Hochdruckzugvoll: Anna Vinnitskaya spielt Prokofjew, Debussy, Chopin

Anna Vinnitskayas Hände ziehen die Töne aus dem Klavier. Sehr reizvoll, im Kammermusiksaal von links einen guten Blick auf die Tastatur zu haben (auch wenn wahre Pianomaniacs sich bekanntlich immer nach rechts setzen). Sie drücken die Töne. Sie müssen sie aber ziehen, sagte Alfred Brendel einmal zu einem Dilettanten, den er bei einem Besuch ans Klavier gebeten hatte. Was man darunter verstehen kann, lernt man bei Vinnitskaya. Dabei zieht sie paradoxerweise mit einer speziellen Form von Hochdruck, der durch den ganzen Körper zu fließen scheint.

Denn alle Bewegung geht bei Vinnitskaya vom Körper aus und endet nur in den Fingern. Ihr ganzer Oberleib wackelt hin und her, aber stets aufrecht, ohne sich expressiv zu krümmen (bis auf ein einziges Mal). Manchmal hat man den Eindruck, alle Kraft fließe aus dem schaukelnden Kopf. Oder gar aus den wippenden Haaren, vielleicht sitzt dort ja die pianistische Zirbeldrüse. Das alles immer eine für Otto Normalhörer nicht wahrnehmbare Nanosekunde, bevor die Bewegung Klang wird.

Ist nur so ein Eindruck.

Und dennoch muss man diese Finger sehen. Der Konzertgänger hatte in der Schule einen Klassenkameraden, der die Mädchen zum Kreischen brachte, indem er seine Finger bis auf den Handrücken zurückbog. Dem gehts hoffentlich gut irgendwo in der weiten Welt; dennoch scheint er sich in Vinnitskaya reinkarniert zu haben. Denn man könnte sich vorstellen, dass sie die Konzertbesucher durch Fingerzurückbiegen kreischen machte. Wie sie Fingermittel-, -end- und -grundgelenke hochbiegen kann, zeigt sich eindrucksvoll in Sergej Prokofjews 4. Sonate c-Moll opus 29. Wie eine irre Cartoonspinne heben die Finger sich in beängstigend spitze Winkel über den Handrücken und schlagen dann superpräzise zu: kraftvoll, doch ohne jede Gewalt. Geschmeidig, im Finale paradox leicht und locker, doch zugleich hoch emotional; immerhin trauert Prokofjew in dieser Musik um seinen Jugendfreund, der sich das Leben nahm.

Es folgen Préludes von Claude Debussy und Frédéric Chopin. Von Debussy leider nur eine Auswahl von fünf (allerdings vom Schnee über den Sturm und seidige Haare bis zum Mondlicht und Feuerwerk klug kombinierten) Stücken, außerdem L’Isle Joyeuse. Gern würde man sie alle hören, beide Hefte! Die verdammte clarté ist ja ein Sperrwort, wenn man über Debussy sprechen will, aber hier kommt man kaum drumrum.

Bei Chopin jedoch darf man ungestraft clarté sagen. Seiens die nachdrücklichen Melodietöne, die die Rechte im a-Moll-Prélude senkrecht spielt, oder auch im e-Moll-Prélude, das hier auf einmal viel inniger und farbenreicher tönt als anno dunnemal im Klavierunterricht. Seiens die perlenden Läufe etwa im G-Dur-Prélude. Oder das unerträgliche Seelendrama im Des-Dur-Prélude, über dessen saudoofen Beinamen die Damnatio memoriae verhängt gehört.

Sei’s vor allem das vollkommene Umschalten zwischen den völlig gegensätzlichen Farbwerten, Stimmungen, Seelenzuständen der Préludes. Vinnitskayas Hände zeichnen.

Und sie krümmt sich doch, die Pianistin, aber erst ganz am Schluss: Nach dem letzten von drei Dreifachfortissimo-Kontra-Ds fällt die linke Hand in die Tiefe, Vinnitskayas Oberkörper sackt nach, der Pianistinnenleib bleibt linksüber hängen.

So kurzweilig kann Quintenzirkel sein. Und man kann so schön die Tonarten mitrechnen. Programm-Idee des Konzertgängers: Die Préludes in chromatischer Reihenfolge, davor die Präludien des Wohltemperierten Klaviers im Quintenzirkel.

Zwei Zugaben: Bei der C-Dur-Etüde wackelt der Oberkörper wieder kerzengerade hin und her, die Haare führen. Und im Walzer-Scherzo aus Schostakowitschs Tanz der Puppen bringt Vinnitskaya als pianistische Hyperpuppe das Publikum zum Lachen.

Fehlt was? Vielleicht das Nichtperfekte. Woher nehmen und nicht stehlen bei einer so guten Pianistin? Bloß nichts Hypervirtuoses. Aber vielleicht ein Widerhaken, ein Werk, das zu ihrem Temperament quer steht, sich ihr nicht leicht erschließt, vielleicht sogar widerstrebt? Ein Stück neue Musik vielleicht?

Denn ausverkauft ist der Kammermusiksaal ja, Donnerlüttchen. Trotzdem fehlt noch was: ein Publikum, das sich besser benimmt. Auf einer Störskala von 0 bis 10 ist der Berliner Durschnitt bekanntlich 12, hier aber erreicht er 20. Vielleicht sollte der Herr Veranstalter mit dem Konzertbeginn einfach ein Viertelstündchen warten, wenn noch 50 Menschen draußen stehen, die dann in Dutzendgruppen nacheingelassen werden. (Und auf die Regel Einlass nur mit attestierter Hustenfreiheit wartet der Konzertgänger auch.)

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