Zackig: Andris Nelsons und Daniil Trifonov bei den Berliner Philharmonikern

Vera Skrjabina 1907

Die älteren Abonnenten werden sich erinnern: Zum letzten Mal wurde Alexander Skrjabins Klavierkonzert fis-Moll im Oktober 1910 bei den Berliner Philharmonikern gespielt, von Skrjabins verlassener Ehefrau Vera in der alten Philharmonie an der Bernburger Straße. Statistisch gesehen also ein Jahrhundertereignis, wenn der scheidende Artist in Residence Daniil Trifonov es jetzt wieder spielt. Beim letzten Mal dirigierte Wassili Safonow, der ist schon länger indisponiert, am Pult darum diesmal Andris Nelsons.

Skrjabins Konzert, ein Frühwerk des Komponisten von 1896 vor dem genialen Auf- und Durchdrehen Richtung Mysterium, ist ein schönes, melodisches, lyrisches Werk. Es trumpft kaum auf wie die großen Herzensklopper von Tschaimaninow und Rachkowsky in manchen Passagen, ist eher chopinesk angelegt. Bei dieser Aufführung in der Philharmonie macht es aber doch etwas ratlos.

Vera Skrjabina & Ehemann 1898

Das liegt nicht unbedingt an Trifonov, der nicht den Wuchtmüller gibt, sondern sich zurücknimmt und bescheidet. Vielleicht ist sein Spiel etwas zu neblig. Schwieriger ist aber, dass das musizierende Miteinander von Dirigent und Pianist keineswegs ideal scheint. Das von Nelsons geleitete Orchester ist öfter einfach zu laut. Sogar schon in den leisen Passagen des ersten Satzes tut das Klavier sich unter einem recht dicken Streicherteppich schwer. Der zweite Satz von Skrjabins Klavierkonzert ist an sich berückend schön. Aber erst wenns zwischendurch mal kurz losdonnern und -pfeifen darf, wirken Pianist und Dirigent fast erleichtert, dass sie aufdrehen können, dann scheints aus einem Guss. Doch das Wichtigste vermisst man, das Poetische, das scheinbar Einfache.

Gewinnt diese Aufführung den, ders noch gehört hat, für dieses Werk? Hm. Hier mal ein Mitschnitt von einer sehr gewinnenden Interpretation:

Hier zudem eine hörenswerte Aufnahme mit Margarita Fyodorova aus den späten 1980ern, auf den die Historikerin Hedwig Richter bei Twitter aufmerksam machte:

In der entfesselten Energie der Zugabe an diesem zweiten Abend (Freitag), wohl einer Skrjabin-Etüde, kommen Trifonovs Qualitäten dann allerdings umwerfend zur Geltung. Das Publikum ist außer Rändchen und Bändchen.

Voll in seinem Element scheint Andris Nelsons seinerseits bei Dmitri Schostakowitschs 11. Sinfonie g-Moll, deren Programm sich auf den „Petersburger Blutsonntag“ bezieht, der fünf Jahre vor Vera Skrjabinas Auftritt bei den Berliner Philharmonikern stattfand. Bei Schostakowitsch mit einem guten Orchester geht aber ja eigentlich nie was schief.

Da hätten sogar Eisenstein die Haare zu Berge gestanden.

Das Werk selbst, uraufgeführt 1957, ist für den Konzertgänger allerdings schwer erträglich. Von der Dichte der musikalischen Ereignisse fühlt er sich, nun ja, nicht gerade überrollt. Aber das ist ja auch die Idee. Immerhin hats in diesem quälend langen, fast komatösen vorrevolutionären Stillstand Zeit für frugal-schön singende Flötensoli und dergleichen. Das nach langer Zeit dreinfahrende Niederkartätsch-Kommando (und natürlich kommt einem da die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 in den Sinn) wird säuberlichst exekutiert. Schade, dass es keinen Eisenstein-Film zu dieser Sinfonie gibt, Eisenstein war Mitte der 50er ja auch schon seit einigen Jahren indisponiert. Ellenlanges in memoriam (feines Englischhornsolo von Wollenweber) und revolutionäres Sturmbimbamdonnern am ellenlangen Schluss. Da juckts einen doch, sowjetparteitagsmäßig aufzuspringen und strammzustehen.

