Ein Konzert so berührend, dass es kaum zu ertragen ist. Ein Konzert, das Glauben sucht und Gott anschreit.
Ob es den Hörer auf die Palme bringt oder zu sich selbst, ihn belästigt oder erleuchtet, hängt sicher von dessen Persönlichkeit ab. Das beginnt schon beim Einzug des Chorus MusicAeterna, der schwarzgewandet und Kerzen tragend die abgedunkelte Philharmonie betritt. Dort bildet er einen Kreis um Teodor Currentzis, der mit ausladenden Wischbewegungen dirigiert: halb Magier, halb Touchpad-Benutzer. Sektenartig findet eine kluge Bekannte des Konzertgängers das alles.
Aber eine Sekte, die so singen kann! Mehrmals hat Currentzis das angekündigte Programm im Vorfeld verändert. Was beweist, dass es fortwährend in ihm arbeitet und sucht; da wird nicht einfach ein Welttournee-Programm heruntergespult. Neun im weitesten Sinn geistliche Chorwerke aus tausend Jahren sind nun in der ersten Konzerthälfte zu hören, von Hildegard von Bingen bis zu Alfred Schnittke. Die Stücke verschmelzen miteinander, obwohl die stilistischen Unterschiede krasser nicht sein könnten: von der Gregorianik bis zur Mikrotonalität, von Henry Purcells innigem Bittgesang bis zu Igor Strawinskys scharfer Credo-Deklamation oder Arvo Pärts introvertiertem Salve Regina.
Meist singt der Chor a cappella, nur gelegentlich treten eine Gambe oder einige Orgeltöne hinzu. Am Ende dieses fast anderthalbstündigen Eröffnungsteils steht Purcells ergreifendes Remember not, Lord, Our Offences (um 1680). Da setzt Currentzis sich an den Rand, den Kopf in die Hände gestützt wie die steingewordene Trauer in Person, und der von Vitaly Polonsky großartig einstudierte Chor singt allein. Natürlich fasern die Einsätze ein wenig aus, aber das ist ganz egal: Man hält den Atem an, wie diese Sänger aufeinander hören und einander nachspüren. Eindruck: Die Sänger sind, was sie singen.
Der Höhepunkt des ersten Teils, wenn man den großen Bogen denn wieder auseinanderzupfen will, ist zweifellos György Ligetis mikropolyphone Lux Aeterna von 1966. Dass da „nur“ 16 Stimmen singen, mag man kaum glauben. Denn obwohl jeweils nur Ausschnitte aus dem gesamten singbaren Spektrum zu hören sind, ist es, als wären alle Töne der Welt da: bald stärker, bald schwächer, bald unhörbar, dennoch im Raum. Man soll derartige Dinge nicht an die große Glocke hängen, aber dem Konzertgänger erscheint während dieser Musik bei geschlossenen Lidern einen Augenblick lang eine liebe Verstorbene.
Was wird die kluge Bekannte des Konzertgängers wohl denken, als nach der Pause auch das Orchestra MusicAeterna die Bühne in schwarzen Mönchskitteln betritt? Immerhin ohne Kerzen. Ob ihr trotzdem die Hutschnur platzt?
Während der suchende Geist von Individuen aus vielen Jahrhunderten im ersten Teil in eins verschmolz und mit ihm die Unterschiede der Texte, gibt es in Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem d-Moll KV 626 Übertitel zum Mitlesen: Hier zählt jedes Wort. Denn dieses Requiem schreit. Currentzis treibt seinen ruppigen, scharfkantigen Stil wieder etwas weiter, der erste Basston wirkt wie ein Abstoßen, die ersten Abschnitte verbinden sich ohne Innehalten holterdipolter bis in die Sequenz. Kann man auch für ein Sekten-Indiz halten: Gib dem Hörer keine Zeit zum Reflektieren.
