9.5.2016 – Allerletzt: Hagen Quartett spielt Schostakowitsch und Schubert

Wie Odysseus den Hades, so betritt der Konzertgänger den Kammermusiksaal, wo nicht Letztes, sondern Allerletztes gespielt wird – im Mai, während draußen der Flieder blüht und die Bauchnäbel lächeln. Das Hagen Quartett hat sein Februarkonzert krankheitsbedingt in den Wonnemonat verschoben, aber die ursprünglich geplanten Haydn, Webern, Schumann durch ein winterliches Programm ersetzt: Schostakowitschs letztes Streichquartett mit sechs Adagios in es-Moll und Schuberts letztes Streichquartett mit ultimativ todesseliger Dur-Moll-Gleiche.

In Dmitri Schostakowitschs kurz vor seinem Tod geschriebenen 15. Streichquartett es-Moll op. 144 (1974) kommt die vielgepriesene Homogenität des Hagen Quartetts zunächst kaum zur Geltung – weil die vier Stimmen in diesem dem Ende entgegen brütenden Spätwerk kaum je zusammen spielen, sondern einzeln, unverbunden, entwicklungslos bleiben. In sechs ineinander übergehenden langsamen Sätzen wie Elegie und Trauermarsch – eine Überhöhung der Möglichkeit des getragenen Zeitmaßes, wie die Musikwissenschaft (Karl Schumann) lustig formuliert. Das allerdings in schmerzlich konzentrierter Klarheit: Die erste Geige leichenblass, die zweite aschfahl, die Bratsche sterbensmüde, das Cello totenbleich. Kurzum, wunderbar. Durchaus eine Geduldsprobe, die aber besteht, wer sich in Trance fallen lässt.

Unglaublich leuchten danach die G-Dur-Akkorde in Franz Schuberts 15. Streichquartett G-Dur D 887 (1826) – und unfassbar bedrückend klingt der stante pede folgende Umschlag in g-Moll. Noch niederschmetternder ist nur der umgekehrte Weg von g-Moll zu G-Dur in der Reprise des Kopfsatzes. (Ian Bostridge bemerkt in seinem Buch über die Winterreise, dass Dur bei Schubert immer trauriger ist als Moll.) Brüchiger, als das Hagen Quartett sie spielt, können Tremoli wohl kaum klingen; gläserner kein Gesang als erste Geige und Cello (Clemens Hagen) ihn singen. Der Primarius Lukas Hagen schwingt sich zitternd, doch traumhaft sicher, ja paradox warm in die eisigsten Flageolettregionen auf.

Winterreise-Flair auch im Andante. Und wenn im Scherzo die prägenden Tremoli scheinbar heiter werden, schüttelt es den Hörer durch und durch; überdies so perfekt gespielt, dass man fast erleichtert ist, als man dem aufs Äußerste geforderten Primarius einen hohen Ton verrutschen zu hören meint. Bezaubernd das Ländler-Trio in seiner extraterrestrischen Vollkommenheit. Die unendlich traurige Vorschlag-Fröhlichkeit des Finales, wünscht man sich, möge eben das sein: unendlich.

Wie kann der Flieder blühen, wenn Schubert tot ist?

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7.5.2016 – Intim dissonant: Vogler Quartett spielt Haydn, Strawinsky, Beethoven

Mal wieder Zeit für ein Lob des Kleinen Saals: Die Akustik ist dort vielleicht nicht so brillant und ausgewogen wie auf den besten Plätzen im philharmonischen Kammermusiksaal. Aber dort ist eben nur die Hälfte der 1.180 Plätze brauchbar, während man im Kleinen Saal des Konzerthauses auf allen 400 Plätzen ordentlich hört. Und vor allem: intim.

Da glättet und schönt sich keine unsaubere Intonation, aber von ungehobelter emotionaler Vehemenz geht auch keine Schramme verloren: Ein Leidensschrei bleibt ein Leidensschrei. In Beethovens Streichquartett Es-Dur op. 74, das wegen ein paar Pizzicati im Kopfsatz den läppischen Beinamen Harfenquartett nicht los wird, spürt man intensiv eine gewisse Gewalt und leidet in der keineswegs beschaulichen Einleitung des ersten Satzes bei jenen Notrufen mit, die ein Uraufführungsrezensent 1811 als unnötigen Wirrwarr harter Dissonanzen bezeichnete. Das Vogler Quartett (dessen beide Geiger nicht nach Papier, sondern vom Tablet spielen) poliert wie gewohnt nichts, sondern kehrt das Unnötige, Wirrwarrige, Harte, Dissonante hervor, auf dass das Makellose umso heller leuchte: hart an der Grenze der schönen Kunst, wie der Rezensent von 1811 schrieb, mit durchaus richtigem Gespür (auch wenn er das Ganze als Folter empfand). Das Scherzo, in dem das dadada-dam der Fünften sich in einen 3/4-Takt verirrt hat, reißt ebenso mit wie der finale Variationensatz, der in einen beeindruckenden Schlussspurt mündet; das Fotofinish sieht die Musiker im selben Moment die Ziellinie überqueren, den Cellisten Stephan Forck vielleicht am elegantesten.

Warum dieses Quartett im Vergleich zu den vorhergehenden Rasumowsky-Quartetten als leicht, ja beschaulich gilt, fragt man sich angehörs dieser intensiven Interpretation. Am schönheits- und spannungsgeladenen Schluss des Adagio ma non troppo bewundert man zudem, wie die vier Musiker im Ansturm eines unnötigen Wirrwarrs hustender Dissonanzen (als wäre November, nicht Mai) ihre Konzentration bewahren. Der Konzertgänger hätte zurückgebellt; aber er ist ja zum Glück kein Musiker, nur Hörer.

Und bei jedem Beethoven-Streichquartett, das er hört, denkt er unweigerlich: Das ist wirklich ein besonders aufwühlendes! Bei jedem Haydn-Quartett denkt er hingegen: Das ist wirklich ein besonders originelles! So auch bei Joseph Haydns Streichquartett G-Dur op. 77, 1 (Hob III: 81), das das Konzert eröffnet.

Es wäre interessant gewesen, wie viele Hörer wohl bemerkt hätten, dass es sich nicht um das B-Dur-Quartett op. 71, 1 handelt; aber der Primarius Tim Vogler macht freundlicherweise schon vorher auf den Fehler im Programmheft aufmerksam. Elegant und gutgelaunt, aber mit einem für Haydn ungewohnt intensiven, ja romantischen Adagio, in dem das eindringliche Thema in breitem Unisono beginnt und dann durch die Stimmen wandert. Der dynamische dritte und vierte Satz hätten auch dem Sohn des Konzertgängers gefallen, der gleichwohl lieber zuhause geblieben ist, weil er sich mit neun Jahren innerlich noch nicht bereit für Streichquartette fühlt.

