Trismegistisch

Collegium 1704, Les Arts Florissants und Jean Rondeau beim Barock-Festival in der Philharmonie

Drei sehr verschiedene Konzerte am zweiten (und letzten) Wochenende des Barock-Festivals, jedes auf seine Weise beeindruckend: trimagisch, ja geradezu trismegistisch. Den Anfang macht am Freitagabend das tschechische Collegium 1704 im Kammermusiksaal. Auf dem Programm steht unter anderem ein Bachkonzert (BWV 1060, c-Moll) mit den Solo-Instrumenten Oboe und Violine, während gleichzeitig die Berliner Philharmoniker im Großen Saal ebenfalls ein Bachkonzert mit Oboe spielen (BWV 1055R). Kuriose Selbstkannibalisierung. Das Barock-Festival ist ja eine Veranstaltung der Stiftung Berliner Philharmoniker, die Reihe „Originalklang“ in gebündelter Form, und das Collegium 1704 geladener Gast der Hausherr/*/frauschaft. Ohne dem Orchester, Dirigent Roth und vor allem Albrecht Mayer nahezutreten, den aufregenderen, quickigeren Bach gibt’s ziemlich gewiss bei den tschechischen Spezialisten.

Helena Zemanová an der Solovioline und die Oboistin Katharina Andres lassen ihre Instrumente in langen Bögen singen, statt kleinteilig zu portionieren. Sensationell ist der kompakte, ausgewogene Klang des begleitenden Streicherensembles. Kritiker loben ja, wenn sie nicht recht wissen, was schreiben, gern die „Homogenität“ eines Orchesters oder einer Orchestergruppe. Aber beim Collegium 1704 ist der Einklang wirklich stupend. Sein Gründer Václav Luks (physiognomisch eine leichte Ähnlichkeit mit dem jungen Gardiner, aber „musikantischer“ agierend) leitet vom Cembalo aus. Man bedauert an diesem Abend höchstens, dass die Tschechen nichts von Jan Dismas Zelenka im Programm haben; dieser aufregende böhmisch-dresdnerische Komponist war Anlass und bleibt höchste Spezialität des Collegium 1704. Dafür gibt es das Violinkonzert eines anderen Dresdners, der fast gleichzeitig mit Bach lebte. Ivan Iliev spielt das g-Moll-Konzert von Johann Georg Pisendel mit abgeklärter Meisterlichkeit: Virtuoser ist das, reicher an Verzierungen, vertrackter, vielleicht großstädtischer oder großhöfischer, jedenfalls violinistischer als vergleichbare Konzerte von Bach.

Die ganze Körpersprache des Collegium 1704 strahlt ungeheure Freude aus. Aber das Ensemble klingt eben auch so, dass diese Freude ebenso einen Hörer mit geschlossenen Augen anstecken muss. In Bachs Kantate Non sa che sia dolore ist die solistische Traversflöte von Julia Braná dabei, und ihre Lebendigkeit stellt Hana Blažíková fast in den Schatten, deren Sopran sie mit Wellen umspielt, dem sie nachsingt und nachleuchtet. Dabei ist die theatralische, linien- und effektsichere Blažíková schon vorzüglich. Den einnehmenden Willen zu Extremen des Ausdrucks stellt sie über letzte Stimmkontrolle, das gibt manchmal etwas Unstetes, das aber ungemein vital ist. Bachs Kantate Jauchzet Gott in allen Landen BWV 51 klingt angesichts der Nachrichten aus der Ukraine, die auch den fernen, sicheren Beobachter bedrücken müssen, nicht nach Jubel, eher nach utopischer Hoffnung. Deine Kinder, hört man in der zweiten Arie, innig begleitet nur von Cembalo, Cello und Kontrabass: berückend expressiv, flehend, zweimal: deine Kinder. Während jungen Ukrainern und Russen, in der Tat noch halben oder ganzen Kindern, ihr noch ganz am Anfang stehendes Leben entrissen wird für die Imperiumssucht eines versteinerten Siebzigjährigen und seiner Mittäter. Zum Konzert

William Christie und Les Arts Florissants spielen Händel

Auf frappierend stabilem Niveau sind dann die Gesangssolisten unterwegs, die der bald 80jährige William Christie und seine Arts Florissants mitgebracht haben: Sonntagvormittag in die Philharmonie, zu Händels Oratorium L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Wer bei einem zweistündigen Händeloratorium mit seinen ewigen Arienketten nicht vorab klammheimlich Fadesse fürchtet, der werfe den ersten Gallenstein. Wobei die schwarze Galle, griechisch Melancholie, im Oratorium der gegensätzlichen Affekte (Allegrolei vs Grübelitis) stets die spannendere Musik erwarten lässt. Widerekstase, jedenfalls antiklimaktische Wirkung schwant einem zudem bei der Entscheidung von Händels Librettisten Charles Jennens, John Miltons Gegensatz von Allegro und Penseroso am Ende ein vermittelndes Moderato zu führen.

