Weiblichwa(a)gend: Kleine Bilanz des Ultraschall-Festivals

Drei beeindruckende Frauen prägen den Abschluss dieses Festivals: Simone Young dirigiert das Deutsche Symphonie-Orchester, die Solistin Séverine Ballon spielt das betörend schöne, auf ganz eigene Weise kommunikative Cellokonzert Guardian der Komponistin Chaya Czernowin. In doppeltem Sinn traumhafte Musik, über die Czernowin selbst schreibt: Manchmal wächst der Celloklang, bis er das Orchester in sich aufzunehmen scheint, wie ein vergrößerter Resonanzkörper. Dann wieder träumt das Orchester, ein Cello  zu sein oder eine einzelne Saite oder das Ende des Bogens. Aber nicht nur dieses letzte Werk, sondern das ganze Ultraschall-Festival für neue Musik 2019 ist eine erfreulich weibliche Angelegenheit.

Was ja zunächst mal nichts anderes bedeutet als die überaus unselbstverständliche Selbstverständlichkeit, dass Frauen in gleichem Maß dabei sind wie Männer, fast zumindest: 22 Komponistinnen und 24 Komponisten stehen auf dem Programm (wenn man Laure Leander aka Martin Hiendl doppelt zählt, sowohl als Mann wie als Frau). Sinnt der Konzertgänger aber nach, welche Konzerte und Stücke ihn besonders beeindruckt haben, neigt die Waage sich diesmal deutlich auf die weibliche Seite.

Bei den Ausführenden hat man(n) sich daran schon länger gewöhnt, und so sind die packenden Auftritte von Solistinnen wie Séverine Ballon in einer nächtlichen Cello-Séance oder reiner Frauen-Ensembles wie Mixtura mit Hildegard Rützel keine Überraschung. Wie beschwerlich aber der Weg für Komponistinnen gewesen sein muss (und noch immer ist?), macht eine Randnotiz zu der 80jährigen Tona Scherchen-Hsiao deutlich, die als Tochter des prägenden Moderne-Dirigenten Hermann Scherchen ja noch besonders günstige Startbedingungen gehabt haben dürfte: 1968 erhielt sie als erste Frau einen Kompositionsauftrag der (seit 1921 bestehenden!) Donaueschinger Musiktage, 1977 wurde sie als erste Musikerin vom (seit 1963 bestehenden) Berliner Künstlerprogramm des DAAD eingeladen. Das verrät ja viel darüber, wie lange die Herren an den Hebeln es ganz gut ohne kreatives Weibsvolk aushielten. Der Berliner Aufenthalt muss unerfreulich verlaufen sein, und Tona Scherchen-Hsiao ist hierzulande ein völliger Nichtbegriff. Schon darum ist es erfreulich, dass das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Michael Wendeberg Scherchen-Hsiaos L’Illégitime von 1986 aufführt. Es wäre leicht, diese mega-eklektische, riesengroß besetzte Kuriosität runterzuputzen, die im Theatersaal der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aber doch gerade aufgrund ihrer hektisch wirkenden Maßlosigkeit fasziniert: von allem etwas, und zwar nicht zu knapp, von Bernstein über Bruckner bis Stockhausen und einer ziemlich additiven, ziemlich verwaschenen elektronischen Zuspielung, die das Riesenorchester schlagartig verstummen lässt.

Solche verstörende Maßlosigkeit ist bei jüngeren Komponistinnen, wie bei den Männern, selten. Dafür gibt es viel punktgenaue Professionalität zu behören, die dennoch hochinspiriert klingen kann: in den bewegenden Cello-Stücken von Francesca Verunelli, Liza Lim und der Spielerin selbst in Séverine Ballons Solo-Nocturne, in Annette Schlünz‘ konzentrierten 9 Gesängen nach Vorlagen von Dichterinnen, in Joanna Woznys wunderschönem, kontempletivem, von prägenden Pausen durchwirktem Stück Archipel im Eröffnungskonzert.

