Wahnsinnig konsequent: Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ an der Staatsoper Berlin

JMRLenz

Der junge Wolfgang Rihm

Letzte Premiere der Staatsoper im Schillertheater, bevor sie wieder zur Staatsoper Unter den Linden wird! Tout Berlin hat sich zu dieser Premieren-Derniere versammelt, fast janz tout zumindest: Peymann, Reimann, Riemann (Claus, Aribert, Katja), Jochen Waltz & Sasha Sandig etc pp. Auf der Bühne und im Graben kein Star-Soufflé, sondern ein gewichtiges Stück neue bzw Neue Musik, wie es die Staatsoper in sympathischer Konsequenz jedes Jahr zum Saisonabschluss premiert: diesmal Wolfgang Rihms Jakob Lenz, Wahnsinns-Kammeroper von 1977/78 frei nach Georg Büchner. Von Andrea Breth erstmals auf die große Bühne gehoben, nach den koproduzierenden Bühnen von Stuttgart und Brüssel jetzt auch in Berlin.

Die Titelpartie ist der Wahnsinn. 13 wilde Sänger stellen den Dichter J.M.R. Lenz dar, der krass der Welt abhanden kommt, und alle 13 sind Georg Nigl: Der österreichische Bariton liebt, leidet, schreit, quäkt, tiriliert, deklamiert, schmiert, klingt und springt über weite Intervalle, predigt, erledigt sich selbst in einer Tour, die man Tour de force nennen müsste, wenn der Begriff nicht so fulminant ausgelutscht wär. Und als Lenz im dritten Bild von Erinnerungen an Friederike Brion aus Ses(s)enheim überfallen wird, in die er sich in bizarrer Über-Identifikation mit Goethe verliebt hatte, staunt man bass darüber, was für ein überwältigend guter Liedgestalter dieser Georg Nigl ist. Schon für ihn lohnt der Besuch.

Auch die restliche Besetzung ist restlos überzeugend: Zwei Männerstimmen nehmen den Bariton Lenz-Nigl von unten und oben in die Mangel, der Bass Henry Waddington als hilflos menschenfreundlicher Oberlin und der Tenor John Graham-Hall als Lenz‘ unzulänglicher Freund Kaufmann. Frauenstimmen gibts auch, aber nur im Sextett (je zweimal Sopran, Alt, Bass), das bald zur Bauern-Staffage wird, bald zur raunenden Natur und am allerbaldesten zu den Stimmen des Wahnsinns, die Lenz verfolgen.

Georg_Büchner

Wolfgang Rihm, noch jünger

Es gibt nur ein Bühnenbild, aber das hat 13 Gestalten (Martin Zehetgruber). Bemerkenswert flüssige Umbauten zwischen den Bildern. Aber wo auch immer das Wasser fließt, der Spiegel spiegelt, ein Eisblock erscheint und verschwindet — immer wird die Natur zum Innenraum. Die Stube ist das Steintal, in dem Lenz vergeblich auf Rettung hofft. Der Wahnsinn verfolgt Lenz von Anfang bis Ende, so wie Goethe den armen Sonderling Lenz noch bis in die hinterste Grabkammer verfolgt: Denn Andrea Breths atmosphärische, düstere Inszenierung von Rihms Oper über Büchners Erzählung über den armen Lenz, den der Dichterfürst aus Weimar verbannen ließ, wurde so verdienter- wie kuriosermaßen mit dem FAUST-Preis ausgezeichnet.

Dass der Wahnsinn Lenz ohne Unterlass im Nacken sitzt, macht sowohl die Wucht als auch das Problem dieser Musik von Wolfgang Rihm aus, damals noch kein Bundesverdienstkomponist, sondern superjung und total wild. 13 Musiker, ein Sound: 3 Celli als einzige Streicher, bissl Holz, kleines Blechle, doppeltes Schlagwerk und als Sturm-und-Drang-Residuum ein Cembalo. Franck Ollu führt das Ensemble der Staatskapelle exakt und intensiv durch die 80 Minuten.