Andererseits schätzt man ja gerade alles, was eine Zukunftsperspektive weist und dem Leben dient. Tatsächlich verursacht das erstmalige Zusammentreten zweier Stimmen ganz am Ende des Oratoriums, im Duett As steals the morn upon the night, pure Gänsehaut. Der Tenor James Way gab sich zuvor gelegentlich artistisch affektiert, während die kurzfristig eingesprungene Sopranistin Rowan Pierce ohne Einschränkung auf dem höchsten Niveau aller Beteiligten agierte. Dem Knabensopran Leo Jemison lässt William Christie dabei konzentrierteste stützende Zuwendung zukommen, während er seiner perfekten Continuogruppe blind vertraut. Christies Meisterschaft (achtsam und bei aller Sorgfalt von großer Frische und Spontaneität) zeigt sich eben auch im Nichtdirigieren. Angemessen gegenüber brillanten Sängern wie Instrumentalsolisten: Sopran und Flötist als nachtigallisches Doppelwesen in Sweet bird that shun’st the noise of folly. Der Bass Sreten Manojlović und das Horn in Mirth, admit me of thy crew! Oder die Orgelspielerin am Ende des zweiten Teils, die musiziert im Bewusstsein, alle Luft und alle Zeit der Welt zu haben – und so die Zeit stillstehen lässt.

Naturgemäß hat der melancholiewonnig-nächtliche Penseroso die eindringlicheren, ergreifenderen Nummern (berückend Pierces Koloraturen in But oh, sad virgin, that thy pow’r im Zusammenspiel mit dem Solocello), während Ways Allegro urban-kulturtrubelige Gegenakzente setzt. Zu Shakespeare und Jonson eilt er; während der tiefsinnige Penseroso auch an den verewigten Hermes Trismegistos denkt (der Laurence-Sterne-Leser unweigerlich zum Melancholächeln bringt). Immer aber werden Stimmen und Worte getragen vom warmen, weichenden, schwingenden Klang des Orchesters, das der Amerikaner Christie vor über 40 Jahren in Frankreich gründete. Der dazugehörige Chor begeistert mit feinster Schattierungskunst (And young and old come forth to play) ebenso wie mit betörender Klangfülle (There let the pealing organ blow). – Zum Konzert

Jean Rondeau spielt Goldberg-Variationen

Zweieinhalb Stunden zwischen Vormittags- und Nachmittagskonzert wollen überbrückt sein, zumal die kulinarische Versorgung im Bannkreis der Philharmonie ein ewiges Desolatum bleibt; erst recht am Wochenende, wenn die Joseph-Roth-Diele geschlossen ist. Also gibt es zwischen Händeloratorium und Goldbergvariationen Cheeseburger mit Hiphop in der Potsdamer Straße, anschließend Ukraine-Solidaritätskaffee vor der Neuen Nationalgalerie und noch ein einstimmendes Stündchen zwischen den Cembali im Musikinstrumentenmuseum.

Ehe Jean Rondeau, étoile montante der Barockmusik, die Zeit wahrlich stillstehen lässt. Selbst wenn einzelne ungeduldige Publikumselemente im Lauf der fast zwei Stunden Goldberg-Variationen (Goulds legendäre Aufnahme dauert 38 Minuten) den Kammermusiksaal verlassen; und andere in jede Pause des Cembalisten schmählich sich aushusten. Die sämtlich ausgeführten Wiederholungen sind für Rondeaus Spannungsaufbau dabei ebenso essentiell wie die Temporückungen. Gebannt lauscht man, wie in jeder Wiederholung – und es sind bei 32 jeweils zweiteiligen Variationen ja nicht weniger als deren 64 – Rondeaus Verzierungen sich verändern, erweitern, verzaubern. Oder auch in der markanten Aufwärtsbewegung in Variation 14 nach sehr langer Pause – abrupt ausbleiben!

So geht es bis zur völligen Gelöstheit des Geistes in der letzten Variation. In der Wiederkehr der Aria scheint sich dann die erste Wiederholung bald in Verzierungen aufzulösen, während sie sich in der zweiten stark reduzieren. Am Reichtum verschiedenster Klangfarben, den Rondeau erstehen zu lassen imstande ist, hat auch sein Instrument wesentlichen Anteil, ein Cembalo von Jukka Ollikka, gebaut 2018 in Prag: gestochen klar in den Bässen, kraftvoll im Diskant, jeder Ton ein Kupferkabinettsstückchen. So entsteht aus dem Halbdunkel unterhalb des zentralen Schallsegels, das einer magisch schwebenden sechseckigen Riesenzitronenscheibe gleicht, eine auratische Stimmung, an der teilzuhaben lediglich ein wenig Geduld erfordert. Überreich ist der Lohn. Rondeau wirkt wie halb Student, halb Waldschrat, dabei jedenfalls eher mönchisch als priesterisch. Innerlichkeit statt Weihefeier. Auch Witz, aber jederzeit von tiefer Ernsthaftigkeit des Musizierens. Es ist jetzt schon befürchtbar, dass der Rondeau-Rummel in den kommenden Jahren überhand nehmen wird. Aber er erscheint als ein Musiker, der sich und seinen Kern zu bewahren weiß. Für das lohnende Barock-Festival in der Philharmonie ist sein Auftritt jedenfalls ein mehr als würdiger Abschluss. – Zum Konzert

Und da Berlin Berlin ist (d.h. irre), könnte man abends im Weddinger Pianosalon Christophori gleich nochmal Goldbergvariationen hören, am Konzertflügel …

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