Ein Konzept! Hach! Programm-Architektur! Nach zwei Biennale-Konzerten der veranstaltenden Berliner Philharmoniker mit viel Schönem, aber wenig Zusammenhang präsentieren Robin Ticciati und „sein“ Deutsches Symphonieorchester die Festival-Hauptfigur György Ligeti in einer ausgeklügelten Dramaturgie. Das ist umso erfreulicher, als Ticciatis programmatische Einfälle zwar oft höchst ambitioniert sind, aber es in der Praxisprobe dann manchmal klappert. Hier jedoch knackt’s: Haydn + Ligeti + Haydn + Ligeti + Ligeti + Haydn. (Nur ein Knall wird dann fehlen.)
Ob Haydns Hörer sich kurz vor 1800 bei der Vorstellung des Chaos wohl auf so unsicherem musikalischen Boden wähnten, wie man sich in den 1960er Jahren in den Ramifications nicht vor der Welt, sondern jenseits von allem empfunden haben mag? Eine verlockende Idee. Ticciati lässt jedenfalls den tonartverlorenen Auszug aus Haydns Schöpfung naht- und fuglos in Ligetis Stück für zwölf vierteltönig „verstimmte“ Streicher übergehen. Und während das Haydn-Chaos elektrisiert (Ticciati lässt den ersten Akkord schon im Gehen einschlagen, bevor er das Dirigentenpodest betreten hat), so scheinen Ligetis Streichergewebe auf kostbare Weise elektrisch. Sie gehen schließlich in die Winter-Einleitung aus Haydns Jahreszeiten über (nach dem Umweg eines seltsamen Dudel-Intermezzos vom Band, wie aus hoher Höhe – keine Ahnung, was das war). [Nachtrag: in den Kommentaren Aufklärung, siehe unten!]) Ein einziger Bogen, der nicht künstlich gehalten wird, sondern hier quasi natürlich entsteht. Und selbst das kurze Einstimmen des reduzierten Orchesters für Ligetis Hamburgisches Konzert von kurz vor 2000 erscheint noch wie ein Teil der konzeptuellen konzisen Ursuppe. Vier Naturhörner begleiten dann das Hauptnaturhorn, gespielt von Alec Frank-Gemmill: ein Fest der Obertöne und des nicht temperierten Klangs, Altersmeisterwerk von knapper schräger Schönheit.
Hier ist man dann auch mild gestimmt und versöhnt mit der Existenz des Menschen an sich. Denn das ruchlose Dreinhusten und Draufräuspern im zart-gefährlichen Musikgespinst zu Beginn des Konzerts war wieder mal von einer monströsen Art, dass ich mich schaudernd der Beschreibung des radioaktiven Weltraummonsters in Ian McEwans Zementgarten entsann:
Winzige lebentragende Sporen, die in Wolken durch Galaxien trieben, waren von den speziellen Strahlen einer sterbenden Sonne angestrahlt und zu einem riesigen Ungeheuer ausgebrütet worden, das Röntgenstrahlen ausschied und die reguläre Raumfahrt zwischen der Erde und dem Mars bedrohte. Es war die Aufgabe von Commander Hunt, dieses Biest nicht nur zu vernichten, sondern auch seine riesige Leiche zu beseitigen.