Am meisten hätte er sich aber zweifellos über die größte Überraschung gefreut, die in der Mitte des Programms steht: Igor Strawinskys wunderbar schräge Drei Stücke für Streichquartett von 1915. Bessere Anwälte dieses bedauerlich unbekannten Werks könnte man sich nicht wünschen. Das Quartett spielt nämlich nicht nur engagiert, sondern gibt zuvor eine sehr nützliche ausführliche Einführung: informativ, aber nicht bevormundend. Die Musiker spielen die verschiedenen Stimmen an und schlagen assoziative Bilder vor, aus denen der Hörer dann die aussuchen kann, die seinem Ohr frommen – wenn er will, auch alle: Dann hört er im ersten Stück einen an der ratternden Druckmaschine tanzenden Bauern, über dem eine wackelkontaktige Glühbirne sirrt, während in seinem Rücken ein wütender Hund bellt. Aus einer ganz anderen Sphäre klingt das dritte Stück herüber, mystisches Murmeln, in dem die Zeit aufgehoben scheint. Dies irae und Kyrie eleison gewinnen flüchtige Kontur. Die kaum, dann gar nicht mehr zu hörende Bratsche am Schluss dieses Stückes wird zum Höhepunkt des Abends.

Zugabe, vom Publikum durch unangenehm rhythmisches Klatschen erbeten: der vibratoreich gespielte 9. Kontrapunkt aus Bachs Kunst der Fuge, Vorgeschmack auf das nächste Konzert des Vogler Quartetts am 12. November.

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28.4.2016 – Akazisch: Artemis Quartett spielt Wolf, Janáček, Beethoven im Kammermusiksaal

Unter all den Janáček-Wundern sind seine beiden Streichquartette nicht die geringsten. Auch in ihnen hopst die Musik von einer Motiv-Insel zur nächsten und erzeugt dabei einen gleichsam buddhistischen Rausch des Mitleidens, von dem Parsifal nur träumen kann. Im Fall von Leoš Janáčeks Streichquartett Nr. 1 „Kreutzersonate“ tritt ein Mirakel hinzu, das eigentlich eine produktive Fehllektüre ist: Ich hatte die arme, gequälte, geschlagene, erschlagene Frau im Sinne, über die der russische Schriftsteller Tolstoj in dem Werk ‚Die Kreutzersonate‘ schrieb.  Janáček hat die abstoßend misogyne und misomusische Erzählung, in der das Alter Ego des Autors sich selbst bejammert und talibangleich erlöst (mittels Eifersuchtsmord an der musizierenden Gattin), in einem nur neuntägigen Schaffensanfall in ein Stück des Leidens und Erbarmens von derart aufwühlender Menschlichkeit und Schönheit verwandelt, dass es kaum auszuhalten ist. 

Zumal wenn das Artemis Quartett es spielt.

Eindringlich nicht nur, weil Violinen und Bratsche stehen; der spürbar leitende Cellist Eckart Runge sitzt auf einem Podest, der Augenhöhe wegen. Das im dritten Satz versetzt einfallende Kreischen der zweiten Geige und Bratsche rüttelt und schüttelt einen durch und durch. Auch der Gedanke an die Katastrophe, die das Quartett im vergangenen Sommer getroffen hat, macht diese Musik unerträglich intensiv.

Damit kann man guten Gewissens keinen Menschen in die Nacht entlassen. (Auch wenn das kultivierte Publikum bestimmt einiges abkann: auffällig viele Franzosen unter den Zuhörern, ein weltberühmter Theologe, der Bundesfinanzminister.) Es ist schön, dass man bei der „Kreutzersonate“ noch das luftige Eröffnungsstück des Abends im Ohr hat, Hugo Wolfs Italienische Serenade G-Dur. Die Zerbrechlichkeit und Gefährdung, die den hellen Ton der Primaria Vineta Sareika kennzeichnen und bei Janáček so markerschütternd wirken, zeigen sich in diesem lustigen Rondo von einer ganz anderen Seite: vergebliche Liebesmüh eines nächtlichen Sängers.

Im Adagio von Beethovens Razumovsky-Streichquartett F-Dur opus 59, 1 mit seiner insistierenden Klagefigur, dem Trauerweiden- oder Akazienbaum aufs Grab meines Bruders, ist einem freilich, als hörte man Janáčeks „Kreutzersonate“ von neuem. Der leidenschaftliche Ton des Cellisten Runge, der den ellenlangen Kopfsatz pastoral und drängend zugleich eröffnet und sich im Adagio dann in berührende Diskanthöhen hinaufsingt, prägt das ganze Stück. Die Neue im Quartett, Anthea Kreston, setzt gelegentlich wohltuende ironische Kontrapunkte , wie es auf seine stoische Weise auch der zur Bratsche gewechselte Gregor Sigl tut. Und fast (aber nur fast) ist man erleichtert, dass die mitreißende Musik im Finale abbricht, weil Sigl die Saite gerissen ist: So hochprofessionell das Quartett nach einigen Minuten mit den Trillern der ersten Geige erneut den Schlusstanz einleitet, ist der emotionale Sog natürlich futsch, zumal Sigl die neue Saite beim Spielen unauffällig nachstimmen muss.

Beim ätherischen Stillstand kurz vor Schluss bedauert der Konzertgänger, dass Beethoven als Wiener Klassiker, der er ja 1806 noch mehr oder weniger war, das Stück nicht hier schon zu Ende sein lassen konnte. Dort, vor den knalligen Schlussakkorden, sollten mal die Saiten reißen!

Zugabe der vierte Satz aus KV 387. Den ganzen Mozart gibt’s im nächsten Berliner Konzert des Artemis Quartetts am 23. Mai.

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15.4.2016 – Schumann plus: Mandelring Quartett und Ian Fountain im Kammermusiksaal

Der Fröhliche Landmann ist anno 2016 ein Jazzpianist: Der österreichische Komponist Paul Engel, dessen künstlerisches Wirken sich von einer frühen Rolle im Heimatfilm Die singenden Engel von Tirol bis zu Werken wie Korrelation und Metasinfonia erstreckt, hat ein Klavierquintett Hommage à Robert Schumann geschrieben, das man strukturell als Tondichtung Ein Romantikerleben bezeichnen könnte. Am biografischen Schnürchen sind die sieben Abschnitte des Stücks aufgefädelt, von der Kindheit bis zur finalen Melancholie mit Wahn. Engels musikalische Sprache hat aber zum Glück gar nichts von symphonischer Dichtung, sondern ordnet jeder Station eine Klangsphäre zu, die auf musikalischen Assoziationen beruht, dem Album für die Jugend und den Davidsbündlertänzen etwa oder auch dem Violinkonzert des Hamburger Bewunderers Brahms.

