang mit Mozart? Das Klavierkonzert B-Dur KV 595 gibts am Anfang wohl auch, um die Bude vollzukriegen. Und damit die wunderbare Mitsuko Uchida es spielen kann! Prima, dass Rattle podestlos am Flügel steht und die Holzbläser gleich vor ihm: Dass Flöte und Oboe nur zwei Meter von der Pianistin entfernt spielen, macht die Dialogfiguren in diesem fast kammermusikalischen Werk besonders intensiv.
Die Streicher der Philharmoniker beginnen hauchzart, der Forte-Einwurf der Bläser folgt deutlich, fast plakativ: kontrastreich, ohne je den wohligen Klang zu verlassen, den man vom Philharmoniker-Mozart erwartet. Aber Uchida beginnt hauchzärter. Höchstdeutlichkeit bei Wohlstklang. Sie wagt sich in der modulationsreichen Durchführung an die gläsernen Ränder des Ausdrucks (man meint Chopin zu hören): expressiv ohne einen Anflug von Schroffheit. Mitsuko Uchida ist der lebende Beweis, dass pianistische Wunderschwönheit möglich ist, ohne irgendwas einzuebnen. Äußerste Behutsamkeit, größte Genauigkeit, Staunen über jeden einzelnen Ton.
Einziger Wermutstropfen an diesem Samstagabendkonzert der Berliner Philharmoniker: eben jetzt die Wiener in der Lindenoper zu verpassen (Kritik). Und etwas, was man doch eigentlich einmal im Leben erlebt haben muss: den Sommernachtstraum auf Estnisch! (Die Gelegenheit gibts allerdings am Sonntag noch ein letztes Mal.)