Unabgestanden: Sommerliche Raritäten mit der Akademie für Alte Musik

Wir werden auch im Herbst nicht wieder in der Philharmonie sitzen, als wär nie was gewesen; und auch nicht im Winter und im Frühling. Die Akademie für Alte Musik hat sich jetzt aber auch vorgewagt und gibt eine Reihe von windfrischen Sommerkonzerten in der Elisabeth-Kirche und der angrenzenden Villa Elisabeth in der Invalidenstraße. Denn Frischwind ist alles derzeit.

Damit sind sie nicht die ersten, die wieder musizieren: Der Weddinger Pianosalon Christophori hatte Anfang Juni als erster unter strengen Regeln wieder aufgemacht, das Festival Young Euro Classic lief in veränderter Form im Konzerthaus, und Barenboims West-Eastern Divan Orchestra verlegte vor ein paar Tagen die Waldbühne in den Boulezsaal.

Die Akademie für Alte Musik, eine (nicht nur) Berliner Institution, stand während der Corona-Krise am Rande des Abgrunds. Jetzt aber spielt sie wieder und hat dafür die sommerlichste Indoor-Location von allen. Die entkernte Schinkel-Kirche St. Elisabeth in Mitte ist ein so nüchterner wie charakteristischer Raum mit postamtskirchlicher Trinitätsperspektive: Genau drei Fenster geben den Blick durch die ziegelsteinnackte Apsis frei auf den leider schon mauerseglerlosen Augustabendhimmel.

Dass man weit auseinander sitzt, ist nicht nur in virologischer Hinsicht, sondern auch wegen der sommerlichen Hitze willkommen. Die Atmosphäre in dieser gemarterten Elisabethkirche hat was von besonders schönem alten, aber keinesfalls abgestandenem Odem. Der ganze Raum ist sowieso bestens durchlüftet. Und auch das Hörstündchen ist alt, aber nicht abgestanden in dem Programm Unerhört! – Wiederentdecktes, am zweiten von sechs Terminen dieser Reihe. Das ist zum Glück alles andere als festlich-rilassierende Barockmusik auf der Kurpromenade.

Graupner, Schaffrath, Hertel und Abel heißen die Komponisten des Abends, welchen davon kennen Sie? Während Christoph Graupners B-Dur-Concerto für 2 Flöten und 2 Oboen mit den ganz hinten spielenden Bläsern akustisch hier problematisch wirkt, kommt die dramatische, motorische Streicher-Sinfonia in c-Moll des 25 Jahre jüngeren Berliners Christoph Schaffrath (1709-63) in dem Raum viel besser zur Geltung.

Klanglich gut ausproportioniert sind dann auch die beiden Instrumentalkonzerte, die schon in der zweiten, empfindsam-„frühklassischen“ Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden. Und das sind wirklich zwei tolle Entdeckungen! Johann Wilhelm Hertel (1727-89 und mit Stefanie H. weder verahnt noch verschwägert) erreicht in seinem Oboenkonzert C-Dur ganz andere Ausdrucksregionen als ein halbes Jahrhundert zuvor Graupner. Schwungvoll und überraschungsreich bis in den Schlussakkord der Kopfsatz, ans Herz gehend der Affettuoso überschriebene langsame Mittelsatz.

Xenia Löffler ist eine vorzügliche Solistin, die in Carl Friedrich Abels (1723-87) Symphonie concertante B-Dur mit dem Geiger Georg Kallweit und dem Cellisten Jan Freiheit zwei konfamose Mitsolisten hat. Was ist das doch für ein aufführenswertes hochvitales Musikstück mit einem beseelt schreitenden Adagio! Schaut man sonstige Konzertprogramme an, könnte man ja meinen, die einzige Sinfonia concertante der Musikgeschichte stammte von Wolfgang Amadeus M.

Vier weitere Termine gibt es noch für die Sommerkonzerte in Kirche und Villa Elisabeth, zwei Freitage und zwei Sonntage. Isabelle Faust am 21. August ist sicher der größte Magnet; aber die weiteren Programme mit Werken von Couperin bis Schubert und Paris bis London versprechen teilweise noch interessantere Mischungen als Fausts Telemann-Abend.

Die Karten sind im Internet vorzubestellen, und mindestens bis man sitzt, ist Maske zu tragen.

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5 Gedanken zu „Unabgestanden: Sommerliche Raritäten mit der Akademie für Alte Musik

  1. Lieber Herr Selge,

    Ihnen missliebigen Kommentaren können Sie als Herr Ihres Blogs selbstverständlich einfach die Publikation verweigern (mache ich auch dann und wann und fühle mich keineswegs als Blog-Diktatorin).

