Quer: Rundfunkchor, RSB, Hrůša mit Dvořáks „Stabat Mater“

O wunderbarer November, du Monat nicht enden wollender Lamenti, Requiems, Stabant Matres! Ebensogut in den Totenmonat November wie in die Karwoche passt auch Antonín Dvořáks Stabat Mater op. 58, das das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor Berlin unter Dirigent Jakub Hrůša in der Philharmonie aufführen. Ein Kindertoten-Oratorium möchte man es nennen, weil es nicht nur um den gekreuzigten Sohn Gottes geht, sondern auch um die drei kleinen Kinder des Künstlers, die vor und während der Komposition (1875-77) starben. Unvorstellbar, wie ein Mensch mit einem solchen Schmerz weiterleben kann.

Ist dieses Stabat Mater nicht ein seltsames Werk, in dem einiges quer steht? Weiterlesen

17.2.2017 – Aporkalüptisch: Simon Rattle & Berliner Philharmoniker spielen Ligetis „Le Grand Macabre“

Go, Hauptwerke des 20. Jahrhunderts, go! Eine Woche nach dem Violinkonzert mit Patricia Kopatchinskaja führen die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Simon Rattle schon wieder György Ligeti auf: die Oper Le Grand Macabre, als von Peter Sellars inszeniertes Konzert. Diese durchgeknallte Anti-Anti-Oper über den abgeranzten Untergangspropheten Nekrotzar im Breughelland passt natürlich bestens ins Jahr 2017, da ein miserabel getarnter Nekrotzar II gerade „mächtigster Mann der Welt“ spielt. Steht zu hoffen, dass der Abklatsch im Weißen Haus wie sein Ligeti-Vorbild bald vor Ärger einschrumpft und, sich hin und her kugelnd, im Boden versickert.

bruegel-deathLe Grand Macabre, 1978 entstanden, 1996 operngemäß überarbeitet (manche sagen geglättet), mag ein Werk für die Ewigkeit sein. Aber die Brillanz einiger Einfälle scheint doch ein Verfallsdatum zu haben, der Witz der konzertierenden Autohupen und Klingeln hat sich schnell abgenutzt. Insgesamt jedoch entwickelt Le Grand Macabre einen erstaunlich aggressiven und direkten Drive. Weiterlesen

26.1.2017 – Passioniert: John Adams‘ „The Gospel According to the Other Mary“ mit Berliner Philharmonikern und Simon Rattle

Das ist sehr anstrengend, völlig überfrachtet, stellenweise peinlich – aber hat eine Wucht, dass es gewiss der Höhepunkt der Residency ist, die der amerikanische Komponist John Adams diese Saison bei den Berliner Philharmonikern innehat. Und: Definitiv ist der Musikdramatiker Adams viel stärker als der Violinkonzertkomponist Adams, der im Herbst zu erleben war.

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30.12.2016 – Traralos: Janowskis vorletzte Letzte beim RSB

Abschied ohne großes Trara: Marek Janowski dirigiert seine letzten beiden Konzerte beim Rundfunk-Sinfonieorchester. Zwar hat er als Chefdirigent von 2002 bis 2015 das Orchester nicht nur als Institution gerettet, sondern aus einem beklagenswerten Zustand unter Überspringung des Mittelmaßes auf höchstes Niveau gehoben (nachzuhören seit vielen Jahren, nachzulesen in Janowskis interessanter und lustiger Biografie Atmen mit dem Orchester). Dennoch werden ihm keine Denkmale oder Denkmäler (wie es heißen muss, fragte sich schon Musil) gebaut, aber hübsche Skizzen gewidmet:

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2.6.2016 – Zum Handküssen: John Eliot Gardiner und Berliner Philharmoniker spielen Strawinsky

Jetzt bringen die Historischen schon den Neoklassizismus auf Vordermann! Den Namen des bekanntesten Dirigenten unter allen britischen Bio-Bauern, John Eliot Gardiner, bringt man sehr zurecht mit Monteverdi, Händel und Bach in Verbindung. Aber bei den Berliner Philharmonikern dirigiert er mittleren Strawinsky, und höre, er führt die Musen zu Kohärenz und Poesie.Romano-dance_of_the_muses.jpg

