Unwegsam

Premiere ANTIKRIST von Rued Langgaard an der Deutschen Oper Berlin

Irres Zeuch zweifellos – für mich eine höchst eigenartige Mischung aus Faszination und Qual. Pandemiebedingt mehrfach verschoben, jetzt endlich premiert an der Deutschen Oper Berlin wurde die mystikschrullige „Oper“ ANTIKRIST des egomanischen Außenseiters Rued Langgaard (1893-1952). Komponiert in den 1920er Jahren, aber gespielt erst Jahrzehnte später, und inszeniert erstmals überhaupt 1999 in Innsbruck/Tirol: katholisches Aberglaubsland also, wohin das allegorisch-mysterienspielerische Endzeit-Ding irgendwie auch besser passt als ins schnödlutherische Folkekirken-Dänemark. Andererseits ist da ja dieses im Lauf des Antikrist ständig wiederholte Wettern gegen lärmende Kirchen-Ödnis (man shpielt Deutsch, Übersetzung Inger und Walther Mehtlag). Langgaard wirkt wie ein uneheliches Kind von, sagen wir mal, Wagners Parsifal und total verkifftem Kierkegaard.

Aber keinesfalls wie der verkrachte Onkel von György Ligeti! Eine dezente Verwandtschaft in Sachen Tontraubenbildung zwischen Langgaards vergessener Sphärenmusik von 1916 und Ligetis wegweisenden Atmosphères von 1961 wurde mal konstatiert, auch von Ligeti selbst. Darum kommt heute keine Langgaard-Einführung ohne diesen Ligeti-Verweis aus. Der führt aber im Fall von Antikrist komplett auf die falsche Spur. Da ist diatonischer Klangrausch, hochtonale Anmutung, auch Fugati und Kontrapunkt, dabei alles im Dienst orchestraler Überwältigung, üppig und schwelgend, prachtvolle Streicherwände und Blechblasexzesse; und doch alles Stückwerk und zerrissen. Großartig ist es, wie das Orchester der Deutschen Oper unter dem Dirigenten Stephan Zilias das macht. Es flutet den Saal, ohne zu lärmen. Volle Dröhnung, ohne zu dröhnen. Man kann sich leicht vorstellen, dass das auch anders passieren könnte.

Immer wieder kommt es zu langen reinen Orchesterpassagen. Da genießt man einfach das Glück, statt sinnlos zu versuchen, einen roten Faden der kruden Fabel zu erwischen, die Langgaard einem auftischt. Freilich, aufgeschrieben ist es leicht und scheinbar schlüssig: Gott erlaubt Luzifer, den apokalyptischen Antikrist mal in die verderbte Welt zu schicken, und der tritt in Gestalt von allerlei Untugenden und Verwirrungen auf, bevor Gott wiederkommt und den Unguten in den Orkus pfeffert. Doch dass die Chose stringent abschnurrte, wird niemand ernsthaft behaupten wollen, der dabei war. Endloses Gerede von Laster zu Sünde oder Großer Hure zu Lüge, alles in mal arg vergeheimnisten, mal haarsträubend banalen Sätzen. Groß-Leben strebt und wiehert, klagt es da ulkig-genialisch die Gegenwart an: einerseits piefiger Ärger über die Moderne, andererseits ja ziellose Diagnose am Rand der Weltabgrunds, der sich bald darauf auftat, von Dänemarks Nachbarland aus. Das Motiv des „Antichrist“ hatte Konjunktur zu Langgaards Zeit, wenig später schrieb der später in Auschwitz ermordete Victor Ullmann auch eine Antichrist-Oper. Das letzte Wort von Langgaards Antikrist aber lautet „Himmelswonne“.

