Verwunschkonzert: Konzerthausorchester und Kitajenko spielen Strawinsky, Tschaikowsky, Schostakowitsch

Alle Berliner Orchester sind schon in den Sommerferien oder auf Überlandtournee, nur das Konzerthausorchester hält noch die Stellung. Nach dem Abschied Patricia Kopatchinskajas (der nur ein halber Abschied ist, nämlich als Artist in Residence) jetzt ein weiterer Abschied: Dmitrij Kitajenko gibt aus Altersgründen sein letztes Konzert als offizieller Erster Gastdirigent des Hauses. Der Slowake Juraj Valčuha, 36 Jahre jünger, wird sein Nachfolger.

Die Altersgründe sieht man Kitajenko nicht an, das Geburtsjahr 1940 bei Wikipedia wirkt wie ein Tippfehler. Im Januar kommt er auch schon zurück, dann als normaler Gastdirigent, wieder mit einem russischen Programm. Also ebenfalls nur ein halber Abschied. Zum Glück.

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Das viersätzige Divertimento Le baiser de la fée (Der Kuss der Fee) extrahierte Igor Strawinsky 1934 aus einem Ballett, das er wenige Jahre zuvor nach Klaviermusik und Liedern von Tschaikowsky komponiert hatte. Es tut, was ein Divertimento tun soll: divertieren, so halbwegs. Fein instrumentiert ist das, die amerikanisch aufgestellten Orchestergruppen sind gleichmäßig ausgelastet. Besonders reizvoll ist der Beginn des Scherzos mit der aparten Kombination Harfe, Cello, Klarinette. (Gibt es Kammermusik in dieser Besetzung?)

Auf die Dauer wiederholen sich einige Formeln und Wendungen doch, die musikalische Substanz scheint begrenzt. Wunschkonzerttauglich, aber für den Konzertgänger eins dieser selten gespielten Strawinsky-Stücke, bei denen er sich fragt: Werden die selten gespielten Strawinsky-Stücke nicht etwas zu oft gespielt? Aus der Reibung mit dem Barock (Pergolesi) schlug Strawinsky jedenfalls zündendere Funken als aus der Reibung mit Tschaikowsky.

Иоланта_партитураEbenfalls wunschkonzerttauglich der Opern-Quickie aus Pjotr Tschaikowskys Jolanthe. Wieder und wieder auf derselben Formel rumkauen konnte Tschaikowsky besser als Strawinsky, scheint es im einschmeichelnden Arioso der Sopranistin Olesya Golovneva (die hierzustadt in Meyerbeers Hugenotten entzückte). Ihr Partner Dmitry Popov hat schönen Puccini-Schmelz im Tenor. Schon im dritten Stück gibts die schlussendliche Vereinigung des Paars. Viele Russen im Publikum, Bolschoi-Flair kommt auf, als nach dem letzten gesungenen Ton begeistert in die Schlussakkorde des Orchesters geklatscht wird.

Kitajenko leitet warmherzig, väterlich, entspannt, das Konzerthausorchester dankt es ihm, indem es die Sänger auf Händen trägt und auch sonst durch Genauigkeit, Wärme und Herz überzeugt.

Eine Vorsorge für finstere Zeiten! Denn es folgt das Verwunschkonzert mit Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie d-Moll, dem Werk, mit dem der Komponist seinen Hals aus Stalins Schlinge zog.

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Vielleicht wird die Fünfte auch etwas zu oft gespielt, die vierte, sechste und neunte scheinen doch viel interessanter. Aber alle paar Jahre hört der Konzertgänger sich gerne diesen Monumentalklopper an, bei dem man nie weiß, woran man ist.

Schön, wenns dann eine so gute Aufführung ist wie diese. Schostakowitsch klingt in Berlin doch beim Konzerthausorchester am besten.

Woran ist man nun? Der bewegungslose Anfang erinnert ja glatt ans Spätwerk. Und dieser wunderbar depressive Schluss des Kopfsatzes, an dem die Celesta-Sterne klingeln! Hört man dann den wahnwitzigen Schluss des Donnerjubelfinales mit den irren Tonwiederholungen der Streicher, stimmt man sofort Schostakowitsch/Volkov zu, dass nur ein kompletter Trottel das für echte Begeisterung halten könne.

Andererseits: Denkt das heutige Ohr nicht bei jeder Propagandamusik, das kann ja wohl nicht ernstgemeint gewesen sein?

Wie dem auch sei. Kitajenko vereindeutigt die Sinfonie nicht, etwa indem er das Maßlose noch karikierend hervorhöbe, das Peitschende betonte, die Banalitäten ausstellte. Er lässt die Musik einfach in einer perfekt ausgewogenen Aufführung für sich sprechen — vollkommene Ratlosigkeit ist das Ergebnis. Und das ist doch viel wert!

Das Konzerthausorchester darf immer noch nicht in die Ferien, nächstes Wochenende gibts ein spanisch-baskisches Programm.

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2 Gedanken zu „Verwunschkonzert: Konzerthausorchester und Kitajenko spielen Strawinsky, Tschaikowsky, Schostakowitsch

  1. „Verwunschkonzert“ ist eine sehr schöne Wortschöpfung !
    Als ich die Fünfte zum ersten Mal hörte, kannte ich die Diskussion noch nicht. Damals habe ich definitiv keinen Jubel gehört, sondern Kriegsgerassel und Schmerzgeheul.
    Vielen Dank für den weiterführenden Link. Man sieht mal wieder, dass bei Hinweisen auf „leidenschaftlichen Patriotismus“ zumindest erhöhte Wachsamkeit angebracht ist.
    Beste Grüße nach Berlin
    Elisbeth Lindau

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