Ist es die eigene Unfähigkeit, am ganzen Propaganda-Bombast vorbei in Tiefe und Abgründe hineinzuhören? Bei anderen Schostakowitsch-Sinfonien gelingt das leichter. Hier immer wieder im Lauf der 60 oder 70 Minuten diese, selbstverständlich ganz unpassende, Vorstellung, das hier sei die Nationalhymne von Nordkorea und wer da einschläft in all dem Stillstand und Gedröhn, den lässt der Große Führer Kim zackig mit einer Haubitze erschießen. Gewaltiger Jubel des Publikums in der Philharmonie, vielleicht auch aus Selbstschutz.

Weitere Kritiken: „Der Lärm der Gegenwart“ (S. Krieger), „Eiskalt im Zwiespalt“ (U. Amling). Den Samstag hat sich Schlatz per Digital Concert Hall bekiekt.

Nochmal am Samstag.

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9 Gedanken zu „Zackig: Andris Nelsons und Daniil Trifonov bei den Berliner Philharmonikern

  1. Guten Tag!
    Auch ich bin beim Skrjabin ganz bei Ihnen.
    Aber auch ich kann Ihnen im Hinblick auf die 11. nicht zustimmen und finde ehrlich gesagt auch Ihren Satz „Das Werk selbst, uraufgeführt 1957, ist für den Konzertgänger allerdings schwer erträglich.“ irgendwie etwas anmaßend, denn wenn Sie das Stück schwer erträglich finden, ist das völlig ok, wenn Sie das aber auf das Publikum projizieren, eher nicht.
    Sie sprechen von Nordkorea und Brimborium und so weiter. Aber: Dieses „Unsterbliche Opfer“ im 3. Satz – würde das in Nordkorea nicht mit großem Pomp und verordnetem Weinen zelebriert werden? Bei Schostakowitsch wird es mit diesen seltsamen Pizzicati begleitet, deren Seufzermotiv immer wieder quer zur Harmonie steht. Für mich ist das ein deutlicher Bruch. Und zum Glockenschluss: „Das ist doch keine Apotheose“ (ich weiß, bezieht sich auf 5. und ist vielleicht nicht authentisch, passt hier aber doch). Dieses Alternieren von großer und kleiner Terz in den Glocken verweist zurück auf die Massackerfuge aus dem 2. Satz und wird damit mit einer Bedeutung aufgeladen, die erstens nur der kundige zu entschlüsseln weiß und zweitens eben auch nicht das ist, was wohl von Schostakowitsch eigentlich erwartet wurde und was man auch heute in Nordkorea erwarten würde.
    Für mich jedenfalls war es nicht schwer zu verdauen – ich habs mir am Samstag gleich noch einmal angehört. Und dass der Herr vor mir sich wie ich beim Applaus die Tränen aus dem Gesicht wischen musste, spricht meines Erachtens gegen Selbstschutz… Ich stimme meinem Vorredner auch zu, dass der Moment des Verhalles der Glocken eine großartige Erfahrung war. Übrigens war der Schluss des Skrjabin-Konzerts ja genauso gemacht, der Klavierakkord hallt bei aufgehobener Dämpfung nach! Leider hat am Samstag irgendein Mensch die Spannung nicht so lang aushalten wollen wie alle anderen am Freitag und irgendwann einfach „Bravo“ geschrien. Naja, immerhin gabs Samstag kein Handyklingeln (auch wenn es am Freitag immerhin tonartlich passte)….

    • Ich möchte anmerken, dass der Konzertgänger meine Lothar-Matthäus-Art ist, ich zu sagen – siehe Name des Blogs. Und ich räume ja auch ausdrücklich ein: Ist es die eigene Unfähigkeit, am ganzen Propaganda-Bombast vorbei in Tiefe und Abgründe hineinzuhören?
      Danke ansonsten für die kompetenten Hinweise! Ja, das Handyklingeln am Freitag war ein Ereignis der besonderen Art. Normalerweise stellt der Besitzer es ja zumindest nach einer Weile aus. Hier war es die dritte Verkling-Erfahrung neben dem Klavier und den Glocken.

