Zeitlosreich: Shai Wosner spielt Schubert

Der sich da in Reihe 4 so verrenkt, ist der Konzertgänger, welcher sich in den Hintern zu beißen versucht, dass er den ersten Auftritt von Shai Wosner beim Klavierfestival im Konzerthaus verpasst hat. Aber diesmal, immerhin, ist er dabei: wieder drei Schubertsonaten, und zwar die letzten. Sanktes Terrain also (darum Sterbehaus zur Linken!). Und nicht nur, weil Shai Wosner – wie Isabel Herzfeld anlässlich des ersten Konzerts anmerkte – dem Komponisten derart ähnelt, sondern auch weil er am Klavier eine körperliche Präsenz hat wie loderndes Schubertfeuer, will der Konzertgänger seine Augen partout nicht schließen. Aber dann zwingt ihn Wosners packendes Klavierspiel doch, keinen Deut Aufmerksamkeit mit Gucken zu verschwenden.

Dass das Klavierfestival neuerdings großteils am Bösendorfer-Flügel stattfindet, erweist sich als gute Entscheidung – auch wenn Schubert vielleicht von der ungeheuren Wucht, zu der dieses Instrument fähig ist, noch mehr erschaudert wäre, als er ohnehin dauernd erschauderte. Der Bösendorfer ist im besten Sinn unausgeglichen. Höhen und Tiefen sind nicht einfach hoch und tief, mit ein paar sich wandelnden Farbnuancen, sondern scheinen glatt aus verschiedenen Welten zu stammen, aus verschiedenen Seinssphären. Wenn im ersten Satz der c-Moll-Sonate D 958 die Sechzehntel pp und leggiermente aus dreigestrichner Des-Region herabquirlen, wirkt das wie der Flug aus transzendenten Nebeln heim zum Thema. Die Tiefen gleichen einem bedrohlich wühlenden Tier. In der Mitte aber, etwa im Moment-musicaux-haften Adagio von D 958, scheint jeder Ton von einer schillernden Corona umgeben.

Beängstigend aber auch das krass Geräuschhafte, zu der das Instrument unter Wosners Händen fähig ist, etwa in dieser Apokalypse im Mittelteil des Andantinos der A-Dur-Sonate D 959. Das berühmte todtraurige, trostlose Thema der Rahmenteile spielt Wosner fast beiläufig pendelnd. Und wie er so ein beiläufiges Pendeln mit höchster Anspannung verbindet, zeichnet sein ganzes Spiel aus, ist vielleicht sein Geheimnis. Auch das Finale der c-Moll-Sonate D 958 zuvor ist von einer makellosen Gehetztheit, die auf dienende Weise virtuos scheint, ohne jedes Getue. Man kann sich so einen Schubertsatz gar nicht besser vorstellen: immer einfach, alles von innen kommend, und tief berührend.

Und schließlich D 960! Aus der unerschöpflichen allerletzten B-Dur-Sonate lässt Wosner etwas Vermächtnis-Luft ab, indem er das Moderato nicht zu moderat nimmt, den ersten tiefen Triller au point, die Albertibässe wie ein elektrisches Feld. In der von Alfred Brendel so gescholtenen Überleitung zur Wiederholung der Exposition gibt er den ffz-Triller und die Pausenfermate dann aber in aller gebotenen Exzessivität. Im Andante sostenuto lässt er sich zunächst jede Zeit der Welt, so dass man den Mittelteil tatsächlich wie eine Erlösung erfährt, oder zumindest wie die unsägliche Hoffnung auf Erlösung. Das Finale ist voll von sprudelndem Witz, das immer-wieder-auf-den-Knopf-drücken, das repetitive Reinklimpern mit langem Zeigefinger – und nicht nur aller Witz ist da, sondern wahrhaftig alle Wunder dieses tausendgesichtigen Finalsatzes.

Von dicken Romanen und epischer Fülle an menschlicher Erfahrung spricht Shai Wosner bei Schubert: Trotz der dunklen Ader in Schuberts letzten Stücken ist erstaunlicherweise das übergeordnete Gefühl der Musik nicht bedrückend, sondern erhebend. Allen Ausbrüchen von Melancholie, Angst oder sogar heftigen Schmerzen folgen fast immer kostbare Momente des Trostes … Und: Der Pianist habe eine spezielle Art von Zeitlosigkeit zu vermitteln. Diesen ganzen Reichtum erlebt der Hörer tatsächlich bei Shai Wosner. Ein großer Schubertpianist.

Das herrliche Klavierfestival findet seinen Abschluss mit einem Nachschlag in zehn Tagen, am 5. Juni spielt die noch recht unbekannte junge Pianistin Zlata Chochieva.

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