Ein noch größeres Glück ist es, dass Engel dem Zuhörer leidiges Zitate-Raten erspart (auch wenn manche Phrasen einen anspringen, wie anfangs der Fröhliche Landmann). Stattdessen dominieren freie poetische und jazzige Klänge diese Traumreise, insgesamt vielleicht etwas additiv, aber doch von so unmittelbar ansteckender Musikalität, dass auch die asiatische Umblattlerin des Pianisten mitwippt. Aus einer anderen Welt, einem Kosmos ohne Taktstriche scheint hingegen der Ur-Melos im Zentrum der Komposition herüberzutönen, der sich als einziger Abschnitt nicht auf ein konkretes Schumannstück bezieht. Stattdessen: Clara. Ein Wechselgesang der Streicher über unendlich andauernden Liegetönen und  unaufhörlichem Pendeln des Klaviers, der an die beiden Louanges in Messiaens Quatuor pour la fin du temps erinnert, sich von diesem aber durch eine geradezu orgasmische Steigerung unterscheidet.

Der Pianist Ian Fountain gesellt sich an diesem Schumann gewidmeten Abend zum Mandelring Quartett im Kammermusiksaal. Nur abseits des Klaviers wirkt der hochaufgeschossene Engländer mit großer Brille und schlottrigem Sacko ungelenk. Sein Zusammenspiel mit dem Quartett ist so umsichtig und fein abgestuft, dass man sich wünscht, es möge ewig weitergehen. Schon im eröffnenden Allegro brillante von Robert Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44 werden trotz Kraft und Frische (Clara Schumann) innehaltende Momente von fast tschaikowskyhafter trauriger Schönheit hör- und spürbar, die den folgenden langsamen Satz dann ja völlig dominieren: das vereinzelte Seufzen (besonders eindrucksvoll die schmerzlichherb klingende Bratsche von Andreas Willwohl) und das gemeinsame Seufzen in den schwerelos aufsteigenden Inseln der Erinnerung – ein Triumph der perfekt abgestimmten Agogik des Quartetts und ihres Gastes. Irritierend fest wirkt danach der sichere Boden, auf dem die Sätze 3 und 4 sich bewegen. Und vielleicht kunstvoller und trotz der scheinbar schlichten Form elaborierter, aber bei weitem nicht so unmittelbar berührend ist das als Zugabe gespielte schöne Andante aus Brahms‘ Klavierquintett.

Ein Muster an Spielkultur war bereits Schumanns Streichquartett a-Moll op. 41,1, mit dem die Mandelrings noch ohne Gast den Abend eröffneten: Unsagbar sanft sinken sie in die Andante espressivo-Einleitung dieses Stücks hinein, in dem alles singt, jede Fuge wie ein Kanon klingt. Wunderschön das zum Zerreißen gespannte Adagio. Als im Presto-Finale, kurz vor Schluss, die rasanten Abwärtsläufe innehalten, die Welt stehenbleibt in atemlosem Schumannglück, erinnert nur ruchloses Handybimmeln den Hörer daran, dass er sich noch im Diesseits befindet.

Am 4.6. kann er es wieder verlassen, dann spielt das Mandelring Quartett unter dem Motto Genie und Wahnsinn Mozart, Ullmann und das 3. Quartett von Schumann.

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12.3.2016 – Unkanarisch: Computerkompositionen bei MaerzMusik

Wenn Computer mittlerweile nicht nur in Trivialspielen wie Schach, sondern sogar im verzwackten Go humane Champions ausknocken, warum sollen sie nicht auch komponieren? Bei MaerzMusik stellen menschliche Musiker am Samstag im Haus der Berliner Festspiele mehrere Werke vor, die von Maschinen komponiert wurden: Zunächst in einem historischen Exkurs ein von nahezu antiker Informatik ersonnenes Streichquartett, die Illiac Suite von 1957. Offenhörlich wurde das Programm mit diversen Streichquartetten und Harmonielehrbüchern gefüttert, die ersten Sätze sind diatonisch, die hinteren chromatisch. Da denn doch das gewisse musikalische Etwas fehlt, beschäftigt man sich wie beim lustigen Zitatesuchen damit, den Input herauszuhören und sich über die Individuierung durch die menschlichen Musiker zu freuen, vier Streicher vom Ensemble KNM Berlin.

Da sind die aktuellen Elaborate des Iamus Computers des Biomimetischen Instituts der Universität Málaga schon eine andere Herausforderung. Man erfährt, dass Iamus seine Werke generiert, indem er, evolutionäre Prozesse simulierend, musikalische DNA mutiert – was auch immer das heißen mag, das Hörerlebnis ist verstörend. Der Pianist Gustavo Díaz-Jerez spielt (mit Papiernoten und Umblattlerin) mehrere Stücke am Konzertflügel vor, die ziemlich komplex dahinfließen. Offenbar, sagt das Ohr, in den Jahren nach 1900 komponiert. Zweifellos hielte man es für ein sehr atmosphärisches Stück, wenn Díaz-Jerez, der auch Komponist ist, es als sein eigenes Werk ausgäbe, vielleicht mit dem Titel Noche Canaria. Aber wir wissen ja, woher es kommt; zumindest ungefähr, das mit der Simulation evolutionärer Prozesse und Mutation musikalischer DNA haben wir nicht verstanden.

Man kann nun die Augen schließen und sich als Ort dieser Musik eine Planet-Solaris-Cogitare-ergo-essere-Sphäre vorstellen. Oder als Urheber einen qua Mysterium depersonalisierten Skrjabin. Aber das hilft nur bedingt. Obwohl der Musikfrankenstein der Universität Málaga Francisco José Vico überaus sympathisch wirkt und zur Diskussion einlädt, setzt sofort nach dem letzten Ton eine geradezu panikartige Flucht des Publikums ein, die beweist, dass dieses Konzert (ex negativo) an etwas Entscheidendes rührt, was Musik selbst in ihrer avantgardistischsten Form den meisten Menschen bedeutet: Kommunikation mit einem Urheber. Man begreift schlagartig, wie sich ein Mensch in Konzerten fühlen muss, dem (wie etwa Robert Musil) der Rezeptor für die kommunikative Qualität von Musik völlig abgeht: gewaterboarded. Ob sich Díaz-Jerez‘ Vorschlag erfüllen wird, der Tondichter der Zukunft solle Iamus ganz pragmatisch als kompositorisches Tool benutzen, bleibe dahingestellt.