  2. Die Elfte…
    Man sieht es auch an den wohlmeinenden Besprechungen: das Verhältnis zwischen Programm und Musik steht dem einen beim Verständnis im Weg, dem anderen bahnt es ihn.
    Sanderling meinte vor ein paar Wochen nach DSCH 10 im Konzerthaus, das Wissen um die Umstände und Inhalte sei absolut unverzichtbar, und wenn man die Werke erarbeitet mag das so sein. Aber zum Schutz für die Hörer tendiere ich zur Forderung, Einführungen zur 11. schlichtweg zu untersagen. 2015, als das RSB unter V. Petrenko brachte, klang der einführende Vortrag zB. fast nach einer Rechtfertigung es überhaupt zu spielen.
    Da muss man dem Publikum die Klötze erst einmal in den Weg legen, um es dann an ihnen vorbei zu führen. Man kann die 4. hören ohne „Mzenzk“-Skandal, die 7. ohne zu entscheiden wem der Invasionsbolero gilt, die 10. ohne „Portrait von Stalin“ und ganz sicher die 11. ohne Kavallerieattacke im Kopf. Wüsste man über Schostakowitsch soviel wie über Thomas Pynchon – er wäre trotzdem einer der erfolgreichsten und meistgespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Weil er verdammt gut ist.

    Ich seh das ein bisschen auch bei Heiner Müller, der ein Autor in einer sozialistischen Gesellschaft war, aber doch Autor zuerst. Sowohl Hamletmaschine als auch 11. stehen mE sehr gut da, können auch ohne ihre Geburtshelfer (und sei es der Ungarnaufstand bei beiden, man nehme es wie man will) eigenständig atmen und gehen. Wäre es anders, dann werden das Museumsstücke und Kuriositäten. Aber beide, Müller wie Schostakowitsch, wussten mehr und hatten mehr zu sagen als Historie zu (de)chiffrieren. Da ist Mensch im Werk.

    Für mich ist die 11. ein wirklich tolles Erlebnis im Konzertsaal.
    Der Absturz https://ibb.co/gWw2sGF im 2. Satz zB. haut mich um; die Stelle hab ich schon als Beispiel genutzt, um klassikfernere Leute anzuregen und ein bisschen für die dynamischen Möglichkeiten, die diese Musik wie keine andere bietet, zu sensibilisieren. Auch wie der letzte Glockenklang sich im Saal verliert… das sind schon tolle live-Momente. Dieses frostig-heroinartige im ersten Satz (eine Stimmung, die er in den Quartetten regelmässig schafft, symphonisch doch selten so wie hier), die extremen Kontraste im 2., dann die Gestaltung Nelsons in den beiden Schlusssätzen (den Dritten hab ich so nie gehört, da werde ich noch lange drüber nachdenken).
    Das war schon eine tolle Werbung für diese Musik.

    • Möchte Ihre Forderung modifizieren: Die nächste Einführung von Ihnen. Danke!
      Die frostig-heroinartigen Stimmungen (sehr schön!) finde ich in den Quartetten viel eindrucksvoller als in einer Sinfonie, wahrscheinlich auch, weil eine wirklich einzelne Stimme einfach krasser klingt als ein einstimmiger Streicherapparat.

  3. Trifonow spielt wie der Teufel, aber so ganz überzeugend fand ich die Interpretation nicht, auch nicht bei den Philharmonikern. Ich teile Ihren Eindruck. Aber das Urteil ist noch weich und ist noch am Aushärten.
    Sch. gefiel mir wider Erwarten gut. Dabei fand ich die ganz ähnliche 12. mit Dudamel vor rund 10 Jahren so schlimm wie Sie die 11. nun.
    Leider hatte ich Probleme mit der Hall und hab die erste Hälfte von Skrijabin verpasst.

  4. Bei Skrjabin bin ich ganz bei Ihnen. Der Klavierpart hatte es in der Tat schwer, „gegen“ das Orchester zum Hörer durchzudringen.
    Die Darbietung der Schostakowitsch-Symphonie hat mich hingegen überaus begeistert, insbesondere wie es Nelsons mit dem Orchester gelungen ist, über das ganze Werk eine eindringliche Spannung aufzubauen und zu halten.

  5. Auf Ihren Bericht habe ich gewartet. Das hört sich ja alles andere als begeistert an. Wirklich, hat Trifonow mit seinem genauen Anschlag Mühe, durch das Orchester zu kommen? Hmm.
    Auf das Skrijabinkonzert freue ich mich aber schon ein Jahr.
    Ich höre heute Abend, allerdings, muss ich zu meiner Schande gestehen, in der Concert Hall, hauptsächlich weil es so schön bequem ist. Vorteil in der Concert Hall: Da hört man Trifonow dann wahrscheinlich perfekt (d.h. künstlich) ausgepegelt.

    • Weiß nicht, ob „Mühe durchzukommen“ es trifft, natürlich hätte Trifonov das gekonnt, aber um welchen musikalischen Preis? Das Orchester war einfach zu dick für den lyrischen Charakter des Konzerts, fand ich. Wo stärker die Post abging, hats schon gepasst.

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