Engel-Alarm an der Staatsoper Berlin! Die Hochzeit des Cherubino, könnte man diese jetzt wiederaufgenommenen Nozze di Figaro auch nennen, für die schon der Titel Le Nozze di Susanna vorgeschlagen wurde. Denn erstens sind diese Mozart-Menschen doch alle Cherubini, himmelsferne Himmelswesen, mit ihrem unstillbaren Verlangen nach Lust und Liebe. Und zweitens sprengt die französische Mezzosopranistin Marianne Crebassa als Cherubino nicht nur die Grenzen ihrer Rolle, sondern die ganze Bühne: eine große Stimme, die man sich auch in ganz anderen Rollen vorstellen kann, zugleich frisch, fast kindlich, dramatisch, frivol, verzweifelt, unverschämt. Und darstellerisch ein konditionsstarkes, hochkoordiniertes Zappelwunder. Wenn Cherubino als Mädchen verkleidet ihren Blumenstrauss schwingt wie Thor den Mjolnir-Hammer, wackelt der Saal vor Lachen. Wenn Crebassa deklamiert Oh, vedo qui una donna!, schlackert das Ohr vor Freude.
Der Sohn des Konzertgängers war vorher schon Cherubino-Fan und ist es hinterher noch mehr. Non so più cosa son, cosa faccio auf der ganzen nächtlichen Heimfahrt mit dem Rad entlang der Spree.
Auch sonst cherubische Organe, wohin man hört, zumal in den himmlischen Höhen der Frauenstimmen: Noblesse und Zerbrechlichkeit zugleich in Dorothea Röschmanns Gräfin, auch abrupte stimmliche Verhärtungen, die aber stets kontrolliert scheinen. Die Timbres von Röschmann (samtig, voll, weiblich) und Anna Prohaska als Susanna (auf fast raue Weise silbrig) sind so unterschiedlich, dass das lyrisch-hinterhältige Diktier-Duett Canzonetta su l’aria pures Glück ist.
Mit hoher Verzierungskunst glänzt in diesem Figaro nicht nur Prohaska, sondern auch Katharina Kammerloher, die die Marcellina zu einer ganz erstaunlichen Figur macht: nichts von alter Schachtel, sondern der heißeste Feger auf dem Tableau. Ein Mezzosopran und ein Dekolleté, dass jeder Mann zum Cherubino wird. Kunstvoll und leidenschaftlich im 4. Akt die Ziegen-Arie, man versteht nicht, warum die früher immer gestrichen wurde. (In dieser Aufführung fehlt einzig die Arie des Basilio.)
Le Nozze di Marcellina, warum nicht?
Auch Sonia Granés vögelchenhafte Barberina und die Brauthut tragenden Cherubine Verena Allertz und Julia Mencke lassen keine Wünsche offen. Barberinas L’ho perduta ist einer der seltenen Fälle, wo der Konzertgänger das Gefühl hat, dass Mozart mit seiner Überfülle an Einfällen sich doch vertan hat – so viel Inspiration und Emotionalität für so ein Kavatinchen.
Und Männer? Gibt es auch Männer?
Tja, es ist nun mal so: Männer wirken im Vergleich zu Frauen immer doof. Nicht nur bei Mozart, aber da besonders. Was gar nicht heißt, dass sie schlecht sängen: Der Este Lauri Vasar ist ein höchst souveräner Figaro, auch wenn man nicht weiß, ob man seine Stimme im Dunkeln wiedererkennen würde. Makellos allesamt: Otto Katzameier als Bartolo, Florian Hoffmann als Musiklehrer und beschäftigungsloser Kuppler Basilio, kein Geringerer denn Olaf Bär als Gärtner Antonio, der ulkig-würdevolle Peter Maus als stotternder Anwalt Don Curzio.
Und ein Sänger nun, der „Hildebrand von Erzengel“ heißt: Muss man den nicht schon um seines Namens willen lieben? Ildebrando d’Arcangelo blödelt, dödelt und knödelt zudem als Graf, dass es eine Lust ist. Als Stuntman, Revolverheld und Suppenkasper, der auch mal in den Orchestergraben runtersteigt und Gary Gromis vom Cembalo verscheucht, um sich selbst den Grundton zu geben fürs Che imbarazzo è mai questo – was für eine Verwirrung aber auch.