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24.2.2016 – Anmutig erschütternd: Mandelring Quartett spielt Beethoven, Schostakowitsch, Brahms

Ein untrügliches Indiz dafür, wie gut das Mandelring Quartett ist, sind die vielen Streicher im Publikum: Lauter Geigen-, Bratschen- und Cellokästen werden an der Garderobe des Kammermusiksaals abgegeben, wo jeder Schatz sicher liegt wie in Abrahams Schoß. Nur die neue Garderobenfrau fragt eine Japanerin, die ihr den Geigenkasten reichen will: „Ist er sehr schwer?“

Aber es ist kein Konzert nur für Spezialisten. Als kleine Einstiegshilfe gibt das Mandelring Quartett seinen Programmen (ähnlich wie das Freiburger Barockorchester) hübsche Titel, an diesem Abend Anmut und Erschütterung. Auch Antrieb und Erstarrung könnte man sich vorstellen, wenn man die 3 Werke dieses Abends hört. Denn purer Antrieb ist das Streichquartett D-Dur op. 18, 3, das entgegen der Nummerierung früheste Quartett von Ludwig van Beethoven (1798/99). Obwohl Beethoven hier noch auf Ignaz Schuppanzighs elende Geige Rücksicht nahm, sprach bereits der Geist zu ihm, und die mozart-haydnsche Anmut wird immer wieder erschüttert. Am explosivsten klingt der leiseste Satz, nämlich der dritte: Da rumort schon das Scherzo, aber nie über die Grenze des Halblauten. Das dramatische Feuerwerk im Finale klingt dann gar nicht mehr nach Haydn. Die vielgerühmte Homogenität des Mandelring Quartetts klingt in den ersten Minuten noch leicht getrübt, aber das sind Lappalien, die einem bei einem anderen Quartett gar nicht auffielen. Dass der Bratschist Andreas Willwohl erst seit einigen Monaten dabei ist, nicht schon seit Jahrzehnten, bemerkt (wie schon beim Mendelssohn-Marathon im Radialsystem im November) kein Mensch, der es nicht weiß. In der Pause nach dem ersten Satz schaut der Primarius Sebastian Schmidt belustigt ins Publikum, das sich wie auf Knopfdruck einen abhustet.

Nicht nur leicht, sondern extrem getrübt beginnt dann das Streichquartett Nr. 8 c-Moll  von Dmitri Schostakowitsch, was bei diesem Werk kein Mangel, sondern Sinn der Sache ist: Offiziell der Erinnerung an die Opfer des Faschismus und des Krieges gewidmet, schnüren dem Hörer die Gewalt des 2. Satzes und das aufklingende jüdische Klagelied den Hals zu, genau wie die Akkordsalven im 4. Satz, die an eine Hinrichtung denken lassen. Zugleich ist das Quartett mit seinem berühmten manischen D-Es-C-H-Motiv unüberhörbar persönlich. Unnachahmlich der Brief an Isaak Glikman, in dem Schostakowitsch es als vorweggenommenes Requiem auf sich selbst beschreibt, und weiter:

Dieses Quartett ist von einer derartigen Pseudotragik, dass ich beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe, wie man Wasser lässt nach einem halben Dutzend Bieren. Zu Hause angekommen, habe ich es zweimal zu spielen versucht , und wieder kamen mir die Tränen. Aber diesmal schon nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern auch wegen meines Erstaunens über die wunderbare Geschlossenheit seiner Form.

Das Mandelring-Quartett, von dem es eine außerordentliche Gesamteinspielung der Streichquartette gibt, beherrscht den fahlen, schneidenden, klagesingenden Schostakowitsch-Ton vollkommen; das Singende an diesem Abend besonders eindrücklich der Cellist Bernhard Schmidt im 3. und 4. Satz.

Ob man das D-Es-C-H-Motiv nun, wie ein Hörer es tut, in der Pause auf der Toilette pfeifen muss, ist Geschmackssache. (Aber auch der Sohn des Konzertgängers hat es schon mit sechs Jahren auf dem Klavier geklimpert; es gefälllt ihm besser als B-A-C-H.)

Selbst Johannes Brahms‘ Streichquartett c-Moll op. 51,1 ist kein Fall nur für Spezialisten, im Gegenteil. Zwar gehört es zu Brahms‘ Werken mit unfassbar komplexen Außensätzen, die man desto weniger anzuhören wagt, je mehr man darüber liest. Zumal wenn man erfährt, dass Schönberg im Aufsatz Brahms, der Fortschrittliche seinen furchteinflößenden Begriff der entwickelnden Variation an ebendiesem Quartett belegte; und dass Brahms 20 Jahre lang 20 fertige Quartette in die Tonne kloppte, bevor er dieses eine gelten ließ.

Der Laie kann im Kopfsatz  und im Finale zwar kaum nachvollziehen, wie sich die Musik entwickelnd variiert und variierend entwickelt. Aber dass sie es tut, hört er doch. Und wie die grimmigen und melancholischen Figuren einander packen und weiterziehen und voranschleudern, packt, zieht und schleudert auch ihn. Besonders ergreifend bei Brahms immer die Momente, in denen der hyperkomplexe Dauerantrieb für einen Moment erstarrt, als begriffe er sich selbst nicht mehr – für den Konzertgänger neunzehntes Jahrhundert schlechthin.

Er wundert sich nur, wie man das alles in solcher Perfektion zusammenspielen kann wie das Mandelring Quartett, ohne dass einem die Einzelteile um die Ohren fliegen.

Und dann ist da ja immer noch die innige, fast schon beschämende Schönheit der brahmsschen Mittelsätze. Keine pragmatische Entlastung für den strapazierten Hörer, sondern ästhetisch notwendiges Komplement zu den ungeheuren intellektuellen und emotionalen Entladungen der Rahmensätze. An diesem Abend ist alles da, was Brahms ausmacht: die Süße der Logik und die Logik der Süße – Anmut und Erschütterung.

Als Zugaben das Menuett aus Haydns Opus 71, 2 D-Dur und das Assez vif et bien rythmé aus Debussys Streichquartett.

Das Mandelring-Quartett kommt wieder nach Berlin am 15. April plus Klavier, am 4. Juni mit Genie und Wahnsinn.

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13.2.2016 – Serioso: Vogler-Quartett feat. Taner Akyol

Das Streichquartett ist untoter denn je. Es gibt eine Menge großartiger Nachwuchs-Ensembles; das Publikum wird nicht kleiner, höchstens feiner; das langjährig eingespielte Mandelring-Quartett zieht Hörer in Scharen mit kompromisslosem Mendelssohn non-stop an (und  beginnt nächste Woche seinen neuen Berlin-Zyklus).

