Virtuosität muss nicht nerven. Zwar raunen einige Hörer Wahnsinn, Unglaublich und was man sonst von sich gibt, um vorbegrifflichem Beeindrucktsein Ausdruck zu verleihen. Aber nie käme man bei Yefim Bronfman auf die Idee, dass pianistische Virtuosität ein Selbstzweck sein könnte. Auch bei Prokofjew nicht – wenn Bronfman ihn spielt.
Die frühen, bis 1917 entstandenen Sonaten eröffnen eine Reihe, in der Bronfman an drei Sonntagvormittagen alle neun Sonaten von Sergej Prokofjew in der Staatsoper im Schillertheater spielen wird. Dass man in ein und demselben Saal die Meistersinger von Nürnberg ebenso hören kann wie ein Klavierrecital, ist schon verblüffend. Die etwas stumpfe Akustik des Saals ist nicht rauschfördernd, leise Töne gelangen kaum ins Schweben, die prächtigste Klangwolke verzieht sich relativ rasch. Das hat aber auch sein Gutes: Die Ausstellung von bloßer Klangschönheit ist hier unmöglich. Natürlich spielt Bronfman schön, so wie er auch virtuos spielt, aber in erster Linie ist er der sachliche Fürsprecher einer hierzulande eher unbekannten Musik (erst die Sonaten 6 bis 8 sind einem breiteren Publikum vertraut); was im Lauf des Vormittags einen erstaunlichen Sog entwickelt. Man könnte diese Klaviermusik auch ganz anders spielen, sehr angeberisch. Hier lernt man ein „Respekt einflößendes Werk“ (Detlef Giese) kennen, vor dem man keinerlei Angst zu haben braucht.
Alle frühen Sonaten stehen in Moll (Vorrecht der Jugend, auch der Sohn des Konzertgängers mag Moll lieber als Dur). In der einsätzigen 1. Klaviersonate in f-Moll, der Prokofjew als 19jähriger bewusst das Siegel opus 1 gegeben hat, darf der Pianist sofort kräftig zulangen, aber bei Bronfman ist das Rollen und Grollen der Akkorde jederzeit transparent. Mit den darüber singenden Figuren klingt das Werk eher nach Schumann als Skrjabin.
Die folgenden Sonaten klingen weder nach Skrjabin noch nach Schumann, sondern nach Prokofjew. Die 2. Sonate d-Moll op. 14 präsentiert Dissonanzen, die für den zeitgenössischen Hörer frech und aggressiv gewirkt haben mögen, aber heute ganz zart klingen, schwebend hell, auf gläserne Weise spukhaft. Im Scherzo biegen die trocken hämmernden Toccataklänge, über denen die Spitzentöne den Hörer geradezu stechen, wie selbstverständlich in leichte und luftige Sphären ab. Überhaupt gibt es in dieser Sonate einige Metamorphosen in die Schwerelosigkeit und zurück: Das Thema des Andante verschwindet im leisen Klangnebel und taucht dann, immer massiver sich zusammenballend, wieder daraus hervor. Im Vivace gibt es wunderbare basslos schwebende und hüpfende Passagen.
Immer wieder überrascht das Leichte und Witzige dieser gewiss sauschwer zu spielenden Musik, deren Schwierigkeiten Bronfman nie ausstellt. Umwerfend, wie in der 3. Sonate a-Moll op. 28 motorische und lyrische Abschnitte erst abrupt zusammengeschnitten, dann ineinander überblendet werden. Ein weiterer Höhepunkt ist das Andante assai der 4. Sonate c-Moll op. 29, in der sich ein großer Bogen aus tiefster Tiefe, aus Dunkelheit und Stille aufbaut zu fast symphonischen Dimensionen. Im Finale mit der eigenartigen Satzbezeichnung Allegro con brio, ma non leggiero gibt es tausend Formen von Bewegung, Läufe, Sprünge, Pirouetten und Gesangslinien, die plötzlich davon hüpfen.
Lyrisch und motorisch auch die Zugaben von Schumann und Scarlatti. Das Publikum klatscht begeistert, auch stellvertretend für die, die dieses Konzert verschlafen haben. Wer da war, wird nicht nur wegen der familiären Atmosphäre an den Sonntagvormittagen am 20. Dezember (Sonaten 5-7) und 24. April (8+9) wiederkommen.
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