Ein reines Frauenprogramm präsentierte das isländisch geprägte Ensemble Adapter Samstagnacht im Radialsystem. Eins der ersten Stücke für die kuriose Besetzung Flöte, Klarinette, Harfe, Klavier und Schlagzeug dürfte die 1983 entstandene Music for Japan der Morton-Feldman-Schülerin Bunita Marcus sein. Interessante Versuche, Anknüpfungen und vielleicht sogar Traditionen zu schaffen: Das Ensemble Adapter gründete sich aus Faszination für die gleichbesetzte japanische Formation Sound Space Ark, die britische Komponistin Naomi Pinnock nahm ihrerseits 2016 in der Music for Europe schon im Titel auf Bunita Marcus Bezug – und schuf doch etwas völlig Anderes, ganz Eigenes. Während Marcus‘ Stück extrem reduziert, ja spröde scheint und mit seinem Reichtum an Nachklingen, Pause, Stille dann eben doch nicht spröde ist, rührt einen Pinnocks todtraurige Musik unmittelbar, beginnend mit der Klarinette, der es anfangs kaum in den Ton zu treten gelingt, als wär ihr die Luft abgeschnürt. Pinnock schrieb die Music for Europa zur Zeit des Brexit-Referendums, dessen Ausgang sie als Katastrophe empfindet; und was ist dieses so emotionale wie komprimierte Stück doch für ein Kontrast zum fatalen kakofonen Gequassel der gegenwärtigen Brexit-Debatte. Hoffentlich aber kein Ausdruck von Resignation.

Zu einer aufschlussreichen Begegnung eines lebenden Klassikers und einer lebenden Klassikerin der neuen Musik kam es beim famosen, ebenfalls rein weiblichen Trio Boulanger: je drei Stücke von Beat Furrer und Olga Neuwirth im Heimathafen Neukölln. Das ist für den Konzertgänger nun ein Unterschied, dass er glatt zur Konzertgängerin werden möchte. Während Furrers Stücke ihre eigene, gewiss meisterliche Konstruktionsfrickelei geradezu ausstellen und dabei klanglich äußerst unattraktiv wirken, zudem zumindest im Trio Retour an Dich von 1986 fast gleichgültig gegenüber den eingesetzten Instrumenten (und schon gar dem Hörer), reißt Neuwirth vom ersten Ton an mit. Und zwar nicht zuletzt durch ihr Interesse an den Instrumenten und deren unerschöpflichen Klangmöglichkeiten – und eben auch an ihrer Kommunikativität: Schon in der ersten Minute von Neuwirths Trio QUASARE/PULSARE II haben die Musikerinnen mehr Blickkontakt miteinander als in langen Viertelstunden Furrer.

Noch ein paar Jahre solche Festivalprogramme (und noch erheblich mehr Frauen an den Dirigentenpulten), dann kann man das mit der Männlein-Weiblein-Zählerei wieder lassen.

Was sonst? Das umwerfende Können der Neuen Vocalsolisten durfte man in einem Konzert mit sechs ganz unterschiedlichen Stücken bestaunen, die sich alle irgendwie ums Thema Zauberei drehen. Nur einen schwachen Eindruck von der Virtuosität der Vocalsolisten gibt hingegen ihr Auftritt mit dem RSB in der Uraufführung von Claus-Steffen Mahnkopfs Dov’è, aber dieser scheinbare Mangel hat seinen guten Grund. Denn die Textgrundlage dieses Stücks sind auf italienisch verfasste Gedichte, die Mahnkopfs verstorbene Frau Francesca Albertini als Teenagerin verfasste und die der Komponist mit großer Zurückhaltung anfasst, liebevoll, ja fast scheu. Einzelne Stimmen treten aus dem Orchester hinzu, das Cello, ein klangprägendes Cimbalom, eine Bassklarinette, die wie ein Tier um die zarten, verhüllten Worte herumgrunzt – bedrohlich, mysteriös, auch komisch. Das Stück führt in eine katastrophische Klangballung und einen furchtbaren Schlag.

