Jeder Mensch ist ein Abgrund, auch Marek Janowski hat eine dunkle Seite: Als stilvolle Alternative zum Eurovision Song Contest bietet der unbestrittene Berliner Meister des klassisch-romantischen Repertoires zwei Stunden reines Operettenglück von Johann Strauß jr. und Franz Lehár. Eine schmerzliche Bildungslücke des Konzertgängers, Lehár kennt er vorwiegend von den sarkastischen Lehár-Karikaturen in Bartóks Konzert für Orchester und Schostakowitschs Leningrad-Symphonie. Also mit der ganzen Familie auf in die Philharmonie!
Dort sind keineswegs nur alte Damen, sondern auch jede Menge Kinder unterwegs, und es zeigt sich, dass auch auf sie der alte Operettenglanz eine strahlende Wirkung ausübt. Da seufzen alle Erwachsenen, flüstert der Konzertgänger seiner fünfjährigen Tochter zu, nachdem Paganini und Elisa geschmachtet haben: Niemand liebt dich so wie ich, bin auf der Welt ja nur für dich! – Die Kinder seufzen auch, seufzt die Tochter. Sie ist schon für dieses Konzert gewonnen, als die stimmgewaltige Alexandra Reinprecht zum ersten Mal die Garderobe wechselt, vom laubfarbenen Rüschentraum für Vilja, das Waldmägdelein zum dunkelroten Kleid für Liebe, du Himmel auf Erden, ewig besteh‘! Mit dem hyperlasziven Meine Lippen, sie küssen so heiß stürzt Reinprecht später alle Hörer über 18 in schwüle Träume…
Ihr männlicher Partner Nikolai Schukoff, der kurzfristig Peter Sonn ersetzt, erweist sich als Glücksgriff, perfekt gibt er den dreiviertelseidenen Operettentenor. Unnachahmlich sein durch und durch unseriöses Fisteln beim …küss sie nur, dazu sind sie ja hier! So dubios kriegt das ein Jonas Kaufmann garantiert nicht hin. Wenn Reinprecht und Schukoff einige Walzerschritte machen oder einen erlösenden Kuss andeuten, bebt das Publikum von 4 bis 99 Jahren.
Zwischen den Léhar-Ausschnitten gibt es die Ouvertüren zum Zigeunerbaron, Waldmeister und der Nacht in Venedig, und man hört schon, dass Strauss streng musikalisch betrachtet eine Stufe höher steht als Lehár. Das Rundfunk-Sinfonieorchester leuchtet. Aber die Mischung macht’s, und wer kann schon der Glöckchenbalalaika in Es steht ein Soldat am Wolgastrand aus dem Zarewitsch widerstehen? Und bei Dein ist mein ganzes Herz sollte man auch nicht nur an Heinz Rudolf Kunze denken!
Janowski weiß, was sich gehört, bei der Tritsch-Tratsch-Polka als Zugabe gestattet er offiziell das Mitklatschen, fordert sogar mehr Dampf vom Publikum. So manche Dame, auch die Frau des Konzertgängers, hat das eine oder andere Tränchen verdrückt, aber alle sind sich einig: Bei jedem Walzerschritt / Tanzt auch die Seele mit!
Und zum Vergleich: Fritz Wunderlich singt Dein ist mein ganzes Herz von Franz Lehár
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