Wenn es die vielbeschworene christlich-jüdische Symbiose je gab, dann in der Musik: vom Psalmengesang, der von den frühchristlichen Gemeinden bruchlos aus Judentum und synagogaler Praxis übernommen wurde und die Grundlage der christlichen Kirchenmusik, lange vor der Entwicklung der Messe, bildete (M. Heinemann, Kleine Geschichte der Musik) bis zur bürgerlichen Musikkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das Jerusalem der Musikgläubigen aller Konfessionen lag in Deutschland, und das Heiligste dieser Musikreligion war das Klavier. Was liegt also näher, als das 50jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel mit einem Klavierabend zu feiern? Die Intimität eines Klavierrecitals ist der wahre Festakt!
Es ist allerdings gerade in Berlin schwierig, ein Publikum für Klavierabende zu finden. Die Nachfrage ist grotesk verzerrt: Einige wenige Superstars, selbst wenn sie in Routine erstarrt sind, füllen Hallen und Säle, die für Klavierabende viel zu groß sind; auch für 20jährige rising stars läuft es einige Jahre mit Chopin, Liszt und Prokofjew. Aber selbst Meisterpianisten wie Rudolf Buchbinder (oder im vergangenen Jahr ein tollkühner Greis wie Paul Badura-Skoda, das Gegenteil von Routine) spielen vor halbleeren Rängen.
Dafür ist das kleine Publikum treu und erlesen. Mag es im Großen Saal Gedränge bei Richard Strauss und Tschaikowskys Vierter geben, so sitzt bei Heidrun Holtmann im Kammermusiksaal der Komponist Aribert Reimann im Publikum, und nach dem Konzert drängen Freunde und Verehrer ans Podium, um der Pianistin Blumensträuße zu schenken. So ist der Klavierabend trotz diplomatischen Anlasses völlig unoffiziös, ganz intim; das ist auch gut so, auch wenn er mehr Zuhörer verdient gehabt hätte.
Drei Spätwerke deutscher Großklassiker rahmen das Programm: Beethoven am Anfang, Schumann in der Mitte, Brahms am Schluss. Bei Brahms‘ Fantasien op. 116, dem letzten Höhepunkt des reichen Abends, wirkt Holtmann völlig gelöst, scheinbar schwerelos erreicht sie den wahren Brahms-Sound aus wuchtig-männlicher Cappriccio-Energie und sanft schmerzender Intermezzo-Innigkeit. Brahms-Interpreten haben ja laut Joachim Kaiser keine Zukunft, aber wenn das so sein sollte, will der Konzertgänger lieber mit Brahms untergehen als auf Brahms verzichten; aber vielleicht dreht sich der Konjunkturwind ja irgendwann wieder.
Robert Schumanns Drei Fantasiestücke op. 111 berühren mit einer gewissen ergreifenden Eingängigkeit, auch Monotonie, in der nur ganz kurze bizarre Momente der versunkenen Eusebius-und-Florestan-Welt aufblitzen. Holtmann spielt das überaus deutlich. Der Konzertgänger fragt sich, warum bei anderen Komponisten Reduktion als Merkmal von Altersstil gilt, bei Schumann hingegen nur als Symptom nachlassender Schöpferkraft und beginnender Geistesschwäche. Ergreifend in sich selbst versunkene Musik!
Beethovens Spätwerk hält, anders als seine Zeitgenossen, niemand mehr für irre; eher versucht man heute, es der Aura von Weihrauch zu entziehen – etwa indem man es an den Anfang eines Programms stellt, wie Holtmann es mit Beethovens Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109 tut. Sie spielt sie sehr gemäßigt, den seltsamen Kontrast zwischen piano-Vivace und forte-Adagio im ersten Satz nur wenig hervorhebend, den zweiten Satz (Prestissimo) nicht halsbrecherisch schnell, sondern fast tänzerisch. Auch das berühmte Variationen-Finale, an das zu denken jeden Beethovenverehrer ehrfürchtig schaudern macht wie die Arietta aus opus 111, spielt Holtmann zurückgenommen, in akkuratem Tempo. Insgesamt klingt dieser Konzertbeginn wenig zerwühlt, von einer allgmeinen friedlichen Trauer durchzogen, aber auch etwas diplomatisch. Das mag an den Brocken liegen, die gleich folgen werden, nicht nur den Säulenheiligen Schumann und Brahms, sondern auch vier sehr unterschiedlichen deutsch-israelischen Kompositionen.
