Nie würde der Konzertgänger sich jemanden wegen des Aussehens anhören. Aber wenn er bei irgendwem in Versuchung käme, wäre es weder Khatia Buniatishvili noch Yuja Wang, sondern… Radu Lupu! Weil er wie der als Rumäne wiedergeborene Brahms aussieht. Beim tiefenentspannten Lupu kann man nicht die Augen schließen, nicht mal, um in seinem einzigartigen Piano zu schwelgen.
Mit Johannes Brahms beginnt Lupu auch sein Programm im Kammermusiksaal, das aus lauter großen Namen, aber keinem richtig berühmten Werk besteht: vier Werke aus einem sanften Geiste. Im Vordergrund stehen Variationen, aber kein Goldberg, Diabelli oder Rzewski, und auch von Brahms nicht Händel, sondern Variationen über ein eigenes Thema D-Dur op. 21, 1 (1857). Lupu geht sie als fleischgewordenes Sotto Voce an, sein linker Fuß scheint anfangs am Una-Corda-Pedal zu kleben, auch rechts geizt er nicht, was Brahms‘ ohnehin dichten Tonsatz an die Grenze zum Verrauschten bringt. Und doch steigen unter diesem Schleier die lyrischsten Klänge auf, und man hat keinen Zweifel, dass diese Variationen nicht Brahms‘ bekannteste, aber die allerschönsten sind. Auch ohne dramatische Aufwühlungen, dafür erfüllt von innerlicher Strahlkraft. Spontane Rubati ereignen sich, gerade so als müsse Lupu erst überlegen, wie es denn weitergehen könnte; mehrmals hält er Sekundenbruchteile inne und schaut verdutzt auf seine Rechte.
Keine Ahnung, ob er damit bei einer Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule durchkäme; aber das muss er mit über 70 auch nicht mehr, fehlerlos sollen 20jährige spielen. Und wer technisch perfekte (und trotzdem originelle) Pianisten hören will, muss zum gerade laufenden Klavierfestival ins Konzerthaus gehen.
Auch Beethovens 32 Variationen über ein eigenes Thema c-Moll WoO 80 (1806) beginnen fast verhuscht, immer mit einer Art Grundrauschen. Das klingt nicht gerade virtuos und erst recht nicht nach Apassionata-Power; aber wo beide Hände in den Diskant steigen, entstehen die himmlischsten Klänge, die man sich denken kann. Als spiele der ganz späte Beethoven nochmal sein Werk aus den heroischen Jahren durch.
Nach Mozarts Variationen über ein Menuett von Duport KV 573 (1789), dessen Moll-Variation gläsern wie ein Nocturne klingt, gehört die zweite Konzerthälfte Franz Schubert. Man müsste überprüfen, ob es altersmäßig hinhaut, aber Schuberts G-Dur-Sonate D 894 (1826) klingt wie für Radu Lupu persönlich geschrieben. Im Kopfsatz, der eher eine freie Fantasie als ein Kopfsatz ist, scheint nichts den Pianisten von den eröffnenden Akkorden fortzuziehen; und von Lupu ließe man sich liebend gern minutenlang G-Dur-Akkorde vorspielen. Als es doch weitergeht, verschluckt Lupu wieder Töne und verschleppt Tempi, aber in der sogenannten Durchführung kommt es dann kurz zum Durchbruch heftigster Leidenschaft. Doch vor allem lässt Lupu die Musik leuchten, zeigt ihre allertraurigste Schönheit und schwermütige Unbeschwertheit, der Steinway scheint zu schweben. Das Trio mit seinen unendlichen Verzögerungen klingt, als spiele Schubert persönlich die Zither.
Lupu ist gesundheitlich angeschlagen, er hustet (wenn auch nicht so laut wie das Publikum) und schnieft. Als während der Zugabe, Schuberts As-Dur-Impromptu, ein Handy bimmelt, wird er sich fragen, wohin er hier geraten ist. Ein berührendes, friedvolles, alterszartes Konzert.
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