In Igor Strawinskys Apollon musagète (1928, revidiert 1947) sind die Streicher halbrund angeordnet, im inneren Halbkreis sitzen Bratschen und Celli, im äußeren stehen die Geigen, wie bei einer barocken Suite. Vibrato dürfen sie immerhin. Schlanker, gewitzter und zugleich warmer Sound, hier ein kunstvolles Solotänzchen von Konzertmeister Andreas Buschatz, dort volles orchestrales Flair. Welche Muse nun welche ist, wissen die Götter, aber das Stück ist pure Freude, ungeheuer abwechslungsreich in seiner verschrobenen Diatonik.

Im Opern-Oratorium Oedipus Rex (1927) sind die eingeblendeten Übertitel nicht nur überflüssig, sondern eigentlich kontraproduktiv. Denn Igor Strawinsky hat sehr publikumsfreundlich einen Sprecher vorgeschrieben, der zwischen den musikalischen Abschnitten das Drama des Sophokles rekapituliert (hier eine Zusammenfassung mit Playmobilfiguren).

Bruno Ganz deklamiert so herzergreifend wie klar und deutlich, hat den Text zudem so präzise überarbeitet, dass er die Hörer detailliert auf dramatische Höhepunkte hinweist: Trivium, achten Sie auf trivium. Bruno Ganz vollbringt das Kunststück, als mitleidender Sprecher zugleich das Konzert zu moderieren, ohne dass es einen Hauch von moderiertem Konzert hätte. Wenn die bleich geschminkten Männer des Rundfunkchors dann Trivium singen, erschaudern die Hörer, als steckten sie in der Haut des unseligen Oedipus, der begreift, dass niemand als er selbst den alten König, seinen Vater, an der Weggabelung erschlagen hat. Zum Augen-Ausstechen!

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Das groß besetzte, von Bläsern dominierte Orchester tönt wie der von Gijs Leenaars einstudierte Männerchor als ein Körper. John Eliot Gardiner dirigiert sehr sachlich, ja zurückgenommen; wie genau er gearbeitet hat und arbeitet, ist kaum zu sehen, umso deutlicher zu hören. Sehr zurecht gibt Bruno Ganz dem Dirigenten nach dem Konzert einen Handkuss.

Den hätte auch der Tenor Andrew Staples verdient, der den an Krücken auf- und abtretenden Oedipus (er hat es bekanntlich an den Füßen) singt: leicht forciert in der Höhe, doch ungeheuer vielseitig, klar deklamierend, leise und lyrisch, biegsam melismatisch; wie seine Stimme in Eingang und Ausgang seiner Arien mit dem Orchesterklang verschmilzt, ist beglückend. Jennifer Johnston als Iokaste bringt mit ihrem dramatischen, nicht eben seidig timbrierten Mezzosopran ebensowenig weibliche Wärme in die Nemesis wie die sie begleitende Harfe – was nur recht und billig ist. Die Zuspitzung der Frau: die antike Mutter, wie es in Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg heißt. Vom, rein sängerisch verdienten, Handkuss sieht man unter diesen verhängnisvollen Umständen lieber ab. Keine Antigone in Sicht! Dafür bringen auch die anderen Solisten, etwa der Bariton Ashley Riches als Kreon und Gianluca Buratto als Teiresias, kraftvolles Schwarz in die Finsternis.

Einzig Strawinskys kuriose Idee, das Drama des Sophokles auf Latein singen zu lassen (und zwar auf einen Text von Jean Cocteau, den ein Jesuitenpater ins Lateinische übersetzte), wirkt heute etwas befremdlich: weil Latein ja eben nicht befremdlich und fern klingt, sondern jedes Gloria, das man heraushört, aus diversen Messen vertraut scheint. Was für eine archaische Wucht hat dagegen das Altgriechische in Iannis Xenakis‘ 40 Jahre später komponierter Oresteia (vor zwei Jahren im Parkhaus der Deutschen Oper zu hören, unvergesslich):

Natürlich eine ganz andere Klangwelt. Strawinskys Oedipus Rex wird fast so selten gespielt wie Xenakis. Und so perfekt wie bei den Philharmonikern unter Gardiner wird man dieses (ohne Vorkenntnis packende) Stück erst recht nicht bald wieder zu Ohren bekommen.