„Es für immer durch das All treiben zu lassen“, erklärte ein Wissenschaftler Hunt bei einer ihrer zahlreichen Lagebesprechungen, „würde nicht nur eine Kollisionsgefahr darstellen, sondern wer weiß, was andere kosmische Strahlen anrichten würden in seinem verfaulten Rumpf? Wer weiß, welche monströsen Mutationen dieser Kadaver noch gebiert?“
Ach, wo ist er, jener Commander Hunt, der die reguläre Hörraumfahrt rettet? Nun gut. Es mag dies von mir ein nutzloses Ceterum censeo sein. Man muss eben souverän drüberhören über die ewigen frechen Hörstörungen (oder von November bis Februar Konzertsäle meiden), aber dennoch, dennoch…
Der zweite Teil des Konzerts ist dann von solch luzider Robustheit, dass er aller Bedrohung entgeht. Hier dominieren Haydn und Ligeti als gewiefte Theatraliker. In der von Elgar Howarth zusammengestellten Suite aus der Oper Le Grand Macabre („Macabre Collage“) sind bereits die eröffnenden Hupen endlich mal von angemessener penetranter Lautstärke. Sonst klingen sie für meinen Geschmack manchmal allzu zaghaft. Auch sonst ist das alles herrlich ätzend-zersetzend, und dabei doch sinister schön! Diese Musik wäre übrigens eine angemessene Partnerin für Bernd Alois Zimmermanns Roi Ubu gewesen, den die Philharmoniker vor ein paar Tagen reichlich sinnlos mit dem wehseligen Bratschenkonzert von Bohuslav Martinů verbanden.
Allein die vorsorgliche Warnung des Orchesterdirektors vor einer wahnsinnig lauten Explosion vom Band erwies sich hier als überflüssig, denn die Explosion fand nicht statt. Irgendein nicht gedrückter Knopf anscheinend. Shit happens, oder eben genau nicht; was dann aber auch wieder zum ausbleibenden Weltuntergang in Ligetis Oper passt. Da wird ja Armageddon ständig angekündigt, aber schließlich im Suff verpennt. Wundervoll wird so die große Angst vor dem Ende überwunden (die Ligetis ebenfalls vor einer Woche zu hörendes Requiem so erschütternd zeichnet): nicht durch Hoffnung, sondern durch groteske Komik.
Als durchaus passend erweist sich, dass zum guten Schluss Haydns C-Dur-Sinfonie Hob. I:60 „Il Distratto“ von 1774 folgt. Ursprünglich eine Schauspielmusik. Das DSO spielt diese Musik für heutige Haydnverhältnisse mit fast gediegenem Klang; aber was anderswo historische Ansengung ist, wird hier eben durch den typischen Ticciati-Drive ersetzt. Das Gestische ist voll da, der ganze Witz. Und als hätte Haydn gewusst, dass zwei Jahrhunderte nach seinem Tod kein Programmheft und kein Konzertführer ohne diese scheußliche Vokabel vom „unbeschwerten/heiteren Kehraus“ auskommen wird (bezogen auf Haydnschlusssätze): Hier lässt der alte Fuchs nach dem vierten, sehr finalen Satz einfach einen weiteren langsamen Satz und dann noch ein Finale folgen, in dem überdies plötzlich nochmal die Instrumente gestimmt werden.
Gut gespielt, funktionieren die Haydn-Witze auch heute noch. (Einmal saß ich bei der „Sinfonie mit dem Paukenschlag“ neben einer älteren Dame, die bei besagtem Paukenschlag im Andante nicht nur einmal erschrak, sondern in der Wiederholung gleich nochmal.) Hier, im „Distratto“, wird erwartungsgemäß nach dem vierten von sechs Sätzen enthusiasmiert geklatscht: Applauspraecox, zu dem der ausgelassene Dirigent das Publikum auch deutlich verführt hat. Was ihm Gelegenheit gibt, sich umzudrehen und den Finger auf die Lippen zu legen – psst! Könnte gar am Ende Robin Ticciati der ersehnte Commander Hunt sein? Wir fühlen uns quasi getragen. Dieser ganze Abend ist schon ziemlich rundum gelungen.
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….ooch, das traf doch den Charakter des durchs Übereinanderschichten mehrerer Stücke entstehenden Klangbrei sehr gut…;-))
Das „Gedudel“ war eine Zuspielung aus den sogenannten „Flötenuhrstücken“ von Haydn. Wurde im Programmheft geflissentlich unterschlagen, warum auch immer….https://youtu.be/VnagUyoPvkw
Danke für die Aufklärung. Und Asche auf mein Haupt fürs „Gedudel“.