Zu den vergleichsweise goldenen Bedingungen, die unser Land großen Kunsttalenten bietet, gehört das über 60 Jahre alte Konzertformat Debüt im Deutschlandfunk Kultur, das anfangs RIAS stellt vor hieß und bei der sich einst die jungen Jacqueline du Pré und Daniel Barenboim oder Jessye Norman vorstellten. Um so wertvoller in diesen bleiernen Viruszeiten! Die außergewöhnliche Lage wirft ihre Schatten wild herum: Das ursprünglich vorgesehene Simply Quartet konnte nicht aus dem Risikogebiet Wien ins Risikogebiet Berlin reisen, und so bietet das junge Leipziger Gyldfeldt Quartett hochwertigen Ersatz. Auf dem Programm stehen zwei ziemlich bekannte sowie ein fast völlig unbekanntes Werk.
Das 2016 gegründete Gyldfeldt Quartett hat auch Quartette von Alfred Schnittke oder Hans Zender auf dem Kasten, und so bedauert man fast ein wenig, dass hier zunächst Schubert und Beethoven zu hören sind. Zumal da die Vergleichslatten immer so gewaltig hoch liegen für ein Ensemble, das noch ganz am Anfang seines Weges steht. Aber die Gyldfeldts haben hörbar gute Wegbegleiter, unter anderem ihren Förderer Frank Reinecke, zweiter Geiger des Vogler Quartetts (von dessen hoher Beethoven-Expertise man sich regelmäßig im Konzerthaus am Gendarmenmarkt überzeugen kann). Und so gelingt Ludwig fan Beethofens Streichquartett F-Dur opus 18/1 fachkundig, fröhlich, frisch, wenn auch (noch) nicht föllig frei. Zuvor überzeugt auch Franz Schuberts Quartettsatz c-Moll D 703 – ebenfalls ein Stück, das ein Quartett lebenslang begleiten kann. Ist das in seiner einsätzigen Komprimiertheit nicht sogar schwieriger als die „großen“ Quartette, die Schubert danach schrieb?
Reizvolle Äußerlichkeit, dass im Gyldfeldt Quartett zwei Männer die hohen Instrumente spielen und zwei Frauen die tiefen. Außer der Cellistin alle im Stehen. Die beiden Frauen (die übrigens das gleiche – schöne – Kleid tragen) geben im zweiten Satz des Werks, dessentwegen ich vor allem gekommen bin, den Ton vor: singendes, irgendwie „nordisches“ Sehnen im Un poco adagio des Streichquartetts f-Moll, das der dänische Komponist Carl Nielsen 1890 im Alter von 25 Jahren schrieb, lange vor seinen singulären Sinfonien.
Dieses Quartett mag ein bisschen brahmsnachfolgerig sein, wie es für einen jungen Komponisten damals wohl nahelag. Aber das Gyldfeldt Quartett stürzt sich mutig hinein und auf eben das, was einem schon als echt nielsensche Originalität erscheint: wilder Reichtum, Witz und Bizarrerie. Vor allem der erste Satz wimmelt von aufregenden Disparatheiten, einer überbordenden Fülle, die durchaus Chaosgefahr birgt. Hier ziehen die beiden Geiger August Gyldfeldt Magnusson und Jonas Reinhold immer wieder voran. Hochnervöses, zuckungsreiches Wechselspiel, das ein sehr vifes Ensemble erfordert. Und hat.
Lustig gerade in diesen Zeiten, dass Nielsen das Thema zu diesem Satz „in einer überfüllten Straßenbahn in Kopenhagen“ eingefallen sei. Der erregte Hörer kann sich im hygienebedingt gähnend leeren Kammermusiksaal fühlen wie mit Puls 180 unter dichtgedrängten Maskenmuffeln in einer Tram während des nicht unproblematisch terminierten neusten Verdi-Streiks.
Die gewaltige Energie des ersten Satzes trägt durchs ganze Werk, selbst wenn Nielsens Finale im Vergleich dann eher wie konventionelles „orchestrales“ Gefiedel wirkt.
Hier eine Aufnahme des ersten Satzes von vor einigen Monaten:
Ein Gedanke zu „Wildreich: Gyldfeldt Quartett debütiert mit Nielsen“