Hier kann man in die Proben unter Gardiner reinhören. Für Freitag und Samstag sind erstaunlicherweise noch einige Karten erhältlich. Und in der Digital Concert Hall gibt es auch eine Übertragung.

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10.12.2015 – Betend: Manfred Honeck und das DSO spielen nicht nur Mozart

Man zögert, es ein Konzert zu nennen. Jedenfalls ist es das katholischste Konzert, das der Konzertgänger je erlebt hat. Und das ist positiv gemeint. Obwohl der Konzertgänger Protestant ist.

Und es ist ein Konzert von himmlischer Länge. (Dabei behauptet die Frau des Konzertgängers immer: „Wir Katholiken fassen uns kurz. Bei euch Protestanten dauert alles ewig.“) Der Österreicher Manfred Honeck, Chefdirigent in Pittsburgh, kombiniert nicht nur das Requiem mit anderen geistlichen Werken von Mozart, gregorianischen Gesängen, Glockengeläut sowie Bibel-, Gedicht- und Brieflesungen. Diesem kolossalen, durchaus überambitionierten Programm geht eine erste Konzerthälfte mit drei Werken voraus, die sich sehr unterschiedlich, doch alle aus gläubiger Sicht mit dem Tod auseinandersetzen.

Am Anfang steht aber der Kampf mit irdischen Tücken. Die sieben Plagen des Konzertgängers sind bekanntlich: Handys, Flüstern, Armbanduhrpiepsen, Programmheftblättern, Füßescharren, Bonbonpapierrascheln und, grässlichste von allen, Husten. Obwohl das Deutsche Symphonie-Orchester jetzt nach Philharmonikervorbild vor Konzertbeginn bittet to refrain from coughing, wird Anton Bruckners Ave Maria (1861) schmählich zerhustet. Der Rundfunkchor, der diese siebenstimmige, im zartesten Pianissimo beginnende A-cappella-Perle den Säuen vor die Hufe wirft, singt klar disponiert und berückend schön, auch für die Röchelsünder von Block A bis K: ora pro nobis peccatoribus.

Das Finale von Francis Poulencs Oper Dialogues des Carmélites (1956) ist einer der überwältigendsten Schlüsse der Operngeschichte: 16 Nonnen schreiten während des Französischen Revolutionsterrors zur Hinrichtung, 16mal saust die Guillotine nieder, Stimme um Stimme dünnt der Chor sich aus – bis zum Schluss der Mezzosopran von Blanche de la Force hinzutritt, die sich im letzten Moment entscheidet, mit ihren Schwestern für den Glauben in den Tod zu gehen. Bei dieser konzertanten Aufführung sieht man den Hammer im Schlagwerk niedersausen, die ausscheidenden Sängerinnen drehen sich zur Seite; die kurzfristig eingesprungene Sophia Harmsen überzeugt als Blanche. Natürlich wirken diese effektvollen Schlussminuten einer Zweieinhalbstunden-Oper hier wie ein Gefühlsquickie, offenbar auch verwirrend für unvorbereitete Besucher, die verzweifelt im Programmheft blättern: Was mag es mit diesem Knallen und Sängerinnenwegdrehen auf sich haben? Aber die ungeheure Kraft dieser Musik wird spürbar. Hoffentlich bald wieder auf einer Berliner Opernbühne!

Der 1959 geborene Schotte James MacMillan, Komponist und Laienbruder des Dominikanerordens, hat eine ziemlich bekiffte Vision des Johannes von Patmos (Offenbarung 12) als Woman of the Apocalypse vertont, eine Mischung aus Richard Strauss und Olivier Messiaen: sehr bildhafte Symphonische Dichtung inklusive Tritonuskitsch und frivoler Neigung zum Dur-Akkord. Ein fast halbstündiger, trotzdem kurzweiliger Klangrausch, der aber auch etwas vorbeirauscht. Mit seiner konzertierenden Anlage gibt er dem Orchester gruppenweise Gelegenheit zum Brillieren, die das DSO dankbar ergreift; besonders schön die Kombination von Flöte, Celesta, Glockenspiel und Tuba, kurios die wiederkehrenden Kuhglocken-Bubbles.