Aber die Wirkung ist ungeheuer. Tatsächlich meint man, dass diese Musik Gott anschreit. Frappant etwa im Hostias: keine Bitte an Gott, die Opfergaben anzunehmen, sondern verzweifeltes Verlangen. Im Angesicht des Todes gibt es keine Halbheiten und keine Gelassenheit; und am lautesten schreien die Pianissimi im Confutatis.
Currentzis und seine Musiker nehmen für diese Intensität einiges in Kauf. Das Orchester droht es im Rausch manchmal aus der Kurve zu tragen, im Chor kommt es zu starken Zischlauten und heftig rollenden Rrrs. Wie gut die Instrumentalisten sind, ist dabei unüberhörbar, nicht nur in den solistischen Passagen, etwa im Tuba mirum. Am Chor bestand ja schon nach der ersten Konzerthälfte kein Zweifel. Unter den vier starken Solosängern ragt die Sopranistin Julia Lezhneva heraus. Alle Musiker eint der Wille, Unbedingtes zu wagen.
Das Publikum scheint sich weniger einig. Genaueres weiß der Konzertgänger aber nicht. Er war nämlich der weinerliche Typ, der bei Einsetzen des Beifalls torkelnd aus dem Saal stürzte. Nicht um als erster an die Garderobe zu kommen, sondern weil es ihn zerriss. Die Chor-Zugabe, die Bach-Bearbeitung Komm süßer Tod von Knut Nystedt, hörte er so nur aus großer, großer Ferne; von wo sie glatt wie Ligetis Lux Aeterna klang.
Wunderbarer Text, der meine in Vevey erlebten, überwältigenden Eindrücke erneut hochsteigen lässt. Erstmals wird darin auch der grossartige Chorleiter Vitaly Polonsky erwähnt. Ich bestätige: Teodor Currentzis, die Solisten, Chor und Orchester mit allen im Hintergrund Mitwirkenden
s i n d effektiv, was sie interpretieren.
Mein Sitznachbar auf dem Podium ist sofort rausgestürmt, als der Applaus begann.
Danke für den Text.
Das Konzert war ein wahrlich genialer Trip!
Nur ein kurzes Danke für den Text. Ich wohne etwas zu weit weg und habe es nicht geschafft zu kommen. Bittschreiend und Currentzis, da weiß ich, was ich verpasst habe. Die Kombination der Stücke hat mich etwas fassungslos verlangend hinterlassen – ich wäre wohl eher der verheulte Typ gewesen.
Heulen in Gedanken kann ja auch erleuchtend sein! Herzliche Grüße.
Ein wirklich großartiges Konzert! Auch besonders, wie Currentzis es geschafft hat, das Publikum so in seinen Bann gezogen hat, dass die Pausen nach den Stücken still blieben –kein Husten, kein vorzeitiger Applaus.
Fanden Sie? Dann waren Sie, glaube ich, konzentrierter auf die Musik als ich. Mich hat das permanente Husten und (anfängliche) Reinklatschen sehr gestört. Es wurde dann besser. Aber mein Nachbar meinte mit leuchtendem Display filmen zu müssen.
Stimmt, anfänglich war’s nicht so still, dann aber zunehmend. Nach dem Requiem war die gefühlt minutenlange Stille außergewöhnlich.
oh. das hört sich aber sehr bewegend an und es muss ja aus Ihrer Sicht grandios gewesen sein.
Ich bin ja bekannterweise kein Mozartfan, habe das Requiem aus Salsburg im Fernsehen erlebt und mich fast zu Tode gelangweilt und mich über dieses Gehabe des Dirigenten und des Orchesters gewundert, um es sehr vorsichtig auszudrücken.
Das war schon am Beginn so, als die Solisten minutenlang auf der Bühne rumstanden, ehe der Messias dann den Raum betrat.
Jedenfalls lässt er niemanden kalt. Nach dem Concertgebouw-Reinfall vom Vortag finde ich das schon verdammt viel.
Ja das muss ja wirklich merkwürdig gewesen sein.
Bei mir gehts erst am Mittwoch mit Lucia los und Montag mit Walküre, die ist sogar ausverkauft