Unwegsamkeitslicht nennt sich hier die erste Verkörperung des Antikrist. Dargestellt wird es eindrucksvoll von der stimmgewaltigen, differenzierten Mezzosopranistin Irene Roberts als „Rätselstimmung“ und Valeriia Savinskaia als deren „Echo“. Ein Wegsamkeitslicht durch die unwegsame Langgaard-Oper sucht Ersan Mondtag zu setzen. Das Deutsche-Oper-Debüt des Regisseurs und mehr noch Bühnenbildbauers, auch Kostümierers (letzteres gemeinsam mit Annika Lu Hermann) wurde von den einen mit Spannung, von den anderen mit Schrecken erwartet. Es ist toll anzusehen, links und rechts farbsatte Hausfassaden wie von Ernst Ludwig Kirchner, und überall prima Kostüme, teils spektakulär und teils eklig. Dazu absolut akzeptables Gender-Fluidieren: Die riesige Gottes-Statue, die zwischendurch auch mal an den Galgen gehängt wird, hat eine Vulva, die große Hure Babylon einen dicken Hängepenis unter Hängeschlauchbrüsten, das kann man schon alles so machen. Dabei wird die ganze Zeit getanzt. Das bringt nicht viel, es tanzt eher so vor sich hin, für sich selbst. Aber to be fair, was soll man machen bei einer Oper, die ebenso gut oder sogar besser als maximal halbszenisches Oratorium durchginge? Und ganz bestimmt retten die unbestreitbaren Schauwerte manch einen verzweifelnden Besucher durch den Abend.

Die Singerei ist durchweg gut. Neben Irene Roberts dominiert die Sopranistin Flurina Stucki als Große Hure die Bühne in vokaler Hinsicht. Auch der Bariton von Thomas Lehman als Luzifer ist makellos rollendeckend. Der musicalerfahrene Hawaiianer Jordan Shanahan klingt als „Hass“, dessen Kostüm dem Grünen Kobold von Willem Dafoe in Spiderman I ähnelt (außer dass es nicht grün ist), tatsächlich etwas nach Musical, sehr geradeaus, aber das ist in Ordnung. Am Ende schwemmt noch der Chor herein, bestens präpariert von Jeremy Bines und spürbar begeistert bei der Sache. Dennoch merkt man immer wieder, dass im Antikrist die Singerei nicht das Entscheidende ist. Und so passt es auch, dass die Schrei- und Sich-Gequält-Winde-Rolle des mehrfach splitternackten Gottesdarstellers Jonas Grundner-Culemann die allerintensivste Bühnenpräsenz hat. Da wird es in dem ganzen Kuddelmuddel physisch begreifbar, dass es um mich geht, um dich: um den einzelnen Menschen.

Kurzum, eine erratische Ekstase. Durchaus überfordernd, aber nicht, weil es so verkopft und unsinnlich wäre. Eher verbaucht und übersinnlich-sinnfrei. Mein älterer Nachbar zur Linken schaut bereits nach zehn Minuten zum ersten Mal auf die Uhr (das ist übertrieben, auch wenn es auf der Bühne einmal heißt: Stunde über Stunde gleitet fort), meine schöne Nachbarin zur Rechten schläft später viertelstundenweise. Dabei ist das Ganze nach 90 Minuten auch schon wieder vorbei. Das lässt sich schon durchsitzen, sofern man nicht ganz den Plausibilitätsstock im Gesäß hat, sondern sich ins Offne-Besoffne zu werfen bereit ist.

Interesse an Langgaard weckt es durchaus, wenn auch kein zwingendes. Man möchte auch nicht so weit gehen wie die rasende RBB-Reporterin Maria Ossowski, die kühn postuliert: „Langaard hat 400 Werke komponiert, die es unbedingt zu entdecken gilt.“ Vierzig reichen vielleicht auch für den Anfang. Aber doll ist das schon, dieser monozentrische Komponist, der fast nur zurückgewiesen und kaum gespielt wurde und trotzdem immer weitermachte. Allein 16 Sinfonien! Eine der kürzesten ist die elfte, Ixion, die Langgaard selbst als nicht weniger denn den „Gipfelpunkt aller Musik“ bezeichnete. Den muss man schon lieben.

Den Antikrist gibt es an der Deutschen Oper noch dreimal im Februar zu sehen.

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