Doch all dies ist nur die Vorbereitung für das Hauptprogramm, das Manfred Honeck rund um Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem d-Moll KV 626, man muss sagen: komponiert hat.

Die Aufführung beschränkt sich auf die fertiggestellten Teile des Requiems, lässt also die Süßmayr-Teile weg und bettet dafür das Werk auf vielfache Weise ein: mit Mozarts instrumentaler Maurerischer Trauermusik c-Moll KV 477 (1785) und dem Laudate Dominum aus KV 339 (1780), in dem Sunhae Im mit ihrem Sopran bezaubert, den der Konzertgänger nicht anders beschreiben mag als: rein, keusch, ja marienhaft unbefleckt. Mit gregorianischen Gesängen von außerhalb des Saals platzierten Choristen, die so schwer lokalisierbar klingen, dass sie tatsächlich wie aus dem Jenseits klingen. Mit Zitaten aus Mozarts Briefen (der Tod als bester Freund des Menschen) und zwei Gedichten von Nelly Sachs, die das Grauen von Auschwitz reflektieren – eine Dimension des Totengedenkens, der ein Konzertabend natürlich nie gerecht werden kann; aber die Assoziationsräume aufreißt, die das Konzert weit über eine gepflegte Klassikerwiedergabe hinaus öffnen. Der Schauspieler Ulrich Noethen liest diese Texte, anfangs erstaunlich schwer zu verstehen (was auch am Mikrofon liegen mag, das es in der Philharmonie für einen guten Sprecher nicht bräuchte). Konkret aufs Requiem beziehen sich die gelesenen Abschnitte aus der Offenbarung, die die folgende Sequenz und das Offertorium auch für glaubensferne Hörer an ihre biblische Grundlage zurückbinden.

Das Singen, Beten, Flehen, Schreien, Jubeln des Menschen bei Mozart kann hingegen jeder hören. Manfred Honeck und das DSO, das zwar nicht vibratofrei, aber doch mit schlankem, an keiner Stelle erdrückendem Streicherton spielt, erreichen größte Intensität nie durch Lautstärke, sondern durch hohe Präzision und rhythmische Schärfung, etwa im Rex tremendae, das hier nichts von höfischem Tanz hat, wie man es sonst manchmal hört. Äußerst beeindruckend die agilen Posaunen im Kyrie. Der Rundfunkchor Berlin übertrifft (wen sonst?) sich selbst, etwa wenn im Confutatis aus dem Höllenchor der Engelschor emporsteigt. Die Schönheit des Hostias und Lacrimosa sind kaum zu ertragen. Die vorzüglichen Solisten Sunhae Im, Sophia Harmsen, Benjamin Bruns und Tareq Nazmi stehen hinter dem Orchester beim Chor, was zu einem organischen Gesamtklang statt Mozarthochglanz beiträgt.

Anstelle des Süßmayr-Schlusses endet das Requiem heute mit einer unerhört zarten Darbietung des Ave verum corpus KV 618. Selbstverständlich weint der Konzertgänger jetzt. Schon längst. Noch mehr möchte er beten. Aber es ist nicht nötig; so wie Jesus Christus für uns gestorben ist, so betet Mozart für uns in dieser Musik.

Die drei verschwindend leisen Glockenschläge am Schluss sind aber vielleicht doch too much.

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16.10.2015 – Vollkommen zerrissen: Berliner Philharmoniker unter Rattle mit Beethovens Neunter

Zum doppelten Beethoven-Zyklus der Berliner Philharmoniker ist alles gesagt, wenn auch noch nicht von allen. Die besten Kritiken finden sich hier und hier, die schlechtesten… nein, dies ist kein Krawallblog.

