Quarantäne-Qualen (2): Mein erstes Mal in Bayreuth

Schicko machen für Bayreuth, na klaro – aber vor allem Händewaschen nicht vergessen!

Nix Konzerte weiterhin. Weiß der Himmel, wann es wieder losgeht. Wenn, dann sicher erstmal Kammermusik, klein besetzt und klein besucht, das ist weniger infektiös. Und bis dahin? Konserve hören. Klavier üben. Lesen. Um die dürre Zeit zu übertändeln, hier nach der Wiederveröffentlichung meines letzten Bayreuth-Berichts nun noch mein Artikel über meinen ersten Besuch überhaupt bei den Bayreuther Festspielen.

Und über Lohengrin. In Neukölln gings los. Von Little Beirut nach Bayreuth.

Ich hab nichts gegen Fremde, aber dieser Fremde ist nicht von hier

Von Berlin über München nach Bayreuth: Mit Lohengrin in die Provinz, ins Geheime

Mein Trip nach Bayreuth begann mit einer Stippvisite in Little Beirut. Das liegt in Berlin am östlichen Ende des Westens, da wo die Neuköllner Sonnenallee sich ins Ungefähre verflüchtigt. Dahinter kommt dann noch das Estrel Festival Center, Berlins Dubai für Arme. Aber im libanesisch geprägten Teil der Sonnenallee tobt das Leben. Eine kleine Welt für sich, eine Parallelgesellschaft vielleicht; aber gefährlich ist es da nicht, außer für Radfahrer (doch die Gefährder, die uns die autogerechte Stadt eingebrockt haben, waren alle Kartoffeln und Almans).

Wenn schon Bayreuth, dachte ich, dann Fliege. In Berlin mag man auch in Flipflops ins Opernhaus latschen, dachte ich. Hier wurden ja sogar letzten Sommer Schwäne im Tiergarten gegrillt (wenn auch nicht von reinen Toren, sondern von armen Teufeln). Aber bei den Wagnerfestspielen wird das nicht gehen, Schwänegrillen nicht und Flipflops schon gar nicht. Leiste dir mal eine Fliege. Und da ich gerade durch die Neuköllner Sonnenallee kam, schaute ich in die Auslagen der libanesischen Hochzeiter-Geschäfte: In Soubhias Butik Al-Hanan, wo die Brautkleider aus märchenhaftem Goldglitzerregen entsprungen scheinen. Ins Shuruq & Shuruq, wo „wegen neuer ware alles raus muss“. Schließlich gab mir die hinreißende Chefin des Queen (wo nicht nur Bräute und Brautjungfern, sondern auch Fetischclubgänger sich ausstaffieren könnten) einen Dresscode-Integrations-Crashkurs, indem sie mir geduldig den Zusammenhang von Fliege, Kummerbund und Einstecktuch erklärte.

Verschwundene Bräutigame

Dem neuen Bayreuther Lohengrin aber war der Bräutigam abhandengekommen, und zwar nicht erst drehbuchgemäß im dritten Aufzug, sondern schon davor: Kurz vor knapp tat der galaktische Startenor Roberto Alagna kund, dass er es leider nicht geschafft habe, seinen Text zu lernen. Eine geradezu liebenswerte Saumseligkeit in einer derartigen Sphäre der Höchstprofessionalität. Aber natürlich auch ein Unding, vor dem den Herrn Alagna nicht mal der Gedanke an Placido Domingo bewahrt hat, der sich, behaupten Grüchte, einst den Lohengrin-Text auf die Rückseite seines Ritterschilds geklebt habe. Dass der neue Bayreuther Lohengrin schildlos sein würde, konnte Alagna ja noch nicht wissen. Wie dem auch sei: In Little Beirut könnte man sich so etwas nicht erlauben. Unvorstellbar, dass Soubhia oder Shuruq & Shuruq eine Braut am Tag ihres Lebens ohne Brautkleid dastehen ließen.

Nothilfe kam aus München. Ausgerechnet. Man rückte generös den polnischen Tenor Piotr Beczała heraus, der eigentlich einen Termin bei den Münchner Opernfestspielen hatte. Und dieses Festival hat ja was von maliziöser Parallelaktion, wie sie Cosima Wagner einst schon beim Bau des Prinzregententheaters witterte. Drei Tage vor der Bayreuth-Eröffnung leuchtete München gar mit einer Walküre der Sonderklasse, mit Jonas Kaufmann als Siegmund, Anja Kampe, Nina Stemme und am Pult dem Bayreuth vor Jahren abhandengekommenen Kirill Petrenko. In Bayreuth wird die Walküre dagegen nächste Woche von Placido Domingo geleitet werden, von dem böse Ohren behaupten, er sei als Dirigent so etwas wie Lothar Matthäus als Trainer.

