Auch ganz schön, mal ein Abend mit Beethoven-Streichquartetten ohne Spätwerk darunter. Stehen die nicht mittlerweile derart höher in der Publikumsgunst, fast als wäre alles davor nur Nebensache gewesen? Seltsamer Gang der Dinge, das enigmatischste ist zum populärsten geworden. Im allererstrangigen Beethoven-Zyklus des katalanischen Cuarteto Casals, der sich allmählich seinem Ende zuneigt, gibt es nun im Kammermusiksaal zwei sogenannte frühe Quartette und ein mittleres (sprich Rasumowsky), an dem natürlich gar nichts mittel ist. Und schon gar nicht neben, sondern alles haupt.
Auch Ludwig van Beethovens 8. Streichquartett e-Moll op. 59/2 (das am Ende des Konzerts erklingt) war manchen Zeitgenossen anno 1806 schon schräg genug. Kaum begreiflich für den anno 2019 Zerfließenden, dass manche Zeitgenossen das abschreckend, ja sogar wie das Flickwerk eines Wahnsinnigen vorkam. Als musikhistorischer Laie versucht man es sich damit zu erklären, dass die Damaligen vielleicht einfach nicht drauf gefasst waren, dass einem ein langsamer Satz der pläsierenden Gattung Streichquartett so tief ins Herz schießen kann wie diese Unendlichkeit des Molto adagio. Es trägt den Zusatz Si tratta questo pezzo con molto di sentimento, und genauso behandeln’s Los Casalsos: ein Traum an Zerbrechlichkeit und Schönheit und Gefühl. Das gilt zumal für Vera Martínez Mehners jederzeit atmenden, manchmal fast scheuen Geigenton. Jedes Verschmelzen der vier Stimmen in eine einzige aber ist ein aufwühlendes Ereignis.
Maß und Eleganz zeichnen das Spiel des Quartetts aus. Und im Presto-Finale klingt das Casalsquartett, wie man so sagt, musikantisch, ohne sich gehen zu lassen. Das ist gerade deshalb eine mitreißende Aufführung, die den immer wieder vorzüglichen Eindruck vom Cuarteto Casals bestätigt.
Der Kopfsatz von op. 59/2 zeigt, dass die Rasumowsky-Quartette die (noch) besseren Sinfonien sind. Zerstreuungswillige Hörer mussten vielleicht meinen, dass Beethoven sich hier doch wohl im Genre vertan habe. Im den Abend eröffnenden 1. Streichquartett F-Dur op. 18/1 führt die erste Geige dagegen noch oft durchs Geschehen, wie’s sich 1799 gehörte. Freilich nicht so hervorstrahlend wie etwa die Geige von Corina Belcea in dem nach ihr benannten Belcea Quartett. Denn beim Cuarteto Casals wechseln die beiden Geigen sich ab. Hier primariert Abel Tomàs Realp, vorsingend im Adagio affettuoso ed appassionato, vorwitzig in Scherzo und Finale, stets jedoch nobel und klangschön, während Martínez Mehner, Primaria in 59/2, doch den subtileren Ton hat. Im langsamen Satz sind die Pausen groß und in den plakativen Kontrasten die Fortissimi eher solche des drängenden Ausdrucks als der banalen Lautstärke. In den Kopfsatz ging es zuvor so geschmeidig, federnd, luftig hinein, dass einen die vergleichsweise Schroffheit der Durchführung fast erschreckt.
Überhaupt: Vergliche man dieses Stück nicht mit dem späteren, „sinfonischen“ Rasumowsky, sondern mit vorhergehenden Wiener Quartetten, spränge das Neuartige stärker ins Ohr. Die Mozart-Mannheimer Drehfigur, die das Thema des ersten Satzes bildet, wird ja nicht mit hamburg-mannheimer Rückversicherung verarbeitet, sondern auf der Suche nach neuen Ufern.
Zwischen den beiden Quartetten gibt es noch zwei attraktive Stücke, eine halbe Kuriosität und eine sehr interessante Neukomposition.
Ein weiteres F-Dur-Streichquartett Beethovens hat keine eigene Nummer, es ist nämlich die eigenhändige, erstaunlich streichfarbenreiche Transkription der 9. Klaviersonate E-Dur op. 14/1. Ein Herzensanliegen des casalsschen Beethoven-Zyklus ist aber die Kombination mit Werken lebender Komponisten, die Beethoven reflektieren. Aureliano Cattaneos Streichquartett „Neben“ gehört trotz des sich selbst etwas klein machenden Titels wohl zu den stärksten, die da bisher zu hören waren. Berstende Kratz-Akkorde treten auf (die man dann im Molto Adagio in 59/2 wiederspüren wird, ohne dass sie hier wörtlich zitiert wären), Zitter-Bibber-Glissandi, glasfibrige Seitenthematisierungen. Höchst reizvoll ist das zu hören, voller Klangdrang und Dialog – und ohne falsche Seichtigkeit, um es einem auf Klassikerhörenwollen gepolten Publikum scheinbar leicht zu machen. Wenn es jemandem wie Flickwerk eines Wahnsinnigen vorkäme, wäre ja auch was gewonnen.
Einziger Einwand: Man wünschte sich, Cattaneos Stück würde direkt ins e-Moll-Quartett rüberpulsieren statt, nach den beiden frühen Beethovens, bloß in die Konzertpause. Martínez Mehner plagt sich indes bei diesem Stück mit Riesenpapierstapeln, ein wüstes Geblätter, für das sie zwei Notenständer benötigt, während Abel Tomàs Realp gechillt vom Tablet spielt. Unter praktischen Aspekten ein klares Plädoyer für Digitalisierung auch im kammermusikalischen Raum.
Ganz unangemessen, ja indiskutabel ist das laute Lachen und Johlen der Philharmonie-Mitarbeiter außerhalb der Türen in der zweiten Konzerthälfte, das die Musiker zwischen den Sätzen verwundert sich umdrehen lässt.
Das Cuarteto Casals kommt am 9. Mai wieder nach Berlin, dann mit zwei Stücken aus opus 18 sowie dem ersten Rasumowsky-Quartett sowie einer (vermutlich gefälligeren) Neukomposition von Giovanni Sollima.