Alles Müllerin oder was? Franz Schuberts Zyklus Die schöne M. ist ja in seiner Monomanie auch die Untergangsgeschichte eines Psychoten oder zumindest wahnwitzigen Solipsisten, ihrer partiellen Vervolksliedung zum Trotz. Die Tiroler Musicbanda Franui folklorisiert seit dreißig Jahren das Kunstvolle und verkunstet das Folkloristische. Also könnten sie genau die Richtigen für Schubert sein. Seit einem Franui-Stück vor einigen Jahren in den Sophiensälen habe ich übrigens das Thema von Schumanns Geistervariationen als ewigen Ohrwurm, zugegeben auch etwas gespenstisch, ja psychopathisch … Den psychotischen Zustand des Müllergesellen lässt die Franui-Verbühnung von Schuberts Liederzyklus an der Staatsoper Unter den Linden auch durchaus gelten. Allerdings hebt der Bariton Florian Boesch als gemeinsame Kernthese hervor, dass der durchdrehende Ichling der Schönen Müllerin sich am Ende keineswegs im lieben Bächlein ertränke (was ja irgendwie auch eine eigenartige Vorstellung ist), sondern liebeskummergeheilt und wiedervernunftet aus der ganzen Chose hervorgehe (was wiederum ein bissl ernüchternd positiv ist).
Diese These, die Boesch im Programmheft ausführlich an bestimmten Versen erläutert, überzeugt mich nicht. Zu definitiv erscheinen mir die Sprachbilder der letzten beiden Lieder. Aber das ist auch gar nicht der Punkt, warum das Musiktheater Die schöne Müllerin nur halb gelingt. (Genauer gesagt: aus meiner Sicht sogar nur viertel, aus Sicht meiner hinreißenden Begleiterin immerhin dreiviertel gelingt.) Selbstverständlich könnte man den Protagonisten auch gegen den Text leben lassen, warum denn nicht? Hauptsache, es funktioniert auf der Bühne.
Dass es auf der Bühne nicht richtig funktioniert, liegt kaum an Boesch, einem fabelhaften Liedsänger. Zwar ist er auch in der psychotischen Phase fern von den gesanglichen Borderline-Gängen eines Ian Bostridge, im Vergleich beinah gemütvoll. Warm und weich ist sein Bariton, lyrisch, auch mal blue oder von vergleichsweise gepflegtem Sarkasmus, aber jedenfalls sehr differenziert. Nur kommt diese Differenzierung in der immensen Nicht-Intimität des Großen Saals der Staatsoper schwer zur Geltung. Dasselbe gilt fürs Medium des Puppenspiels, das Boesch gemeinsam mit Nikolaus Habjan zwischenschaltet. Die Weite des Raums lässt keinen wirklichen Kontakt zwischen Puppe und Publikum entstehen. Dabei gibt es feine Ideen: etwa, wenn in der Phase des Ich-Zerfalls der Rumpf des Gesellen anderswo unterwegs ist als seine tragbaren Hände. Die sind nämlich an der Schönen M. zugange, die ebenfalls als Puppe auf der Bühne präsent ist – sogar in vollständiger Lebensgröße (während die Burschenpuppe nur ein Torso ist). Das nimmtder Geliebten viel von dem Phantasmagorischen, das sie in Schuberts Liederzyklus hat, wo alles im Sänger-Ich stattfindet. Da ist der einzige Gesprächspartner des Ichs bezeichnenderweise ein … Bach! Und vielleicht hätte es sogar nahegelegen, eher diesen Bach auf der Bühne zu materialisieren (und sei es durch Licht) als die Frau? Alle anderen Bühnenelemente wirken halbherzig: ein Totenschädel, der letztlich nicht berührt wird. Oder ein Gewehr, das Boesch einmal über die Bühne trägt, in Repräsentanz des verflixten Jägers, den die Müllerin liebt.
Vom „Puppenspiel“, das sehr reduziert bleibt, hätten vermutlich auch die paar anwesenden Kinder in der Premiere anderes erwartet. Und auch sonst möchte ich zu den Bühnenideen sagen: Hier wäre mehr mal mehr gewesen.
Das gilt in gewisser Weise auch für die Musik. Dabei ist der freie Umgang mit Schubert zunächst ein Plus. Die Motorik des eröffnenden Wanderlust-Schlagers übernimmt das Akkordeon, und Boesch setzt erst mit dem Vers ein: Das muss ein schlechter Müller sein. Was davor kommt, pfeift sein Kompagnon Habjan, der auch Kunstpfeifer ist, und zwar nicht im loriotschen Sinn. Sehr schön! (Wenn Habjan kurz darauf auch mitsingt, ist das allerdings schon eher Kunstsinger im loriotschen Sinn.) Die Musicbanda Franui spielt zehnköpfig und erschafft immer wieder produktive Turbulenzen, aus denen gelegentlich hypnotische Klang-Inseln entstehen, etwa im Miteinander von Hackbrett und Saxophon. Köstlich schrullige Dissonanzen sind da zu hören im Neugierigen („Ich frage keine Blume“), adäquat blaue Sounds im Morgengruß. Da scheinen tatsächlich die besungenen blauen Morgensterne auf der Bühne zu sein.
Die Klangwelt von Franui, die das Publikum durchaus polarisiert, finde ich ganz wunderbar, absolut schubertig. Aber wie mir das Verbühnungskonzept zu dünn bleibt, so hätte auch die Musik gern noch mehr schwellen und wachsen dürfen. Es gibt Elemente wie ein Erinnerungs-Medley der vorangegangenen Themen, aber gegen längere, freiere Instrumentalpassagen hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Es hätte der Atmosphäre gutgetan.
Unsympathisch ist das alles nicht, aber auch nicht recht befriedigend. Es wirkt auf mich nicht zu Ende gedacht, nicht fertig gearbeitet. Aber nun ist man eben auf Wanderschaft wie Wasser, Räder und die Steine selbst, so schwer sie sind: Zwei Aufführungen gibt es noch in der Berliner Staatsoper, dann geht es weiter in die Elbphilharmonie (noch so ein riesiger Raum), nach Graz, Bregenz, Gmunden und Wien.
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diese eindrückliche rezension trifft nachträglich – außer was die person des bariton betrifft- eine szenische darbietung durch Ch. Marthaler/A. Viebock in Wien vor jahren 1:1!!!! schade, dass ‚man‘ glaubt, Schubertlieder mit gerümpel(Viebock)oder puppen(H.) anreichern zu sollen. bariton und klavier, wofür sie geschrieben sind, „schaffen“ ganz alleine BILDER..
Ich wäre da nicht mal so apodiktisch oder puristisch. Wenn es mit „Gerümpel“ oder Puppen funktioniert, warum nicht? Es tut ja der Urfassung keinen Abbruch. Aber der Versuch müsste halt auf der Bühne beweisen, dass er funktioniert. (Häufig gehen diese Dinge schief, ja.)