Gilt das auch für Beethovens Symphonien: dass alles gesagt ist, nur noch nicht von allen? Natürlich nicht. Musik existiert nur, indem sie gespielt wird, das gilt selbst für die totgenudelte Neunte, die die Form von Psychoterror annehmen kann (als Foltermusik in Clockwork Orange oder als Europahymne). Michael Gielen hat 1978 Schönbergs Überlebenden aus Warschau in die Neunte hineinmontiert, um die Drastik der Symphonie wieder erfahrbar zu machen. Etwas zurückhaltender, aber ebenso ohrenöffnend hat Simon Rattle letztes Jahr der Neunten neue Musik vorangestellt, etwa Helmut Lachenmanns Tableau (hier in einer Aufnahme vom Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken unter Hans Zender):

Der Konzertgänger war damals umgeben von entsetzten Abonnenten, die gern ein paar Lappen draufgelegt hätten, um Lachenmann nicht hören zu müssen. Ihnen konnte nun geholfen werden: Beim Beethovenzyklus der Berliner Philharmoniker gab es zum doppelten Preis die Neunte pur.

Aber gemütlich wird es trotzdem nicht. Wer sich bei dieser glühenden, scharfen, in jeder Hinsicht extrem gespielten Neunten entspannen kann, dem wäre auch mit Schönberg und Lachenmann nicht zu helfen. Die leeren Quinten zu Beginn der Symphonie klingen so fahl und brüchig, dass man Intonationsprobleme der ersten Geigen zu hören meint; was bei diesem Orchester nicht sein kann.  Die Reprise knallt wie der Weltuntergang. Die Pauken im Scherzo wecken auch den letzten Schläfer, der diese Musik einfach schön findet.

Dabei ist an Schönheit kein Mangel. Der sanfte Streicherklang im Adagio lässt jede Karajan-Aufnahme wie dicken Brei klingen. Einzelne Solisten hervorzuheben, im dritten Satz etwa von den Holzbläsern, erübrigt sich bei den Berliner Philharmonikern ohnehin, einer ist besser als die andere.

Dann der ungeheuerliche, in gewisser Weise ja auch plumpe Beginn des Finales: so intensiv gespielt, dass man nicht glauben mag, man kenne das schon.

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Zart, fast unhörbar stimmt die Kontrabässe und Celli schließlich die Ode an die Freude an, diese für den nachfaustusschen Menschen traurigste Musik der Welt. Rattles Philharmoniker und der Rundfunkchor kippen nie ins Lärmende, selbst nicht im Alla Marcia oder den Unisono-Stellen der Männerstimmen, die in den meisten Aufnahmen furchtbar derb klingen. Auch die vier Solisten sind hervorragend, nur mit Annette Daschs Sopran wird der Konzertgänger sich nicht mehr anfreunden. Mag die Neunte nun ein göttliches Werk sein oder ein strukturell unbefriedigendes Ergebnis zwischen Sinfonie und Kantate (so der unverwüstliche Reclam-Konzertführer mit vielen Notenbeispielen): Diese zerrissene, ja zerfetzte Hymne ist und bleibt ergreifend – gerade weil sie sich, sehr frei nach Adrian Leverkühn, in jeder Aufführung selbst zurück nimmt. Erst recht in einer so herausragenden Aufführung wie dieser, mit der die Philharmoniker ihren Beethovenzyklus beenden.

Ob sie sich jetzt drei Tage ins Bett legen und leise schwören: Ein Jahr lang kein Beethoven mehr? Von wegen, im November geht es auf Tournee. Aber erstmal trifft man sich im Kammermusiksaal, um Beethovens Septett zu spielen.

