Hoppla, ausgerechnet Berlin versaut dieser Tage die Statistik. Die besagt nämlich, dass die an deutschsprachigen Opernhäusern gespielten Werke durchschnittlich 139 Jahre alt sind. Das hat der Komponist Moritz Eggert einmal im Badblog der neuen musikzeitung vorgerechnet. Kurz nach der Uraufführung der vielleicht etwas gestrigen, aber halt ausnehmend schönen Oceane von Detlev Glanert an der Deutschen Oper (noch bis Ende Mai zu erleben) legt die Komische Oper nun mit Eggerts M – Eine Stadt sucht einen Mörder gleich noch was Neues vor. Nach einem der packendsten Werke der deutschen Filmgeschichte, dazu ein cooler Komponist, Libretto und Regie von Barrie Kosky: Da kann eigentlich nichts schiefgehen. Oder?
Ein stranges Dreitonmotiv vom 80er-Jahre-Synthie steht am Anfang, wie eine dieser bizarren, betulich dissonanten Einleitungen zu einem Bonnie Tyler- oder Kim Wilde-Song. Der 1965 geborene Eggert untermauert das im Interview ziemlich plausibel mit seiner ganz eigenen Hörgeschichte aus Instrumentalklängen der Kindheit. (Und genau diese Frage stellte sich der Konzertgänger ja bei Oceane, was der Glanert eigentlich in seiner Jugend so gehört hat; jedenfalls nicht Led Zeppelin.)
Nun verpflanzen Eggert, Barrie Kosky und dessen Co-Librettist Ulrich Lenz Fritz Langs M-Stoff aber nicht in die Achtziger, sondern bleiben in der Berlin-um-1930-Sphäre stecken. Das liegt an der Komischen Oper auch nah, die ja in diese Zeit reingespürt hat wie kein anderes Haus, aber hier wird es doch zum Problem. Okay zwar, dass in den Text scharfe und schräge Gedichte von Walter Mehring eingepflockt werden, aus denen Eggert so eine Art Arien schafft. Aber nicht so toll, dass das Bühnenwerk dann eben doch allzu eng am Film klebt, mit ellenlang nachgesprochenen Polizei-, Verbrecher-, Bettlerszenen. Nur halt ohne Otto Wernicke und Gustaf Gründgens. Läppisch runtergelabert wird das in schwachbrüstigem Berlinerisch, herabgewitzelt, von Stimmen aus dem Off. Und Langs rasender Dokumentarduktus wird nebenher zur additiven Leier.
Das beißt sich mit der Grundidee, die ganze grässliche Kindermord-Chose als inneren Kopfwahn des Mörders zu begreifen (oder eben nicht zu begreifen!). Natürlich könnte man sich rausargumentieren, dass der Mörder halt die ganze Handlung zusammenphantasiere, aber das wäre doch ein bissl bequem.
Jedenfalls erscheint nur ein einziges menschliches Antlitz auf der Bühne, nämlich das des Sängers Scott Hendricks. Der Wahnwirre ist von Kindern sowie vor allem Scharen von Kleinwachsenen umgeben, gespielt von Kindern mit großen, fratzenartigen Masken. Dabei bewegt er sich die ganze Zeit vor und auf einer Art Laufsteg von rechts nach links, Tür rein, Tür raus und immerzu crazy Dinge machen, mit weißer Kreide auf eine weiße Wand schreiben, aufgeregt Stühle herumtragen, etc pp. Abziehbilder der Madness halt. Und man muss vielleicht doch mal nach Barrie Koskys Gespür für Dramaturgie fragen, wenn er einen 90-minütigen Albtraum verspricht. Denn das ist ein bestürzend routinierter Parforceritt ohne Ruhepunkte, die den Schrecken nähren könnten: Höllentourdienst nach Vorschrift.
Auch die stimmliche und körperliche Akrobatik von Scott Hendricks ist auf Dauer nur medium-aufregend. Klar ist das ein sehr solider Bariton. Die mikrofonische Verstärkung der Stimmen (auch der sprechenden sowie des Soprans von Alma Sadé und des Tenors Tansel Akzeybek) bewirkt jedoch eine unangenehm gleichförmige Präsenz. Die Musik haut in einer Tour auf die Kacke, ein kleines klassisches Orchester ist das plus Schlagzeuge und Drumsets, E-Bass und E-Gitarre sowie besagte Keyboards mit Vintage-Sounds der 80er. Auch mal von den Seiten, ohne dass sich aber echtes Surround ergäbe oder man gar von Klängen umhüllt wäre, als hockte man im Kopf des Mörders. Der musikalische KO-Chef Ainārs Rubiķis scheint das alles mit Übersicht und Power zu dirigieren.
Und zweifellos steckt da viel musikalisches Können drin. Die Mehring-Arien entwerfen sich reizvoll melodisch, um dann abzuschmieren oder auszurasten. Eine starke, mal in sich aufregend durchrhythmisierte Szene ist es, wenn immer mehr Kinderwachsene um den Mörder herumspringen und alles in einer Klangwolke aus Kinderchor (sensationell gut, einstudiert von Dagmar Fiebach und David Cavelius), Glocken, Blech, Keyboards versinkt. Schließlich verschwinden alle Klänge in fürchterlich vielstimmiges Lachen und in entsetzliche Stille; in welche hinein dann Sadés Sopran einsetzt und vom Untier Mensch in seinem Bau singt.
Und das Grieg-Thema, das Peter Lorre immer pfeift, kommt selbstverfreilich in tausend Facetten vor, auch mal verrocknrollt. Lorre aber, der fehlt natürlich noch mehr als Wernicke und Gründgens. Lorres kindsäugig-mörderische unselige Seelenfacetten sind hier durch überdeutliche Wahnsinns-Emanationen ersetzt, die auf etwas Undeutliches hinauslaufen. Wir erleben einen Irren in einer irren Welt; und kommen so weder ihm noch ihr um einen Deut näher.
Vielleicht hätte man die ganze Sache noch viel freier gegenüber Fritz Langs Meisterwerk anpacken sollen. Ansonsten hat Alfred Hitchcock ja gewusst, warum er immer nur mäßige Bücher verfilmt hat, niemals Meisterwerke: weil die aus vielen Wörtern bestehen, die alle einen Sinn haben.
Ankieken kannste trotzdem. Novitäten nicht links liegenlassen, sondern eigenes Bild machen! M – Eine Stadt sucht einen Mörder gibts noch zweimal im Mai und dreimal im Juni. Danach muss man sich schon Händels Deidamia oder eine Jommelli-Oper anschauen, um wieder auf den 139-Jahr-Durchschnitt zu kommen.
Weitere Kritiken: Hanssen (Tagesspiegel), Luehrs-Kaiser (Kulturradio), Ossowski (BR Klassik), Uehling (Berliner Zeitung), Pachl (nmz), Blech (Mottenpost), Brug (Welt) und Isabel Herzfeld (FAZ)
Die Musikmischung ist mir dann doch zu wild. Drumsets …
Aber schön, dass Sie ein achtsames Auge auf die Musikneuigkeiten haben und nicht so kleinkariert sind wie ich.