Das seit über 30 Jahren erprobte Vogler-Quartett hat ein treues Publikum, das bei seinen regelmäßigen Auftritten im Konzerthaus den Kleinen (aber feinen) Saal zuverlässig füllt. Die Musiker belohnen es, indem sie die Standardwerke des Repertoires immer wieder mit überraschenden, verblüffenden, auch irritierenden Novitäten kombinieren und interessante Gäste einladen: etwa den Kompon-/Klarinettisten Jörg Widmann oder den Paradiesvogler Moritz Eggert.

Wenn diesmal der 1977 geborene Taner Akyol sich mit seiner Bağlama zum klassischen Streichquartett dazugesellt, gehen in Hatirlamalar (Erinnerungen) türkische Melismatik und die A- und Mikrotonalität der Neuen Musik die organischste Verbindung ein; wunderbar, wie am Schluss die Zupf- und Klopfwellen quer durch die Instrumente laufen. Aber das musikalische Potenzial der Bağlama hat sich bereits bis zu Jugend musiziert herumgesprochen.

Die zweite Akyol-Komposition an diesem Abend ist für Streichquartett pur geschrieben. So leid es einem tut, nicht noch mehr Bağlama zu hören, beweist die Uraufführung von Berkin eindrücklich, dass Akyol viel mehr ist als „nur“ ein Virtuose auf seinem Instrument. Das liegt nicht nur am erschütternden Hintergrund des Stückes, das Akyol dem 15jährigen Berkin Elvan gewidmet hat, der am Rand der Gezi-Proteste durch ein Tränengasgeschoss der türkischen Polizei getötet wurde. In Akyols Berkin spricht unverkennbar das Vokabular der Neuen Musik, aber im Dienst höchster Ausdrucksintensität und mit einem vollen Sound, der im besten Sinn folkloristisch wirkt. Vor dem rasend bewegten Schlussabschnitt, in dem Verzweiflung und Hoffnung aufeinander prallen, gibt es eine lange, in immer höhere Regionen steigende elegische Passage, die fast an Samuel Barbers Adagio for Strings erinnert. Will sagen: Akyol komponiert auf eine Weise, die direkt zum Hörer spricht.

Akyol ist in Berlin u.a. mit seinem gleichnamigen Trio und mit der Kinderoper Ali Baba und die 40 Räuber an der Komischen Oper zu erleben. Ganz nebensächlich hingegen die Tatsache, auf die die Frau des Konzertgängers aufmerksam macht: „Neben diesem feschen Türken seht ihr Deutschen aus wie Kartoffeln.“

Eins wäre aber zu verbessern: Die interessante Einführung, die Tim Vogler gibt und in der Akyol eine Dur-Tonleiter anatolischen nichttemperierten Modellen gegenüberstellt, etwa der Hüseyin-Skala, ist zumal von den hinteren Plätzen akustisch kaum zu verstehen.

Die beiden Streichquartett-Klassiker, die Akyols ausdrucksstarke Musik an diesem Abend sehr durchdacht rahmen, gehören zu den intensivsten Vertretern ihrer Gattung: In Beethovens äußerst verknapptem Streichquartett f-Moll op. 95 (1810), dem Quartetto serioso, prallen schon in den ersten 10 Sekunden die gegensätzlichsten Emotionen aufeinander, stürmische Bewegung einerseits, hoffnungslos sich entgegenwerfende Schönheit andererseits. Genau das richtige Stück also für das Vogler-Quartett, bei dem konzentrierte Expressivität immer über geschmeidigem Wohlklang steht. Der fahle Septakkord zwischen Allegretto und Scherzo verschlägt einem den Atem ebenso wie die ausdrucksstarke Einleitung zum Finale. Schade nur, dass während des Trios eine Dame mit klackernden Absätzen den Saal umrundet – ein akustisches Inferno, wie der Konzertgänger es von zuhause kennt, wenn die Tochter in Mamas guten Stiefeln feine Dame spielt; aber dort stört es nur die Nachbarn, nicht Beethoven. Nicht störend, sondern geradezu bizarr ist die Coda dieses Quartetts: Auch wenn man bei Beethoven nun wirklich manches ad aspera ad astra kennt, klingt dieser jubelnde Dur-Schluss wie angeklebt.

Auch in Bedřich Smetanas 1. Streichquartett e.Moll ‚Aus meinem Leben‘ entsteht die Musik aus kleinen, hochexpressiven Gesten, aber was herauskommt, ist keine aphoristische Verdichtung, sondern epische Breite. Es ist eins der erschütterndsten und unterhaltsamsten Quartette zugleich. In der Polka schrummeln die Voglers mit stoischer Präzision, und dem Konzertgänger ist trotz Fastenzeit, als hätte er schon zehn tschechische Biere intus und es gäbe keine Zeit mehr. Doch im Schlusssatz erklingt unabwendbar die Katastrophe, das viergestrichene Tinnitus-E der ersten Geige; und auf heftigem Tremologrund wirbeln die Erinnerungen an Leben, Lust und Liebe der vorderen Sätze verzweifelt dem Untergang entgegen.

Als Zugabe reißt Erwin Schulhoffs grandiose Tarantella das Publikum von den Sitzen. Am 7. Mai sieht man sich wieder im Kleinen, aber feinen Saal des Konzerthauses.

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14.11.2015 – Ausdauernd: Mandelring Quartett zelebriert stundenlang Mendelssohn

Erstens: Vive la France!

Zweitens: Darf man den Abend nach einer Nacht des Schreckens im Streichquartett-Elysium verbringen? Aber man hört ja auch himmlische Kammermusik und göttliche Symphonik, während syrische Familien von Fassbomben ausgelöscht werden, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Bomben in Beirut explodieren. Der Name Mendelssohn steht für alles, was die Attentäter von Paris zerstören wollen: Lebensfreude, Wissbegier, Sanftmut, Liebe, Schönheit, Menschlichkeit. So ist es kein hilfloser Akt der Anteilnahme, sondern ganz passend, wenn das Mandelring Quartett das letzte Stück des Abends, von Felix in Trauer um seine gestorbene Schwester Fanny komponiert, den Opfern in Paris widmet.