Etwas unergiebig wirkte diesmal das Konzert des geschätzten Zafraan Ensemble. Geradezu läppisch wirken die Ensemble-Stücke von Ricardo Eizirik und Laure Leander/Martin Hiendl, die coole Repetitionsgeste bzw weltbewegende Exposéprosa an die Stelle von klanglichen Reizen setzen: öde Meta-Musik, die sich in ihrer eigenen Diskursivität gefällt und dabei letztlich kreuzbrav wirkt. Die drei Solo-Stücke dazwischen reißen es immerhin halbwegs raus, vor allem Zeynep Gedizlioğlus Breath for Mathilde für Baritonsaxophon solo (Martin Posegga).

Was mag einem in den verpassten Konzerten wohl entgangen sein? Im Fall des Konzertgängers waren das leider der komplette Freitag (Bericht bei Schlatz) und am Sonntag Rundfunk des vielleicht festival-überpräsenten Enno Poppe sowie ein Konzert für hyperreales Klavier und Orchester von Malte Giesen.

Im Abschlusskonzert des DSO machen dann auch nochmal zwei Männer sehr eindrücklich bella figura: Bewegend ist die posthume Uraufführung eines Werkes des vor zwei Jahren verstorbenen Michael Hirsch. Sein …irgendwie eine Art Erzählung… von 2011 ist ein wahres Orchesterdickicht, in das man mehrmals rasant von einem sehr hohen Akkordeon-Ton aus gelangt, atemberaubend reich an Farben, Stimmen, Kraft. Prüfstein bei solchen Orchesterwerken: Würde man es nochmal hören wollen? Unbedingtes Ja. Das gilt auch für Samir Odeh-Tamimis Rituale von 2008. Und für den einen oder die andere mag das sogar schon ein Wiederhören gewesen sein, denn es handelt sich um eine Zweitaufführung. Nicht das geringste Verdienst von Ultraschall, sich nicht nur auf Uraufführungen zu kaprizieren, sondern einzelne Klassiker der neuen Musik wie Xenakis oder Feldman und eben auch sehr viel Interessantes aus den letzten zehn bis zwanzig Jahren vorzustellen. Odeh-Tamimis Rituale sind pure Trance, aber nicht im Sinne schönklingig-einlullender Gehirnwäsche, sondern als Anschauen des Gewaltigen. Denn diese Musik klingt gewaltig, aber nie gewalttätig – ein Orchesterdonner aus komplex gebauten Klängen, der einen mächtig anspringt und in dem man sich doch geradezu geborgen fühlt.

Das letzte Wort aber, das letzte Bild, der letzte Ton gehört den drei Frauen Young, Ballon und Chaya Czernowin; und das ist gut so, wie auch das ganze weibliche Ultraschall-Jahr 2019 ein gutes war. Die Männer dürfen sich mitgemeint fühlen. Man kann alles im Radio nachhören. Das Abschlusskonzert mit Hirsch, Odeh-Tamimi und Czernowin (und einem Pausengespräch mit dem Konzertgänger) ist auf DLF Kultur abrufbar.

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6 Gedanken zu „Weiblichwa(a)gend: Kleine Bilanz des Ultraschall-Festivals

  1. Im Nachhinein fand ich den Furrer gar nicht so schlecht. Ich muss noch mal reinhören. Zumindest hat er in meinem Kopf weitergearbeitet. Sehr souveräne Diskussionsbeiträge übrigens von Ihnen auf Deutschlandfunk Kultur.

    • Man muss natürlich auch sagen, dass Furrer nicht gerade „Festivalmusik“ ist, wo man ja aus reiner Hörökonomie immer erstmal das unmittelbar Fassbare, das Pointierte bevorzugt (das aber darum nicht unkomplex sein muss).

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