Und noch einem abhandengekommenen Bräutigam konnte man in München dieser Tage über den Weg laufen: Alvis Hermanis, dem ursprünglich vorgesehenen Regisseur des neuen Lohengrin, der 2016 beschloss, nicht mehr in Deutschland zu arbeiten – aus Sorge, wegen Angela Merkel könnte das ganze Abendland so werden wie die Neuköllner Sonnenallee, quasi eine einzige Halbmondallee. Aber seine längst begonnene Arbeit am Lohengrin reflektierte er noch in einem reizvollen Stück, das am Wochenende vor der Bayreuth-Eröffnung letztmals im halbleeren Cuvilliés-Theater zu sehen war: Fünf Personen suchen eine Oper. Konspirativ kommen die ansonsten einander Unbekannten in wechselnden Wohnungen zusammen, um alte Platten anzuhören und vom Lohengrin zu schwadronieren, über Lohengrin zu rätseln, sich nach Lohengrin zu sehnen. Insgeheim Lohengrin nannte Hermanis diese Reflexion, die wie eine große Bejahung des Fremden im Eigenen, des Romantischen wirkt. In dieser Hinsicht ist Hermanis gewiss nicht xenophob.

Eine Ehe auf Zeit

Auch in Bayreuth wird schwadroniert, gerätselt, sich gesehnt. Wenn auch nicht unbedingt von den Bayreuthern selbst. Mag für Wagnerianer der Bund mit Bayreuth für die Ewigkeit sein, so gleicht die Beziehung der Stadt zu dem vierwöchigen seltsamen Treiben einer Ehe auf Zeit, nikāḥ al-mutʿa, wie es im Libanon heißt. Fremdenzimmer: Dieses schöne, leider außer Gebrauch gekommene Wort steht am Eingang des Gasthofs, in dem ich in Bayreuth wohne. Nachts wundere ich mich, wie mächtig doch dieser mickrige Rote Main rauscht; bis ich begreife, dass es die Kessel der nahegelegenen Brauerei Maisel sind. Die freundliche Kellnerin des Gasthofs kommt ins Straucheln, als ich sie nach dem Weg zum Festspielhügel frage. In der Stadt werben indes frei flottierende Einführungs-Anbieter auf Plakaten mit Titeln wie „Wagners Werke wirklich verstehen“ oder „Antworten auf Wagner“. Aber die Bayreuther in der Fußgängerzone wirken nicht, als würden sie, wie lauter Elsas, von Fragen an Wagner qualvoll zernagt.

Und die Festivalbesucher, haben die denn Fragen an Wagner? Die Gespräche drehen sich viel um Praktisches: ums Essen etwa (als günstige Alternative zur fränkischen Küche wird der prima Falafel gleich hinter der Mohren-Apotheke empfohlen). Oder um Leihfahrräder, die zur Festivalzeit kaum zu erhalten. Am Frühstückstisch hört man von Wagner-Reisen und „modernen Inszenierungen“, der Tenor geht dahin: Man muss sich drauf einlassen. Die Wagnerianer anno 2018 sind gar nicht so.

Praktische Fragen auch an den Opernbesuch selbst: wie die sagenumwobene Hitze im Festspielhaus überstehen, die legendär harten Holzlehnen? Die nahe Kneipp-Anlage in der Pause, die ausleihbaren Sitzkissen. Die Vorfreude auf den mystischen Abgrund, aus dem das unsichtbare, weil abgedeckelte Orchester seinen Klang aufsteigen wird, steht hintenan. Erstmal sind logistische Vorbereitungen nötig: Nach Lohengrin wird ja Parsifal kommen (einen Superfood Riegel kaufen), nach Parsifal der Tristan (Superfood Doppelriegel), nach Tristan die Meistersinger (Superfood Doppelriegel mit Chia-Samen).

Sprengsätze in die Festung Little Bayreuth

Die Atmosphäre ist entspannter als ich dachte. Dennoch, natürlich ist das Wagner-Festival eine Parallelgesellschaft, eine kleine Welt für sich: Little Bayreuth. Vielleicht sogar eine Festung. Aber die Festspiele tun einiges, um sie aufzusprengen. Erstmals seit dem Parsifal 1883 gibt es eine Uraufführung, wenn auch nicht im Festspielhaus selbst, das qua Gesetzesrunen ausschließlich den zehn Bühnenwerken Wagners ab Holländer vorbehalten ist. Diesen Speer wird so bald keiner zerhauen.

So findet die Novität, während Bayreuther Paare in der Fußgängerzone unter freiem Himmel tanzen, in der Kulturbühne Reichshof statt, einem ehemaligen Kino. Der verschwundene Hochzeiter heißt das Stück des Komponisten Klaus Lang und ist keine Ad-hoc-Comedy über Alagna, sondern eine sehr ausgiebige Reflexion über das Vergehen von Zeit anhand einer steirischen Legende. Die Musik kommt beim Publikum gut an, man mag sie hypnotisch nennen. Aber wäre dieser dahinwabernde österreichische Minimalismus nicht in der warmen Wellness-Plörre der nahen Lohengrin-Therme behaglicher zu hören?