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Es ist der Ausklang des Mendelssohn pur-Wochenendes, das Freitagabend mit den beiden Streichquintetten begann. Als eigentliche Herausforderung für Hörer wie Musiker gibt es am Samstagabend alle sieben Streichquartette von Felix Mendelssohn Bartholdy – ein Streichquartettabend in Lohengrin-Länge ist sogar in Berlin etwas Besonderes. Im Radialsystem V ist man regelmäßig schon bei Konzertbeginn geschlaucht, das lange Anstehen und Hineindrängeln hat easyjet-Flair; der Ort bliebe auch cool, wenn man kulturspießig die Plätze nummerieren würde. (Man muss ja nicht gleich so weit gehen und die Sitze polstern; der Nachbar des Konzertgängers, ein älterer Herr, hat sich ein Sitzkissen mitgebracht, daran erkennt man den Profi.)

Im ersten Teil des Konzerts gibt es die drei frühen Streichquartette Es-Dur ohne Opus, a-Moll op. 13 und Es-Dur op. 12 (1823, 27, 29). Logischerweise wiederholen sich die kompositorischen Mittel und Strukturen, aber man hört Mendelssohn ja nicht, weil er die Formen neu erfunden hätte. Im Gegenteil, in diesen im Alter zwischen 14 und 20 komponierten Werken spürt man den Segen der festen Form, in die ein hochbegabter Geist sich ergießen kann, statt erst einmal jahrelang um Form zu ringen. Faszinierend ist der oft barocke Sound dieser Stücke mit ihren vielen Fugati. Die eingängigen Mittelsätze, liedhaft und funkensprühend, erleichtern natürlich den Start in den Marathon. Der langsame Satz des a-Moll-Quartetts ist erschütternd intensiv für einen doch erst 18jährigen Komponisten. Das ebenso großartige Vogler Quartett hat dieses Stück mit seinem wehmütigen langsamen Rahmen vor einer Woche im Konzerthaus ergreifend gespielt; das Mandelring Quartett geht die Mittelsätze grundsätzlich schneller an, ohne romantische Breite, aber auch frei von klassizistischer Glätte, mit traumhaft singendem Ton zumal der ersten Geige (Sebastian Schmidt). Aber im Grunde ist es ungerecht, einen einzelnen hervorzuheben. Obwohl Andreas Willwohl an der Bratsche (als Leber des Quartetts, wie er sagt) erst im Sommer zu den drei Geschwistern Schmidt dazugestoßen ist, hat das Quartett eine homogene Spielkultur, als wäre es schon ewig in dieser Besetzung unterwegs.

In den brillanten drei Streichquartetten op. 44 D-Dur, e-Moll und Es-Dur könnte die perfekte Sonatenhauptsatzform der Rahmensätze den Hörer in Sicherheit bis Schlaf wiegen, aber das Mandelring Quartett musiziert sie (mit allen Wiederholungen) so feurig, dass daran nicht zu denken ist. Sollte sich an den Hörer der Gedanke an eine Bulette o.ä. heranschleichen, so verscheuchen ihn die himmlischen Arabesken der ersten Geige in Menuett und Andante des D-Dur-Quartetts oder die Coda des e-Moll-Quartetts, in der die Fetzen fliegen – aber sowas von konzis. Machen die Mandelrings gar nicht schlapp? Jedenfalls spielen sie länger präzise als das Ohr des Konzergängers präzise hört. Mag auch dieser und jener Hörer auf dem harten Stuhl herumrutschen, so verrutscht den Musikern kein Strich.

Und der Großteil der Hörer bleibt bis zum Schluss, gebannt bis berauscht. Das Streichquartett f-Moll op. 80 (1847), ein kammermusikalisches Requiem für Fanny, öffnet jeden Geist, der zwischendurch dichtgemacht hat: voll Zittern und Zagen und erschütternder Schreie, die fast die Form sprengen – aber nur fast, denn was dem jungen Komponisten den schöpferischen Absprung ermöglicht, gibt angesichts des Todes Halt: Form. Vom Mandelring Quartett bis kurz vor Mitternacht in nicht nachlassender Präzision zelebriert.

Nächstes Jahr spielen sie alles von Brahms.

Zum Konzert. Zum Mandelring Quartett. Zur Mendelssohn-CD des MQ.

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7.11.2015 – Wesentlich: Vogler Quartett spielt Mendelssohn, Grigori Frid und Beethoven

Binsenweisheit, dass jeder ein Stück anders hört. Aber manchmal, in besonderen Situationen, bringt ein Hörer ins Konzert etwas ganz Eigenes mit, was im Stück nicht angelegt ist, aber die Musik doch irgendwie hergeben muss. So geht es dem Konzertgänger im Kleinen Saal des Konzerthauses mit dem langsamen Schluss von Felix Mendelssohn Bartholdys Streichquartett a-Moll op. 13, wo er hörend die dritte Strophe eines kürzlich gehörten Kirchenliedes assoziiert: Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können / und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, / das haben wir zu danken seinem Segen.

Bei einem Werk des Komponisten der Reformationssymphonie sich an einen Text von Paul Gerhardt zu erinnern, kann nicht ganz falsch sein, auch wenn atmosphärisch kaum Gemeinsamkeiten bestehen (und erst recht nicht musikalisch zu Johann Crügers Vertonung). Das Werk des 18jährigen Mendelssohn, geschrieben 1827 kurz nach Beethovens Tod, ist kein kammermusikalisches Morgenlied, sondern ein stürmisch bewegtes Stück, das mit einer fast identischen Adagio-Passage beginnt und endet; dieser Rahmen ist es, der aus einem hochbegabten Frühwerk tiefberührende Musik macht. Wie exzellent gearbeitet die einzelnen Sätze sind, wird deutlich, als das Vogler Quartett am Schluss des Konzerts den rhythmisch prägnanten dritten Satz als Zugabe wiederholt. (Es sollten öfter Stücke in einem Konzert zweimal gespielt werden, es ist fast immer ein Gewinn für den Hörer.)

Featured imageEine Beethoven-Hommage ganz anderer Art ist das Streichquartett op. 70, das der 2012 verstorbene Grigori Frid 1977 im Gedenken an den 150. Todestag komponierte. In Deutschland ist Frid fast unbekannt, höchstens seine Kammeroper nach dem Tagebuch der Anne Frank bildet eine Ausnahme. In dem Streichquartett, das erst vor wenigen Wochen beim Hamburger Kammermusikfest seine deutsche Uraufführung erlebt hat, geht Frid von vier Beethoven-Motiven aus (aus zwei Rasumowsky-Quartetten sowie den späten Quartetten op. 131 und 132). Was man hört, hat aber nichts mit akademischer Erbsenkomponiererei zu tun, sondern ist eine erstaunlich einheitliche, ziemlich düstere Klangvision irgendwo zwischen spätem Schostakowitsch und junger Gubaidulina. Dass ein Streichquartett momentweise wie ein großes Orchester klingen kann, weiß der Kammermusikfreund natürlich. Bei Frid lernt er, dass es auch klingen kann wie ein großes Orchester, das Cluster spielt: erstaunlich, dass vier Streicher so viele Töne gleichzeitig hervorbringen können. Man bekommt Lust, mehr von Frid kennenzulernen; und fragt sich, wie viele große Unbekannte (man denke an Mieczysław Weinberg) die Wundertüte russisch-sowjetische Musik noch verbirgt.