Tief hinab muss er nicht, denn der Orchestergraben ist einen Meter höhergelegt: damit die überall und allerorten herumturnenden Protagonisten nicht so tief stürzten, wenn doch mal einer reinfiele. Die Staatskapelle klingt unendlich viel besser, wenn’s nicht von so weit unten heraufbrummelt. Man sieht die Köpfe der Musiker und ihrer Instrumente, die bekommen so einfach mehr Luft. Die entscheidende Frischluftzufuhr liefert aber Pablo Heras-Casado, das Gegenteil des Premieren-Dirigenten Dudamel. Die Tempi merklich erhöht, die Phrasierungen geschärft, die Holzbläser beredt, die entschlackten Streicher, etwa zu Beginn des zweiten Aktes, sehr berührend – alles im Rahmen dessen, was in der wohl nicht üppigen Probenzeit so möglich ist. Manchmal, etwa in den Finali der Akte, könnte man sich den Orchestersound noch prägnanter und gepfefferter vorstellen. Ein Versprechen auf die Vorstellungen, die jetzt noch folgen.
Und Inszenierung? Gibt es auch Inszenierung?
Jürgen Flimm hat das Figaro-Rad nicht gerade neu erfunden – was manche halt „altmeisterlich“ nennen und, wenn man so in die Pausengespräche hineinhört, für viele kein Minuspunkt ist. Ein U-60-Regisseur sollte sich so ein relaxtes Inszenieren aber nicht erlauben. Die Illusion einer Feriensituation (am Anfang mit Koffern rein, am Ende mit Koffern raus) bringt nicht viel, ist aber ein flotter Rahmen, so wie das türkis nostalgische Bühnenbild mit Wänden im Kolonialstil (Magdalena Gut).
Dicker Pluspunkt: die temporeiche Personenführung. Manchmal vielleicht zu viel des Guten und arg klamottig, aber immer witzig. Lieber ein Gag zu viel als einer zu wenig. Und wenn die Zeit dann doch mal die Luft anhält, etwa am Ende von Cherubinos erster Arie oder wenn die Gräfin und der Jüngling sich allzu nahe kommen, wird der Klamauk sehr anrührend. Das Lächeln eines Sommernachtstraums, Shakespeare oder Bergman, wirds darum aber noch nicht. (Hat Ingmar Bergman je den Figaro inszeniert?)
Inszenierung nett, Orchester stark, Stimmen engelsgleich. Besseren Mozart wird’s in Berlin dieser Tage schwerlich geben. Fünf weitere Aufführungen bis Anfang Mai.
Ja, ich war auch drin und muss noch schreiben. Alles in allem war das eine sehr erfreuliche Aufführung, bei der sogar Jürgen Flimm zum Schluss noch einmal auf die Bühne durfte. Die tolle Prohaska hatte fast Probleme, sich stimmlich gegen die fesche Röschmann und Crebassa zu behaupten. Die Ziegenarie gönne ich Kammerloher, aber ich muss auch sagen, dass ich nach 3 Stunden Figaro nicht in jeder Aufführung „Il capro e la capretta“ hören muss, zumal Da Ponte schon aufregendere Arientexte geschrieben hat.
Da bin ich gespannt auf Ihre profunden Urteile, falls Sie Zeit zum Schreiben finden. Ja, dass Flimm flott auf die Bühne hopste, hätte man noch erwähnen sollen.
Richtig, was den Text der Ziegenarie angeht, und dramaturgisch ist sie durchaus verzichtbar. Aber ich finde sie 1. schön und 2. wichtig als Gegengewicht zu Figaros Frauenbeschimpfung „Aprite un po’ quegli occhi“ kurz darauf. (Die Musiklehrer-Arie ist aber wirklich fehl am Platz, auch wenn es mir für den Tenor immer leid tut.)
oh toll 🙂 War ja ähnlich ie bei mir am Freitag in der Traviata. Die Ciofi dieses Mal einfach zum hinschmelzen. Anbei ein Link, stimme mit der Einschätzung von Poli nicht so ganz überein, aber den Dong-Whan Lee, muss man sich wohl merken, fiel ja schon in der kleinen Rolle in den Hugenotten auf
http://www.oper-aktuell.info/kritiken/details/artikel/berlin-deutsche-oper-la-traviata-21042017.html