Manchmal führen auch unbeschwerte, heitere Wege ins Geheime. Die charmante Kinderoper ist seit zehn Jahren so ein Sprengsatz aus Konfetti, diesmal aus dem gekonnt zerschnipselten heiligen Ring-Buch. Und manchmal sind es auch Zufallsbegegnungen, die die Festung Bayreuth aufsprengen. So erzählt mir ein befreundeter Musikkritiker, wie er im Dunkeln einen Mann nach dem Weg zu dem etwas abgelegenen Biergarten fragte, in dem ich ihn nach dem Lohengrin erwarte.

„Waren Sie auch bei Merkel?“, entgegnet der Mann.

„Nein, bei Wagner“, antwortet mein Bekannter. „Merkel war auch da, aber ich war bei Wagner.“

Es stellt sich heraus, dass der Mann aus Syrien stammt und seit drei Jahren in Bayreuth lebt, über das er nur Gutes erzählt, in fließendem Deutsch. Zuversichtlich, obwohl auch in Bayreuth gerade der christsoziale Abschiebewahn über gut integrierte Fremde walzt, weil die Festung Deutschland dichtmachen soll. Und dann bringt er, weil es auf seinem Weg liegt, meinen Bekannten zu dem gesuchten Biergarten, wo einige Lohengrin-Choristen schon ein paar Bier intus haben und zu singen beginnen, intonationsrein, wie man es bei Biergartengesängen selten erlebt.

Fremd in einer fremden blauen Welt 

Und wie wars nun bei Merkel? Der neue Lohengrin, hat der denn Fragen an Wagner, führt der ins Geheime, ins Fremde?

Eine merkwürdige Antwort gibt der junge Regisseur Yuval Sharon. Er arbeitet Elsas Auflehnung gegen das Frageverbot als eine Art aufklärerischen Emanzipationsprozess heraus. So wird Ortrud zu einer ungehobelten, aber rationalen Feministin, die Wagners Frauenwelt befeuert, sich von Wagners Männerwelt nicht alles bieten zu lassen. Anja Harteros füllt diese Idee mit Leben, indem sie die Elsa frei von Lieblichkeit singt und spielt, leidenschaftlich und stark. Die charismatische Waltraud Meier dreht als Ortrud eine vielbestaunte Abschiedsrunde über die Bayreuther Bühne. Piotr Beczała aber ist tatsächlich der erhoffte Traum-Lohengrin, der zum Albtraum-Lohengrin wird und die Gralserzählung als Martyrium singt und spielt. Ein Fremder in einer fremden Welt.

Regisseur Sharon scheint dabei ein bisschen wie der dritte Reifen am Fahrrad. Denn den Grundton geben die Künstler Rosa Loy und Neo Rauch an, die offiziell nur als Bühnen- und Kostümbildner fungieren. Es ist ihre Inszenierung. Und sie ist blau, sehr blau. Das hat auch eine erfrischende Wirkung aufs Klima im Festspielhaus, es fühlt sich gleich zwei Grad kühler an. Ohne dass man gekneippt hätte.

Eine Flut von Kritiken ist seit Mittwoch übers Land geströmt, Mittelpracht wird dem neuen Lohengrin bescheinigt, Statik zumal, mangelnde und altbackene Bewegung. Ich aber finde diesen blauen Lohengrin betörend schön. Er ist voller Poesie und Spannung, und alles scheint aus der Musik heraus gedacht und empfunden. Der mystische Abgrund des phänomenalen Orchesters unter Christian Thielemann wirkt klangmagisch. Obwohl, muss man sagen, das Publikum arg in den sphärischen Anfang hinein rumpelt und pumpelt: Kein Wunder, denn man sieht ja hier nicht den Dirigenten kommen und den Stab heben und ist dann ruhig.

Die malerische Art des neuen Lohengrin erreicht ihren blauen Gipfel im nächtlichen Beginn des zweiten Aufzugs: Da füllt ein riesiges Wolkengemälde die Bühne, in dem sich nur unten ein paar dunkle Büschlein verschieben, eine Dreidimensionalität aus Zweidimensionalitäten wie im Barocktheater. Die anwesenden Figuren aber verändern durch ihr Agieren dieses Gemälde immer aufs Neue. Sie sind keine geführten Personen, sondern sich verschiebende Lichtpunkte. Winzig, und doch verzaubern sie das Gemälde. Und der schwitzende Zuschauer, Zuhörer auf seinem engen, harten Sitz kann seine Augen und Ohren nicht abwenden von dieser weiten, kühlen Lohengrin-Traumwelt. Die Musik scheint direkt aus dieser fremden blauen Welt zu kommen. Und ich, ich möchte niemals aufhören, dieses Gemälde zu betrachten. Dieses Gemälde zu hören.

Die Fliege hätte es dann doch nicht gebraucht. Denn Bayreuth 2018, das ist gar nicht so.

(Eine gekürzte Fassung dieses Berichts erschien im Sommer 2018 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.)

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