Wohlkandidelt: Kirill Petrenko inauguriert mit Alban Berg und Beethovens Neunter

Ausnahmezustand? Nun ja, die alte Nachbarin des Konzertgängers und der Späti-Verkäufer am Eck wirken tiefenrelaxt wie immer. Aber das philharmoniker-affine Berlin freut sich, dass Kirill Petrenko inauguriert. Während der Wartezeit auf den neuen Chef der Berliner Philharmoniker wirkte die Stimmung ja teilweise überkandidelt, auch dieses Blog hier kandidelte hoch. Aber fürs offizielle Antrittskonzert hat Petrenko dennoch ein ganz besonderes Werk ausgesucht, etwas Ewiges gleichsam.

Sie wissen natürlich längst, wovon die Rede ist. Richtig: Alban Bergs Lulu-Suite.

Die ist mehr als ein Opern-Exzerpt, eher eine ausgewachsene Sinfonie, und darum heißt sie, uraufgeführt 1934 an der Lindenoper unter Kleiber senior, offiziell Symphonische Stücke aus der Oper „Lulu“. Ihr Herz ist trotz aller Orchesterfarben- und Konstruktions- und Variationskunst das Lied der Lulu, der dritte von fünf Sätzen – erst recht, wenn eine Sängerin wie die Sopranistin Marlis Petersen es vorträgt. Jung und geradezu unschuldig (wie Lulu-Pandora es ja vielleicht auch ist) klingt sie, und Petersens Stimmakrobatik wirkt, als wär das die leichteste Partie der Welt, in der alles ganz natürlich liegt und fließt. Präzis kandideltes Intervall-Zickzackspringen, vokale ligne claire, bei aller Deutlichkeit, ja Schärfe ausnehmend schön anzuhören:

Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben / so setzt das meinen Wert nicht herab.

Wenn man will, kann man im Übertritt vom Orchesterklang in die menschliche Stimme einen Bezug zu Beethovens Neunter sehen, die es ja an diesem Abend auch noch geben soll. Aber näher liegt ein anderer Komponist. Mehr Mahlerei als Ausdruck der dodekaphonen Erfindung ist diese Lulu-Stücksinfonie. Und Petrenko führt weniger ihre Struktur vor (aber wer täte das auch bei Berg?) als ihren emotionalen Hochdruck, ihr Pathos, ihr oszillierendes Schillern und Schullern. Kitsch, Witz und Abgrund, und in den hymnischen Momenten großes gemeinsames Atmen des ganzen Orchesters. Im fünften Satz aber springt einen das nackte Grauen an, beim Todesakkord lässt man alle Hoffnung fahren.

Weitere Bezüge: Ein Gruß an Claudio Abbado, der die Lulu-Suite noch 2011 hier dirigierte. Interessanterweise aber nur die Sätze 2 bis 5, ohne den ersten, dieses vom Himmel herabsinkende wohlig-süße Zwölfton-Shishi des verliebten Alwa. Das ist aber doch ein schöner Anlauf für den finalen Sturz in die Hölle.

In Beethovens 9. Sinfonie, die es dann ja wie gesagt auch noch gibt, hört man das Adagio molto e cantabile mit höchster Erleichterung wie kaum je. Welch warmer Streicherklang, welch fast schon utopisch anmutende Synthese der Orchestergruppen. Ja, man ist geradezu dankbar dafür nach der brillanten, aber auch einigermaßen erschlagenden Harschheit der ersten beiden Sätze. Jedenfalls ist das hier keine gemütliche Beethoven-Verhätschelung, und wer Petrenko vor Wochen über seine Auswahl der Neunten zum Antritt sprechen hörte, der spürte schon, dass das alles andere als eine hohle Geste ist; weil man die Neunte halt nähme zu solchen Anlässen. Von wegen!

Der erste Satz ein Riesendonnerwetter, Tempo à helter-skelter, Petrenko dirigiert in der Durchführung mit linken Haken aus der Nahdistanz aufs Hörergemüt. Ja, ist das denn die Schlacht von Vittoria hier? Die Lieblichkeiten des Holzes wirken da um so hoffnungsvoller. Geradezu artilleriehaft auch das Scherzo, der Scharfschütze sitzt dabei ausgerechnet an der Kanone, nämlich der Paukist. Der Konzertgänger fühlt sich schon etwas verprügelt und zerschossen. Ist das wirklich der Beethoven-Weisheit letzter Schluss? Andererseits, muss es ja auch nicht. Jedenfalls keine laue Sache. Auch das Trio eher spritzig als fließend, bei perfekter Ausführung freilich samt und sonders; und wie hyperbeweglich solche Hörner doch sein können, wenn’s philharmonische sind.

Alle Menschen werden Schwestern!

Schließlich Beethovens überkandideltes Finale, das mit der Pforte zur Hölle beginnt, so dass man gleich an Bergs zuvor gehörten Todesakkord denkt. Welch prononcierte Kontrabässe dann. Etwas sehr Deutsches ist es ja schon, wie einem alsbald die tiefe männliche Stimme ins Gesicht bellt: „Freude!“ Gemeinsam klingt das Solistenquartett dann schön austariert. Auch hier aber überleuchtet Marlis Petersen ihre Partner Kwangchul Youn (Bass), Benjamin Bruns (Tenor) und Elisabeth Kulman (Mezzosopran) bei weitem; nur eben ohne sie zu übertönen. Der von Gijs Leenaars einstudierte Rundfunkchor erfüllt alle Erwartungen, die man an ihn wie selbstverständlich hat, und das sind die höchsten. Unvorstellbar, dass diese Sänger sich heimlich Erleichterungen schüfen, wie die Choristen es 1824 angeblich taten, weil der Komponist es ja ohnehin nicht hören würde. Die Verbindung von Textklarheit und warmer Sinnlichkeit ist was Enormes. Und wie sich im Seid umschlungen Millionen männliche und weibliche Stimmen verschlingen, das ist dann doch der Höhepunkt dieser Aufführung. Alle Menschen werden Schwestern, no doubt.

Berlin bizarr beim Hinausströmen aus der Philharmonie schließlich:

♀: Der  wird übrigens jetzt der neue Chefdirigent.

♂: Ah, okay. Woher haben sie den abgeworben, weißt du das?

♀: Der kommt irgendwo … Ecke Mongolei her.

Wie gesagt, Ausnahmezustand. Berlin hurra indes draußen: Sogar am Haupteingang gibts jetzt Fahrradständer!

Die Neunte gibts Samstagabend nochmal am Brandenburger Tor. Das bekommen dann auch Konzertgängers Nachbarin und sein Späti-Verkäufer mit, jede Wette. Unterkandideln will man ja nun auch nicht mit dem Neuen! Ohne Lulu-Suite dann; das wär allerdings auch was Hübsches gewesen dort. Aber die ersten Klänge, die Petrenko als Chef dirigiert hat, das sind dennoch Alwas Zwölfton-Shishi-Wohligkeiten gewesen. Und das ist doch gerade richtig kandidelt. Möge man bald aufhören mit Messias, Triumph usw und einfach zuhören.

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2 Gedanken zu „Wohlkandidelt: Kirill Petrenko inauguriert mit Alban Berg und Beethovens Neunter

  1. Na ja,
    nach Ihrer und den anderen Kritiken, werde ich mir heute Abend das Konzert am Brandenburger Tor antun, obwohl ich mir mal geschworen habe, die nächsten 10 Jahre keine 9. mehr zu hören.
    Schade, das die Lulu nicht dabei ist..

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