Das seit 30 Jahren bestehende Vogler Quartett, für die Frau des Konzertgängers deutsch und protestantisch bis ins Mark, spielt Mendelssohn wie Frid auf seine spezifische Art, für die der Janowski-Slogan gelten könnte: Das Wesentliche ist die Musik. Ohne Effekthascherei, in vollkommenem Zusammenspiel, dem jener hochpolierte Glanz abgeht, der perfekt, aber leblos wirkt. Für die Wahrheit des Ausdrucks werden auch mal Unsauberkeiten in der Tongebung in Kauf genommen, was nichts mit Schlamperei zu tun hat; im Gegenteil, Hochglanz ist Schlamperei.

Zum Verzicht auf glattpoliertes Musizieren gehört auch der Verzicht auf die plakative Darstellung von Zerrissenheit, die beim späten Beethoven zur Pose geraten kann. Das Streichquartett Es-Dur op. 127 von Ludwig van Beethoven, auf den Mendelssohn wie Frid sich so grundverschieden wie gleichermaßen ehrfürchtig beziehen, stellt natürlich alles Vorhergehende in den Schatten. Es ist klassizistisch und avantgardistisch zugleich. Höhepunkt des Konzerts ist die atemberaubende Pause im zweiten Satz, nach der man wirklich jenseitige Musik zu hören glaubt (in die ein Grobian, der in keiner Weise zu spüren scheint, wo wir uns hier befinden, herzhaft hineinhustet).

Ein erfreulich gutbesuchtes, hochkonzentriertes Konzert, das der Hörer mit dem Bewusstsein verlässt, Wesentliches gehört zu haben.

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Vogler Quartett

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1.11.2015 – Wiederentdeckt: Lieder und Streichquartette von Erwin Schulhoff

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Ein Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke hätte sein Ziel erreicht, wenn er überflüssig geworden ist. Davon ist musica reanimata zwar noch weit entfernt. Aber die Musik des 1894 geborenen avantgardistischen Tausendsassas Erwin Schulhoff, der 1942 im Internierungslager Wülzburg zu Tode kam, taucht im klassischen Konzertleben öfter auf. Schulhoffs vielseitiges Werk ist jedoch erst zum Teil erschlossen, und so ist es ein guter Einfall, das Jubiläumskonzert zum 25jährigen Bestehen des Vereins diesem (wieder) bekannt gewordenen Künstler zu widmen, zugleich bei dieser Gelegenheit unbekannte Schulhoffwerke vorzustellen.

Unbekannt sind Schulhoffs Lieder, über die Gottfried Eberle eben ein Buch veröffentlicht hat. 16 Lieder werden im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses vorgetragen, davon 7 als Uraufführungen. Von den Zigeunerliedern des 16jährigen über Vier Lieder auf Texte von Hans Steiger, in denen der 19jährige Schulhoff Abschied von der Tonalität nimmt, bis zu den faszinierenden Fünf Gesängen mit Klavier von 1919 auf schwer menschheitsdämmernde Texte voll expressionistischer Substantivierungen spannt sich der Bogen. Offenkundig hat Schulhoff sich schon in seiner frühen Zeit ständig neu erfunden. Die Qualität ist naturgemäß unterschiedlich, es sind aber Juwelen darunter wie die neu entdeckte zauberhafte Miniatur Lass mich an deinem stillen Auge oder der mysteriös schwebende Gesang Langsam wandle ich dahin.

Der Bariton Hans Christoph Begemann singt sehr solide, bewältigt auch zuverlässig Schulhoffs im Lauf der Jahre zunehmende Falsettvorliebe. Oft scheint der Klavierpart (Klaus Simon, der die Lieder auch bei Schott ediert) interessanter als die Singstimme. Im Zigeunerlied Rings ist der Wald wiederholt sich ständig ein einziges rhythmisches Modell von fast schubertscher Einfachheit. In Nun versank der Abend taucht der Klaviersatz in skrjabinhafte Nebelsphären ab.

Vergleichsweise etabliert ist Schulhoffs Kammermusik, aus der zwei spannende Werke gespielt wurden: In den 5 Stücken für Streichquartett „à Darius Milhaud“ von 1923 gibt es einen atonalen Walzer mit rhythmischem Versteckspiel, eine Serenade mit  sphärischen Flageolettklängen, Tango und Tarantella und Kunstfloklore alla czeka. Das Kleequartett, vier junge Japanerinnen, spielt das sehr akkurat, aber vielleicht nicht ganz adäquat, ohne jede Schroffheit; das Feuer der 20er Jahre im allgemeinen und Schulhoffs im besonderen lodert so nur auf Sparflamme. Zu artig, sagt die japanische Freundin des Konzertgängers, die öfter ins Konzert geht als er, vielleicht ist das unser Charakter. Wer weiß. Aber ein Tarantelstich würde diesen technisch brillanten Musikerinnen guttun.

Nichts zu kritteln gibt es beim unbestrittenen Meisterwerk des Abends, Schulhoffs 1. Streichquartett von 1924, das das Repertoire jedes Quartetts bereichert (hier kann man reinhören und mitlesen). Alles ist da, das Funkensprühen im Presto con fuoco, die groteske Melancholie im sensationellen zweiten Satz mit seinen Flageolettwogen, slowakische Folklore im Allegro giocoso. Der langsame Satz steht hier sehr effektvoll am Schluss, Andante molto sostenuto, ein jenseitiges Finale, das seinesgleichen sucht.

Die nächsten Konzerte von musica reanimata am 24. und 25. November beschäftigen sich mit Artur Schnabel als Komponist und Interpret.

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10.10.2015 – Paradiesisch: Vogler-Quartett und Gäste spielen Haydn, Beethoven, Eggert

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Nach einem Tag voller unangenehmer Erlebnisse am Abend das Sonnenaufgangsquartett: reines Glück. Alltäglicher wie existenzieller Ärger verpuffen, wenn sich zu Beginn die Geigenmelodie über einer ruhigen Klangfläche erhebt, und beim großen B-Dur-Fortissimo durchflutet bereits pure Freude den Konzertgänger – zu einem Zeitpunkt, als Joseph Haydns Streichquartett op. 76, Nr. 4 B-Dur erst ein paar Takte alt ist. Das choralartige Adagio ist einer der berührendsten langsamen Sätze von Haydn, das Quartett stammt von 1797, es klingt manchmal schon nach romantischen Gefühlssphären.

