Das Ende dieses achtstündigen Konzerts ist wie eine Auferstehung, es führt uns die allmorgendliche Neuerschaffung der Welt vor Augen und Ohren, ein Wunder, das wir im Trott unseres Dahinlebens vergessen. Obwohl der Komponist und Klassik-Charts-Stürmer Max Richter, wenn man ihn sprechen hört, eher ein nüchterner Typ zu sein scheint, kein Schwulstprediger oder gar Theorieklingler, kommt der Konzertgänger um diese pathetische Feststellung nicht herum. Während das Streichquintett seine repetitiven Akkordbrechungen scheinbar endlos wiederholt, die Sopranistin Grace Davidson in wortloser Oktaventranszendenz schwelgt, heben im riesigen Kraftwerk Berlin in über 400 Feldbetten die Erwachenden ihre Köpfe, einige stehen auf, gehen einer nach dem anderen auf Socken lautlos zur Bühne, zerzaust, aber selig: Der Schluss der Götterdämmerung ist nichts dagegen.
Es gibt Ideen, bei denen man sich fragt, weshalb noch niemand vorher darauf gekommen ist. Während man sonst im Konzert krampfhaft versucht, nicht einzuschlafen, um ja nicht 5 Minuten Bruckner-Ekstase zu verpassen oder den motivisch-thematischen Faden bei Brahms zu verlieren (obwohl Brahms selbst ein großer Konzertschläfer war), ist es bei SLEEP andersherum. Man muss zwar nicht schlafen (sleep or listen, as you like it, sagt Max Richter vorher, there are no rules), aber man kann, und die meisten tun es irgendwann. Nur die Musiker nicht, denn die Umsetzung einer genialen Idee besteht in harter Arbeit. Max Richter am Klavier und sein Ensemble (außer dem Streichquintett und der Sopranistin der Sound-Ingenieur Chris Ekers) musizieren von Mitternacht bis acht Uhr morgens ohne Unterbrechung, und das drei Nächte nacheinander. Am Morgen sitzen sie immer noch aufrecht, kein Strich verrutscht, keine Stimme bricht. (Wage noch einer zu behaupten, Künstler arbeiteten nicht!)
Drei Stunden vor Beginn ist Einlass, Bettennummern werden verteilt, auch Decken, obwohl die meisten ihr eigenes Bettzeug oder Schlafsäcke dabei haben, ein etwa 12jähriges Mädchen (das ihre Eltern mitgebracht hat) auch einen großen Stoffpanda. Im Erdgeschoss des Kraftwerks steht ein Catering-Laster, der Ratatouille und bemerkenswert gutes Bier feilbietet; widersinnigerweise auch die Wachhalteplörre Club-Mate. Manche Besucher gehen schon hoch und liegen ihre Betten warm, denn die weitläufigen Hallen sind trotz Heizstrahlern nicht gerade ein Siedekessel. Der Bettnachbar des Konzertgängers liest Thomas Hettches Pfaueninsel. Der Konzertgänger, Bett 175, der auch deshalb hier ist, weil er vor Jahren einen Fast-Weltbestseller über einen schlaflosen Wanderer veröffentlicht hat, erinnert sich an seine wilden Zeiten Anfang der 1990er Jahre im Bunker und Tresor, wo er sich sehnlichst andere Musik wünschte, aber mehr noch: ein Kopfkissen. Ein Königreich für ein Kopfkissen. Man sollte seine Wünsche nie vergessen, manchmal werden sie wahr. Und während er in der Philharmonie noch immer zu den Jüngeren gehört, ist er hier einer der Ältesten. Seine Kreditkarte hat er sicherheitshalber zuhause gelassen, bemerkt jedoch mit Schrecken, dass er keine Zahnbürste dabei hat, und fragt sich, ob all die schönen Frauen mit ihren Schlafmasken sich vor nächtlicher Antänzerei sicher fühlen. Aber es herrscht eine völlig unübergriffige Atmosphäre. Ein Mann mit langen Haaren tanzt entrückt durch die ganze Halle, wie die bärtige Cousine einer Sasha-Waltz-Tänzerin.
Man muss nur aufpassen, nicht schon vor Mitternacht einzuschlafen. Aber dann beginnt das Konzert: Max Richter spielt das Klavier so euphonisch wie er spricht, ein wohliger Bass begleitet die melancholisch heimeligen Akkorde. Helmut Lachenmann würde bei dieser Fülle des Wohllauts wahrscheinlich im Viereck springen. Aber auch wer Feldman und Adams für Gehirnwäsche oder euthanasierende Schmeichelei (Jean-Noël von der Weid) hält, wird gegen den sogenannten Minimalismus in dieser Rezeptionssituation keine Einwände erheben – falls er das zunehmende Hinlegen im Konzert nicht ohnehin als Indiz für die Verlümmelung der Gesellschaft im allgemeinen und des Musiklebens im besonderen und der MaerzMusik im ganz speziellen erachtet.
Die Musik ist dann doch lauter als man sie sich vorgestellt hat. Es lohnt aber sowieso, nicht gleich zu schlafen, sondern zwischendurch aufzustehen und durch die weiten Hallen des Kraftwerks zu wandeln. Überall hört man die sphärisch fließende Musik, man trifft einsame Toilettengänger und Teekocher. Keiner spricht. Auch wenn es etwas kindisch klingt, man kommt sich vor wie in einem Film oder Traum, einem Traumfilm.
Schließlich schläft man doch. Bis zur Auferstehung.
Dann ist es vorbei. Der Catering-Laster hat wieder geöffnet, zum Frühstück gibt es bayrisch-griechischen Honigjoghurt, die bärtige Cousine knabbert an einer Selleriestange. Beim Verlassen des Kraftwerks tritt man in überwältigenden Morgensonnenschein, anders, meint man, könnte es auch nicht sein nach einer solchen Nacht.
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