Mal aus einer Parallelnischenhochkultur in die andere huschen: In der Klazzik-Reihe des Konzerthauses Berlin spielt das Brad Mehldau Trio in der Besetzung Klavier/Kontrabass/Schlagzeug. Der Konzertgänger ist in punktibus Jazziana wahrscheinlich der ahnungsloseste Hansotto im ganzen Saal: jener Hirbel oben im zweiten Rang, der vorher nach einem Programmheft fragt und mittendrin nach dem Seitensatz auf der Dominante sucht. Dabei scheinen im Parkett die Fans zu sitzen, im Rang die Kenner, aber er bleibt trotzdem oben. Denn seine jungen, gutaussehenden und sophistikäteten Sitznachbarn wirken in ihrer andächtigen Hörhaltung (würde man sich bei manchem klassischen Konzert wünschen) so sanftmütig, tolerant und paradox tiefenentspannt wie Brad Mehldau himself am Klavier.
Mit dessen Klang der Konzertgänger aber erstmal zurande kommen muss. Schon vorher ist er nervös, was machen die elenden Mikros im Steinwaykorpus, das ist doch über- und eingriffig und obszön. Und wie laut das Klavier dann selbst im Pianissimo herauftönt, sind die hier denn alle schwerhörig? Sind doch alle jung und frisch – knackig wie eine Gurke, wie es im Oblomow heißt!
Tatsächlich wirkt der verstärkte Klang erstmal verschwommen, zumindest wenn man unter der Decke sitzt. Die Trockenheit des Schlagzeugs von Jeff Ballard setzt allerdings einen reizvollen Gegenakzent.
Aber nach einer Viertelstunde gehts. Der Eindruck wird klarer, viel klarer.
Wie schauen indes die klassischen Komponistenbüsten von den Wänden drein? Carl Philipp Emanuel Bach scheint erfreut, allein weil endlich mal ein Pianist mit dem Rücken zum Publikum sitzt, wie es sich gehört. Zumindest fast, im 150-Grad-Winkel etwa, nicht so rechtwinklig wie klassische Pianisten heutzutage. Domenico Scarlatti freut sich über die hochdifferenzierten Tonrepetitionen mit spitzen Fingern und dennoch federleichtem Anschlag. Nur Liszt Ferenc rümpft etwas die Adlernase, weil da so gar nichts vordergründig Auftrumpfendes ist.
Tatsächlich hat Mehldaus Spiel nichts demonstrativ Virtuoses, sondern wirkt in seiner Konzentration unprätentiös, vorsichtig, ja fast demütig. Wenn Larry Grenadier eins seiner grandiosen Basssoli spielt, machen Mehldaus Hände manchmal suchend Luftklavier über den Tasten: Da kann man der Entstehung von Musik vor ihrer Wirklichwerdung zusehen, sozusagen eine mögliche Musik lautlos hören – bevor Mehldau dann mit oft ganz kleinen Gesten einsetzt. Oft sind es gerade diese fast minimalistischen, tastenden Figuren, die mehr als die perlendsten Läufe beeindrucken. Dazu verblüffend simple Schlusswendungen. Und große Bögen, wenn aus einem meditativ dahinwesenden Klangfluss unversehens ekstatische Rauschbrüche werden.
Ein besonders berührender Höhepunkt ist für den Konzertgänger das And I Love Her, das aus gewissermaßen gewölbten Tiefen über ostinaten Figuren in soghafte Steigerung führt. Aus diesem schlichten oder auch, bei allem Respekt, etwas banalen Beatlessong sowas zu machen – ja, das ist doch nix Geringeres als Diabelli-Variation. Also schaut auch die Beethovenbüste zufrieden. (Wobei die ja taub ist und nur mit den Augen zuhört. Aber Beethoven hört mit den Augen mehr als unsereins mit den Ohren.)
Ketzerische Gedanken:
- Am allerbesten gefallen dem Konzertgänger trotzdem Grenadiers Bass-Soli.
- Anders als die überragenden Klaviersoli und die überragenden Bass-Soli ermüden die überragenden Schlagzeug-Soli ihn ein wenig, auch wenn Jeff Ballard sogar der allerüberragendste der drei Musiker sein könnte. Das liegt nicht an Ballard, sondern an den Möglichkeiten des Instrumenten-Ensembles – und mehr noch daran, dass dem Konzertgänger in dieser Besetzung generell auf Dauer einfach zu viel Schlagzeug ist. Geht ihm bei seinen CDs vom Keith Jarrett Trio nicht anders.
- Der rituelle Zwischenapplaus in den Stücken nach Solopassagen wäre in der Klassik vielleicht manchmal nachahmenswert, etwa nach einer Kadenz. Aber mitunter wird doch auch in Erzählungen, die sich gerade interessant in eine ganz neue Richtung umentwickeln, brutal reingeklatscht.
Nebenher ist das Ganze eine Art Record Release für die dieser Tage erscheinende CD mit dem überaus feinen Titel Seymour Reads the Constitution! Tatsächlich, Mehldau spricht von einer CD. Klassikhörer sind also nicht die einzigen Dinosaurier, die anno 2018 noch mit CDs umgehen!
Beim Abgang versucht Mehldau herrlich weltfremd durch eine blinde Tür in der Ecke rauszugehen, erst der Bassist weist ihm den richtigen Ausgang. Das Konzert dauert 120 pausenlose Minuten, die einem hörenderweise wie 30 vorkommen und im Rückhörblick wie 300. Und das ist laut Thomas Manns Zauberberg ein untrügliches Zeichen für erfüllte Zeit.
Nach den besagten zehn oder 15 Minuten fühlte es sich so an, als würden die Center-Speaker erst jetzt dazugeschaltet. Ich saß in der ersten Reihe, habe direkt vor einem gesessen und der Klang war von da an sehr, SEHR anders. 🙂
Ah, das mag die Erklärung sein. Ich saß im 2. Rang, weit entfernt.
Dem Kommentar von Herrn Riehl meine ich
Kann mich meinem Vor-Kommentator nur anschließen
War auch da (ohne classiccard, II. Rang). Stimme zu, dass der Klang nach einer Weile besser wurde, mit den tollen Bass-Soli, und den gefühlten 30 Minuten. Das Schlagzeug sehe ich ambivalent, hätte mir eher mehr gewünscht. Das hatte gestern eher begleitende Funktion; liegt wohl auch an Mehldaus Fokus auf Song-Material und ‚Gesanglichkeit‘, und weniger auf Rhythmik. Habe in letzter Zeit z.B. das Vijay Iyer Trio mit Marcus Gilmore (das war wirklich unglaublich gut) oder Jack deJohnette beim vorletzten JazzFest gehört, da spielt das Schlagzeug schon viel, viel mehr eine eigene, mindestens gleichberechtigte Rolle.
Ja, kann gut sein, dass in dem „zu viel Schlagzeug“, das ich empfand, auch etwas vom „zu wenig Schlagzeug“ in Ihrem Sinn enthalten war.
Und wieder eine dieser wunderbaren Besprechungen, die dem Nicht-Anwesend-Gewesenen das vergnügliche Gefühl bereiten, gegenwärtig gewesen zu sein, und ihn nachhaltig bedauern zu lassen, dass dem nicht so war …
Herzlichen Dank, lieber Herr Selge