Den größten klanglichen Reiz haben für den Konzertgänger allerdings die Intermezzi zwischen den Bildern, eine sinistre Sarabande etwa. Eine Lenz-Suite aus diesen Zwischenspielen würde er vorbehaltlos empfehlen. Aber das konsequente Wahnsinnigwerden ist auf Dauer weniger intensiv als ermüdend mit seinen permanent anschwellenden Hämmereien und der permanenten Reibung von Tonalität und Atonalität. Konsequent, sind die letzten Worte des wahnsinnigen Lenz, konsequent, konsequent. Es ist eine ungute Wörtlichkeit, ein unvermittelter Naturalismus in diesem konsequenten Wahnsinnigwerden: Hört Lenz Stimmen, hört der Hörer halt Stimmen. Und zwar klar artikulierte, wenn auch von draußen. Nun ja. Rihms Lenz-Grundklang h-f-ges (d.h. Tritonus und reine Quinte zugleich) wird indes in Kommentar und Einführung hervorgehoben, als wär er das achte Weltwunder. Nun ja, nochmals.

Hören Sie denn nichts, heißt es bei Büchner, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt?

Genau das vermisst der Konzertgänger in Rihms wozzeckhaft expressiver Kammeroper: schreiende Stille. Vielleicht kann es die ja wirklich nur in der stummen Literatur geben, nur als Imagination? Dennoch, welch ein Kontrast zu den Klängen des Wahnsinnigwerdens in Salvatore Sciarrinos Luci mie traditrici, der atemberaubenden Neue-Musik-Premiere-Derniere der vergangenen Saison, in der Sprache und Klänge stocken, sich stauen und dann irre heraussprudeln.

Der Konzertgänger hälts also eher mit Sciarrino. Aber einen Klassiker des neuen Musiktheaters wie Jakob Lenz auf hohem Niveau aufzuführen ist ein Verdienst. Das Publikum ist begeistert. Vier weitere Aufführungen am 8., 10., 12. und 14. Juli im Rahmen des Festivals Infektion!

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5 Gedanken zu „Wahnsinnig konsequent: Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ an der Staatsoper Berlin

  1. Gut und eindrucksvoll, sowohl was Musik als auch was Inszenierung angeht, es könnte sogar Breths beste sein, dich bislang gesehen habe. Rihms Dionysos 2012 fand ich musikalisch dennoch eindrucksvoller, weil vielschichtiger, ganz zu schweigen von der Eroberung von Mexiko. Nigl singt sich die Seele aus dem Leib, im Dionysos – er sang dort auch – hatte ich allerdings nach 2,5 Stunden genug von seinem speziellen Timbre.

    • Tatsächlich? Das freut mich. Mir kam noch in den Sinn, dass der Lenz vielleicht doch nicht auf die große Bühne gehört, sondern in die „Kammer“. Wenn auch nicht ganz so nah und eng wie die Werkstatt, wo ich heute Aribert Reimanns ähnlich klein besetzte „Gespenstersonate“ gehört habe. (Gefiel mir übrigens viel besser als „Medea“.)
      Nigl ist natürlich große Bühne, der Ensemble-Klang eher nicht.
      „Eroberung von Mexiko“ ist eine Bildungslücke, die ich mal schließen muss.
      Von Breth mochte ich „Stella“ an der Schaubühne und Horváths „Der jüngste Tag“ am Burgtheater am liebsten — aber das mag an den Lebensabschnitten liegen, in denen ich diese Inszenierungen gesehen habe.

  2. Ich gehe auch noch. Habe den Lenz vorher schon probegehört und finde auch, dass die stetige Suche nach Ausdruck „weniger intensiv als ermüdend“ sein kann. Na mal sehen. Live ist ja oft alles anders als man erwartet.

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