Ungewöhnlich: Konzerthausorchester, Venzago, Tabea Zimmermann spielen Michael Jarrell und Schumann

Nichts lieben die Kinder des Konzertgängers an der täglichen LOGO-Sendung mehr als den täglichen Tag des/der soundso: des Eichhörnchens, der Mundhygiene, des Glücks. Sehr passend also das Freitagsprogramm des Konzerthausorchesters zum Tag der ungewöhnlichen Instrumente. Denn was ist schon eine Flammenorgel, ein Trautonium, eine Glasharfe im Vergleich zu einer … Bratsche?

Ungewöhnlich ist gar nicht so sehr, was der Komponist Michael Jarrell die Solistin Tabea Zimmermann in der deutschen Erstaufführung seines Violakonzerts Èmergences – Résurgences tun lässt, sondern eher die Dichte, in der er es sie tun lässt: in 23 Minuten alle Spieltechniken, die man sich nur vorstellen kann — rasante Läufe, fingerbrechende Pizzicati, Doppel- und Dreifachgriffe und wer weiß was noch, martelé, ponticello, limoncello. Unerhört schwer sicherlich, aber nichts Unerhörtes darunter, kein Korpus wird traktiert oder dergleichen (das Unerhörte hat man allzu oft gehört).

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Bratschenkonzert (historische Abbildung)

Dezente Virtuosität ist wahrscheinlich um Längen schwerer als groß hervorgekehrte Virtuosität: Es wirkt gar nicht mühsam, aber wenn man nicht nur zuhört, sondern hinschaut, sieht man die arme Tabea Zimmermann in ihren Spielpausen heftig außer Atem. Im Nachtgespräch nach dem Konzert wird sie erzählen, wie sie während einer Quartett-Tournee wochenlang an einzelnen Akkorden aus leerer Saite, Flageolett und gedrückter Saite herumpfriemelte und einmal der Geiger Christian Tetzlaff zu ihr hereinkam, um entgeistert zu fragen: „Sag mal, was machst du da eigentlich?“

Das eigentlich Ungewöhnliche an Jarrells Bratschenkonzert ist jedoch, wie er alle Bratschenklischees umschifft: kein tiefer, warmer, langer, kantabler Klang, sondern eine ganz andere Art von Singerei. Der Beginn des Stücks erinnert an eine wildgewordene Französische Ouvertüre, die Bratsche rennt mit nervösen Klanggesten auf je einen Schlussakzent zu. Das Orchester liegt als Klangfläche darunter, folgt später, nimmt die Impulse der Bratsche auf, entwickelt, variiert. So gehts durchs klar strukturierte Stück, die Bratsche spielt, rennt, singt, zupft voran, das Orchester folgt, verschiebt, erweitert die Vorgaben zu feinen, farbigen, sinnlichen Klanggebilden. Ätherische Höhenflüge, tiefe Gonggründe.

Wunderbar, wie der Komponist Jarrell das Soloinstrument und das großbesetzte, aber immer fein differenzierte Orchester nicht im klassischen Sinn konzertieren, sondern miteinander atmen lässt. Und beeindruckend, wie das Konzept in der Aufführung aufgeht, wie Tabea Zimmermann und das perfekt vorbereitete Konzerthausorchester miteinander atmen! Ganze Arbeit offenbar von Mario Venzago, einem immerhin bald 70jährigen Herrn, der das Orchester in pantherartiger Sprungbereitschaft leitet, als wäre er selbst so eine Klanggeste von Jarrell.

Der Komponist wiederum, bald 60, nimmt im Schlussapplaus nicht die Treppe, sondern hüpft direkt aufs Podium, wo er sich im Orchester zu verstecken sucht; aber Venzago drückt ihn mit gar nicht so sanfter Gewalt ins Rampenlicht. Das Konzerthaus ist far from ausverkauft, aber der Applaus lang und donnernd, als platzte der Saal aus allen Nähten. Kein Wunder, denn das Stück ist nicht nur sehr hörenswert, sondern auch sehr hörbar: ohne Voraussetzungen, außer eben der Bereitschaft zuzuhören. Solche Musik gehört nicht (nur) auf Neue-Musik-Festivals, sondern unbedingt in klassische Konzertprogramme!

Schade, dass das immer noch so ungewöhnlich ist. Es würde übrigens allen Beteiligten helfen, wenn diese Musik mit weniger Exposé-Geschwurbel präsentiert würde. Wer das Programmheft zu Émergences – Résurgences liest, muss fürchten, aufgeschmissen zu sein, wenn er nicht die Bilderwelten von Henri Michaux parat hat. Einfach ein Bild abzudrucken ist wahrscheinlich ein rechtliches Problem. (Haben Sie die Bilderwelten von Henri Michaux parat? Falls nicht: für Sie gegoogelt.)

Das Konzert gibt’s am heutigen Samstagabend noch einmal. Zum Nach- oder Vorhören:

Zum zweiten Programmteil, Robert Schumanns 2. Sinfonie C-Dur op. 61, muss der Konzertgänger sich als grundsätzlicher Skeptiker gegenüber Schumanns Sinfonik für befangen erklären. (Die einzige Interpretation der Zweiten, die ihn je umhaute, hörte er ausgerechnet vom Orchester der Komischen Oper; unter Roger Norrington.)

Diese Aufführung klingt trotz sechs Kontrabässen heller, klassizistischer als gewohnt. Man könnte auch sagen, etwas runtergeleiert, bereits die Einleitung des Kopfsatzes, die an sich ja das Aufregendste an der ganzen Sinfonie ist: Ungeheuerliches versprechend (was dann nicht kommt). Das Orchester spielt sauber und genau, aber ist Schumanns Sinfonik zu retten, wenn man Extreme scheut?

Venzago dirigiert so akribisch wie enthusiastisch und wirft am Ende seinen Blumenstrauß der Frau in Reihe 3 zu. Das Holz ist prima, vorneweg die Oboe von Michaela Kuntz. Und das Publikum euphorisch.

Vielleicht trieben und drängten ja bloß Jarrells Klanggesten so heftig, dass Schumanns Treiben und Drängen danach unvermeidlich abfällt? Und besser instrumentieren als Schumann kann Jarrell auch. Eindeutig ein Tag der neuen Musik!

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