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Ichlöschend: Ingo Metzmacher und das DSO spielen Xenakis, Mahler und Schönbergs ‚Jakobsleiter‘

Schon vor der Pause fließen Blut und Tränen: Iannis Xenakis‘ Shaar für großes Streichorchester (1983) ist Neue Musik für Slayerfans – was den Druck angeht, nicht etwa den Lärmpegel. Der hält sich in Grenzen, auch wenn der Anfang klingt wie der Angriff der Killerbienen. Oder ein Fliegerangriff. Die Energie von Shaar entsteht aus dem Wechsel von Gleiten und Pochen: einerseits heftige Glissandi, oft gegeneinander verlaufend, und mächtige Cluster, andererseits vehemente Tonwiederholungen. Schließlich völlig überraschend ein Einschnitt, zarte Töne: eine einzelne Geige beginnt zu singen, dann eine zweite. Xenakis ließ sich, wie man im aufschlussreichen Essay von Habakuk Traber erfährt, von einer kabbalistischen Legende inspirieren: Verfolgung durch das geballte Böse und, anders als in der Sage, Zuflucht durch ein geheimes Tor (shaar) aus der Welt. Auch allerlei mathematische (oder eher zahlenmystische) Elemente verstecken sich in der Komposition. Seltsame Angelegenheit, die stochastische Musik, aber Xenakis ist immer packend, das hat der Konzertgänger schon bei einem Streichquartett im Konzerthaus und der Oresteia im Parkhaus der Deutschen Oper erfahren. Faszinierend und perfekt gespielt, wie in Shaar der Klang am Ende ins Nichts verschwindet und dann noch einmal anschwillt. Der Konzertgänger merkt, dass er aus der Nase blutet.

Tränen dann bei Gustav Mahlers Kindertotenliedern. Die alte Dame neben dem Konzertgänger fängt zuerst mit dem Weinen an, im dritten Lied Wenn Dein Mütterlein tritt zur Tür herein. Dabei drückt das Deutsche Symphonie-Orchester gar nicht auf die Tränendrüse, auch wenn Ingo Metzmacher beim Dirigieren öfter in die Knie geht. Wiebke Lehmkuhl singt ergreifend, wenn auch nicht immer sehr textdeutlich; jedenfalls ist sie keine Konsonantenspuckerin. Die Kindertotenlieder sind ohnehin kaum zu ertragen, aber wie sie hier aus dem Xenakis-Inferno hervorgehen, steigert ihre Wirkung noch erheblich. Im Saus und Braus und Graus des fünften Liedes hat man den vorhergehenden Shaar-Sturm wieder ganz präsent. Kaum jemand entwirft so aufregende Programme wie Metzmacher. Auch hier am Schluss ein Tor, eher Resignation als Hoffnung: von keinem Sturme erschrecket, von Gottes Hand bedecket.

Featured imageHauptwerk des Abends ist Arnold Schönbergs Fragment gebliebenes Oratorium Die Jakobsleiter. Trotzdem ist die Philharmonie ausverkauft: Das können doch nicht alles Alttestamentler sein? Nein, im Foyer sieht der Konzertgänger auch den Bäcker aus seinem Kiez.

Die Jakobsleiter ist theologisch nicht so gewieft wie die spätere (ebenfalls unvollendete) Oper Moses und Aron, sondern hat noch viel von expressionistischem Menschheitsdrama. Von den kollektiv Jubelnden (famoser Rundfunkchor) bis zum einsam Sterbenden (Edda Moser, sprechend) treten die Erdenbewohner dem oberlehrerhaften Erzengel Gabriel gegenüber; die Sanftergebenen mit ihrem schwebenden Ja, ja erinnern sogar an Kurt Weill. Die Hauptattraktion des Stücks ist aber der Schluss, wo vier Fernensembles aus der Höhe die Musik in die Ewigkeit verwehen lassen – das dritte Tor an diesem Abend. Der Blick in andere Sphären beginnt mit einer Sologeige auf der Empore und endet mit dem sterbenden Ich, das in D SONDERPLÄTZE verlischt. Ein Sopran singt dort oben lange Vokalisen auf A. Übrigens eine merkwürdige Querverbindung zu Carl Nielsens 3. Symphonie, in der gestern zu ganz anderen Zwecken ähnlich gesummt wurde: Pastorale statt Transzendenz. Ob das Summen der Seele bei Schönberg geschmackssicherer und tiefsinniger ist als bei Nielsen, sei dahingestellt. Aber zweifellos ist es eine große Konzerterfahrung: einschüchternd und beeindruckend.

Mal den Bäcker fragen, was er dazu meint.

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