    Zu dem link von Ihnen:
    Ja, diese Arbeit des Wissenschaftsjournalisten Müller-Jung habe ich bereits gelesen, und wie immer hat sie mich nicht überrascht, gehört er doch zu denen, die unermüdlich (auch nach der zigsten Maßnahmen-Änderung) so tun, als gebe es so etwas wie gesichertes Wissen zum neuen Virus (wenngleich sie stets pflichtschuldigst auf die jeder Wissenschaft inhärente Unabgeschlossenheit des Wissensbildungsprozesses verweisen), und die folglich allen Skeptizismus gegenüber den sogen. Corona-Maßnahmen zum „Covidiotentum“ erklären.
    Viel interessanter als die weitgehend argumentationslose Anprangerung von Corona-Maßnahmen-Skeptikern mit wissenschaftlicher Expertise (die Herr Müller-Jung indes darstellt, als handele es sich um ein gekauftes oder anderweitig auf Plagiaten beruhendes ‚fake‘) seitens des FAZ-Artikels fand ich übrigens manche Kommentare zu selbigem.

    Doch damit genug von mir hier dazu in Ihrem in der Tat einem ganz anderen und tausendfach schöneren Thema gewidmeten Blog!
    (Heute erwarb ich mein erstes Ticket post Coronam: Zähneknirschend ein „Best of Aida“ in der DO. In der Philharmonie muss man für Einzelkarten ja leider anrufen – das steht mir dann morgen bevor.)

    Lassen Sie es sich und Ihren Lieben so gut wie möglich gehen!
    Es grüßt Sie herzlich (und völlig einverstanden damit, wenn Sie diesen Kommentar nicht freischalten)
    Corinna Laude

    • Lieber Herr Selge,

      das ist jetzt doppelt doof, weil ich einfach so dämlich bin, wenn es um den Umgang mit dem Internet (und speziell Blogs) geht:
      1. wollte ich Ihnen direkt auf Ihre Antwort zu meinem Kommentar antworten und habe mal wieder den falschen Button erwischt;
      und 2. wollte ich das gar nicht direkt posten, sondern Ihnen die Entscheidung überlassen, es entweder zu veröffentlichen oder eben nicht. (Das geht doch irgendwie auch?! Mir schwant: Ich sollte dann nicht mit meinem Worldpress-Konto angemeldet sein, sondern via ‚Mail‘ kommentieren?)

      Verzeihung!

      Nochmals: Beste Grüße
      Corinna Laude

    • Das wird jetzt in der sogen. Corona-Zeit wohl der Zukunftssatz: „[W]enn noch nicht alles ausverkauft ist.“

      Waren’s ehedem Toilettenartikel (notwendig! Aber ersetzbar), so sind’s nun Konzerte (noch weitaus not-wendiger und unersetzlich für das Menschsein!)

      Der fürs Menschsein nicht gar so – für Aktienkurse hingegen schon – notwendige Artikel ist längst schon wieder allerorten käuflich.
      Der fürs Menschsein indes notwendige und übrigens unveräußerliche Artikel nicht. Kultur (die nur auf der Grundlage eines austarierten Spiels von Begegnung und Isolation funktionieren kann) darf weiterhin kaum gekauft werden – und wo doch, da ist sie sehr rasch ausverkauft.

      Wie sie das überleben soll?
      (Und wenn nun jemand antwortet: „Die Kultur hat schon immer zu überleben vermocht!“, dann sag ich dem: ‚Ja, bislang immer, doch frage ich mich, ob je eine Kulturgesellschaft so kulturvergessen war wie unsere [schon lange vor „Corona“].
      Frage doch einmal jemand die Kinder, die Jugendlichen, die jungen Erwachsenen nach Geschichte, nach Jahrhunderten, nach Bildern, Musik, Gedichten, die älter sind als sie selbst oder gar als ihre ErzeugerInnen. Oder danach, ob dergleichen irgendeine Bedeutung habe.)

      Schon seit Jahrzehnten sterben das kulturelle Gedächtnis, die bisherigen Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und verifizierten Zeugnisablegens und des verifizierenden Zeugnisrezipierens sowie (und dadurch bedingt) auch Feinfühligkeit, Anstand und das für alles grundlegende Vermögen, von sich selbst Abstand zu nehmen.

      Die sogenannten Corona-Maßnahmen (die unseren Konzerthäusern Abstandswahnsinn aufzwingen, derweil in Schulen und seit neuestem in Berlin auch in Kinos die 1,5-Corona-Meter unterboten werden dürfen) werden zunächst zum Ausverkauf von Kulturangeboten binnen weniger Minuten führen, und dann dazu, dass niemand mehr Kultur nachfragt.
      Klar: Kultur heißt per se: Alarm! Kultur heißt: Mensch fragt.

      Dass das jetzt ausgesetzt ist, kommt vielen recht.

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