Keine Spur von friedlicher Trauer in Josef Tals Cum mortuis in lingua mortua, sieben Variationen über das Mussorgskys Katakomben-Promenade aus den Bildern einer Ausstellung. Josef Tal wurde unter dem Namen Grünthal bei Posen geboren und wuchs in Berlin auf, wo er u.a. bei Hindemith studierte, bevor er 1934 aus Deutschland floh; er starb 2008 in Israel, wo er als Vaterfigur der klassischen Musik gilt. Die Mussorgsky-Variationen von 1945/46 sind das Gegenteil einer angeblich ausdrucksfreien Stunde-Null-Avantgarde: aufwühlende, expressive Musik, die Tal seinem von den Nazis ermordeten Vater Julius Grünthal widmete und die den Hörer in finsterste Regionen führt. Mussorgskys im Diskant klapperndes Knochen-Tremolo wandert in die Tiefe, verbindet sich später zu Sekund-Intervallen, die vergeblich ein Schlaflied wie Debussys Jimbo’s Lullaby anzustimmen versuchen (Var. II); dem Abwärtssog stehen verzweifelte Aufwärtssprünge (Var. IV) oder hochbrausende Bewegungen (Var. V) gegenüber. Schließlich setzt die linke Hand zu einem Bassrezitativ an, es ist, als würde jede Aufwärtsbewegung immer wieder festgehalten und in die Tiefe gezogen. Am Schluss findet der Abwärtssog eine Fugenform, er beruhigt sich schließlich und endet in Dur-Regionen, die labil scheinen, denen man nicht traut.
Tzvi Avni, 1927 in Saarbrücken geboren und 1935 emigriert, lebt heute in Tel Aviv. Sein In Spite of All That von 2014, hier als deutsche Erstaufführung, ist ein Dissonanzengewitter voller Saitenflirren und Obertonregen. Ständige Doppelschläge münden in immer neue Nachhallräusche. Für solche packenden Klangerfahrungen betritt man Konzertsäle, statt sich Kopfhörer aufzusetzen; der Konzertgänger würde es gern wieder hören, um die Struktur besser zu erfassen.
Gil Shohats The Kiss of Salome ist ungleich einfacher gestrickt, ein harfenartiges Auf- und Abrauschen: Arabesken, die eher nach 1893 als 1993 klingen, dem Jahr, in dem der (damals 20jährige) Komponist dieses Stück komponiert hat. Klischeehaft wie der Titel, aber durchaus genussvoll anzuhören.
Eine ganz andere Art von Genuss ist eine weitere Erstaufführung, Martin Christoph Redels Gefangene Augenblicke. Spiegelfantasie für Klavier, eine irre spitze Etüde wie für ein Player-Piano. Wenn Shohat ein wenig an virtuos aufgemotzten Yiruma erinnert, dann klingt Redel nach Conlon Nancarrow, von einer lebendigen Pianistin statt einer Maschine gespielt. Sehr perkussiv, extrem beeindruckend! Man versteht aber auch, warum erst nach diesem Stück eine gewisse Anspannung von Holtmann zu fallen scheint. Zum ersten Mal schenkt sie ihrem Publikum (und Redel, der zu ihr auf die Bühne kommt) ein Lächeln; dabei hat sie den abschließenden Brahms noch vor sich.
Heidrun Holtmann ist eine hervorragende, völlig auf die Musik statt auf Effekte konzentrierte Pianistin, ernsthaft bis sympathisch unfröhlich wie dieses überaus reiche Programm voller Entdeckungen. Man wünscht dem Berliner Publikum mehr Mut!
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