Dabei musiziert das Vogler-Quartett völlig unsentimental. Tim Vogler hat das Gegenteil eines überpolierten Tons, er spielt manchmal rauh, aber immer bewegt, lebendig und in perfekter Koordination mit seinen Kollegen. Man hört und sieht die Erfahrung dieses Quartetts, das seit 30 Jahren in dieser Besetzung musiziert: vier brillentragende Herren mittleren Alters, von denen die mild migrationshintergründige Frau des Konzertgängers sagt, sie sähen so deutsch und protestantisch aus, dass es knallt. Aus ihrem Mund ist das ein Kompliment.

Die weibliche Note bringt dann die junge britische Schlagzeugerin Sabrina Ma auf die Bühne. In Moritz Eggerts Stücken Croatoan I-III, die sich eher assoziativ als konkret auf das mysteriöse Verschwinden einer amerikanischen Siedlerkolonie im 16. Jahrhundert beziehen (mehr dazu hier), gesellen sich nacheinander ein Glockenspiel, ein breites Percussion-Arsenal und eine Große Trommel zum Streichquartett. Die flächigen tonalen Klänge in Croatoan I – Englische Stimmen, hinter denen Glöckchensterne funkeln, verbinden sich im Ohr des Hörers mit dem Beginn des Sonnenaufgangsquartetts. In Croatoan II – Im Sandkasten verschwindet Ma hinter ihrem riesigen Notenblatt, aber man sieht zum Glück ihre Hände, die sich zwischen Bongos, Tambourin, Klingel, einer Ratsche und noch viel mehr bewegen. Auch die Streicher stampfen, scharren, klopfen und bimmeln schließlich mit Glöckchen, die an den Notenständern hängen. Den vier seriösen Herren scheint es wie dem Publikum zu gehen: Erst kostet es etwas Überwindung, dann bereit es große Freude. Schließlich die volle Dröhnung, als in Croatoan III – Perpetuum mobile die Große Trommel den Kleinen Saal des Konzerthauses erbeben lässt, Fasolt-Fafner-Stampfen mit Phasenverschiebung, mitunter auch leise Töne.

Nach der Pause gehört das Podium Moritz Eggert, der so extrovertiert auftritt wie seine Musik klingt. Seine eigene Komposition Hämmerklavier XXV: Abweichung (Hommage à Beethoven) rauscht angenehm, aber etwas undringlich am Publikum vorbei. In Ludwig van Beethovens frühem Klavierquartett Es-Dur op. 16 übernimmt er dann den Klavierpart. Zunächst runzelt man die Stirn über den grimassierenden Paradiesvogler am Klavier, aber man lässt sich schnell überzeugen, dass Eggert ein erstklassiger Pianist ist: Beethovens Witze klingen witzig, die Läufe fetzen. Im zweiten Satz, dem Andante cantabile, trägt er die Streicher auf sanften Flügeln. Eine gelungenes Zusammenspiel, die den drei grundseriösen Herren vom Vogler-Quartett das Extraquäntchen Lockerheit gibt. Und den Hörern Lust auf die nächsten Termine mit dem deutschen, protestantischen, paradiesischen Vogler-Quartett macht.

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Webseite des Vogler-Quartetts

Moritz Eggert und sein Bad Blog of Muzick

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20.9.2015 – Haltlos: Arditti-Quartett spielt Schönberg und Ferneyhough

Malheurs, wie der Konzertgänger sie nur von seiner Geige übenden Tochter kennt: Schon im 1. Satz fallen dem zweiten Geiger die Noten zu Boden. Als er sich bückt, um sie aufzuheben, segelt die Kinnstütze durch die Gegend. Entscheidender Unterschied zur geigenden Tochter: Ashot Sarkissjan lässt sich nicht aus dem Konzept bringen, sondern spielt unbeirrt weiter.

Der Konzertgänger würde es zwar nicht merken, wenn in Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 3, op.30 (1927) ein paar Noten fehlten; aber es klingt ungeheuer vollständig, logisch und schlüssig. Und trotzdem schmissig: Das Stück, immerhin eine der ersten Kompositionen in Zwölftontechnik, ist absurd klassizistisch. Viersätzig natürlich, Kopfsatz mit pochendem Thema, Variationen-Adagio, menuettähnliches Intermezzo, Rondo-Finale. Für die Ausdrucksmittel gilt das noch mehr: Es klingt wie ein geradezu epigonales Streichquartett, nur eben mit „schiefen“ Tönen. Es wird wohl Schönbergs Anliegen gewesen sein zu beweisen, dass mit der neuen Technik Traditionen nicht über Bord geworfen, sondern fortgesetzt werden. Aber für den heutigen Hörer, der ganz andere Klänge achselzuckend hinnimmt, ist etwas die Luft raus. Zumindest für den Konzertgänger. Dabei ist die Brillanz des Arditti-Quartetts mit seinem Gründer Irvine Arditti, dem nervenstarken Ashot Sarkissjan sowie Ralf Ehlers (Bratsche) und Lucas Fels (Cello) äußerst beeindruckend.

Bei Brian Ferneyhough gibt es deutlich mehr als zwölf Töne. Sein Streichquartett Nr. 6 (2010) wäre ein guter Kandidat für die interessante Reihe 2x hören im Konzerthaus. Beim ersten Hören klingt es mit seinen ständigen Abbrüchen und Splittern, die gekratzt, gehauen und gefiepst werden, ungeheuer aufregend, aber der Hörer findet kaum einen Halt. Deshalb klammert er sich an das, was er findet: Hier ein gemeinsamer klirrender Klang, der die Frau des Konzertgängers an die mysteriöse Glasharmonika erinnert. Dort ein ausgiebiges Solo, in dem Irvine Arditti vorführt, was er auf der Geige alles kann (extrem viel, wenn auch ganz anderes als Paganini). Wenn gar nichts mehr hilft, kann man auch wie die ältere Dame vor dem Konzertgänger mit dem Smartphone die Decke des Kammermusiksaals fotografieren.

Konsequenz: Mehr Ferneyhough, bitte! Das Arditti-Quartett macht mit der Zugabe einen Anfang. Die schlechte Nachricht sei, so der Chef, dass man jetzt noch ein Streichquartett von Ferneyhough spielen werde; die gute, dass es nur anderthalb Minuten dauere. Von wegen! Der Konzertgänger geht jetzt, wo das Musikfest zuende ist, erstmal die Partitur studieren:

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Arditti-Quartett