1.1.2017 – How strange: Händels „Theodora“ mit RIAS Kammerchor, Akamus, Justin Doyle

Nach dem Jahr 2016 zögert man, leichtfertig zu schreiben: Das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik habe den Krach der vorangegangenen Nacht aufs Schönste sich verflüchtigen lassen. Denn zum Krach der vergangenen Nacht gehört Istanbul, gehören auch die Echos aus Aleppo, vom Breitscheidplatz, aus Nizza, Brüssel, Orlando…

theodosia_of_tyreTraurigerweise passt es also ganz gut, dass in der Philharmonie am 1. Januar 2017 kein feenleichtes Werk wie im vergangenen Jahr auf dem Programm steht, sondern gewichtige, tragische Musik: Georg Friedrich Händels Oratorium Theodora HWV 68 (1750). Es geht um das Leid der antiochischen Christen, die der römische Statthalter in Syrien zur Verehrung Jupiters und des Kaisers Diokletian zwingen will – und man denkt unweigerlich an die heute verfolgten und vertriebenen Christen im Orient, an die gepeinigten Syrer und auch  an die arglosen Feiernden im Reina, die Homosexuellen im Pulse, die Glühweintrinker auf dem Breitscheidplatz. Und die vielen Flüchtlinge, deren Hoffnung auf ein besseres Leben bei uns oft auf Hass und Häme stößt.

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27.11.2016 – Gottsuchend: René Jacobs, Freiburger Barockorchester, RIAS Kammerchor spielen Mozart und Haydn

el_greco_-_a_boy_blowing_on_an_ember_to_light_a_candle_soplon_-_wga10422Ja, ist denn heut schon Ostern? Das ist mal ein Adventsprogramm, mit dem das Freiburger Barockorchester und der RIAS Kammerchor unter René Jacobs im ausverkauften Kammermusiksaal gastieren: durch den Tod ins Leben. Erst das Mozart-Requiem, dann Haydns vor Freude sprühende Harmoniemesse.

Die Kombination ist nicht nur klanglich interessant (aufgrund ihrer stilistischen Gegensätze), man könnte sie zugleich religiös musikalisch nennen. Vor einem Jahr, ebenfalls in der Adventszeit, baute das DSO mit Manfred Honeck um Mozarts Requiem ein Programm, das den Hörer durch Überwältigung Gott finden ließ. René Jacobs dagegen sagt: Gott zu suchen ist wichtiger als Gott zu finden, weil er ungreifbar bleibt.

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14.10.2016 – Frühunvollendet: Ein Abend für Lili Boulanger beim RIAS Kammerchor

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Nadia und Lili Boulanger

Eine  Rarität, mit der man keine Zuhörerfluten hinter dem Ofen hervorlockt, doch gerade deshalb um so wertvoller: Während Tugan Sokhiev und die Berliner Philharmoniker im ausverkauften Großen Saal kalorienreiche russische Kost auftischen, serviert der RIAS Kammerchor im Kammermusiksaal erlesene ätherische Klangdüfte, Chorwerke der fast vergessenen Lili Boulanger.

Vorzeitig ist kein Ausdruck für Lili Boulangers frühen Tod, mit ihr verglichen wurden Pergolesi, Mozart und Schubert steinalt: Sie starb 1918 im Alter von nur 24 Jahren. Ihre große Schwester Nadia hängte auch aus Ehrfurcht vor dem Werk ihrer unerreichbar talentierten Schwester das Komponieren an den Nagel und wurde eine der bedeutendsten Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Sie berichtete von den Worten ihrer sterbenskranken Schwester während einer häuslichen Probe: Es ist komisch, jedermann wird diese Musik hören außer mir.

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13.4.2016 – Strömend: Ruzicka, Beethoven und Enescu beim DSO

 

Wettstreit der Berliner Orchester in der Challenge Deutschland sucht die Super-Rarität: Nachdem das Konzerthausorchester am Wochenende mit Mieczysław Weinbergs selten gespielter 5. Sinfonie vorgelegt hat, steht beim Deutschen Symphonie-Orchester unter Peter Ruzicka in der nicht eben überfüllten Philharmonie die Fünfte von George Enescu auf dem Programm: ein unvollendetes Werk von 1941, dessen Particell der rumänische Musikwissenschaftler Pascal Bentoiu orchestriert hat und das in dieser Form erstmals 1996 in Bukarest aufgeführt wurde.

Enescus Symphonie Nr. 5 D-Dur für Tenor, Frauenchor und Orchester beginnt als breiter, wunderbar melodischer Strom, der schon ewig andauern und ewig weiterfließen könnte. Der interessierte Konzertgänger weiß mittlerweile, dass der Nebenspuren der Moderne (Ruzicka) viele sind, aber Enescus Stück ist sowas von D-Dur, dass man zunächst darin zu ertrinken fürchtet. Aber es ist ein glückliches Ertrinken in einem bald abschwellenden, bald aufwogenden Strom von Schönheit, ein langer Gesang, der in dunkle Regionen führt, an den Rand des Verschwindens in die unendliche Nacht. Schließlich nimmt das Bedrohliche überhand, dräuende Posaunen, Trompeten, Tuba, Tamtam; bis Celli und Hörner den Hörer wärmen und die Celesta ihn zu den Sternen entrückt. Völlig organisch wirkt es, dass im trauermarschigen Finale dann dem Tenor Marius Vlad (der in Rumänien das italienische Fach rauf und runter singt, auch mal Lohengrin oder Tannhäuser einschiebt, überdies Generalmanager der Rumänischen Nationaloper Cluj ist) friedlich-schmerzvolle Todessehnsucht entströmt: Doar moartea glas să dea frunzişului veşted, und über mich die Linde wird ihre Blüten breiten.  Die weibliche Hälfte des RIAS Kammerchors macht dazu mystische Aahs, sicher schon 1941 ein abgelutschtes Mittel, aber die femininen Vokalisen tragen die herbe Stimme sehr schön. Auf dem Gipfel der Traurigkeit beginnt die Tenorstimme zu sprechen: als triebe die Welt davon. Man strömt danach hinaus in die Nacht.

Ein umwerfendes, nein: umhüllendes Plädoyer für George Enescu, mit dem man zwar offensichtlich die Philharmonie nur schwer füllt; aber diese Musik würde auch vor leerem Saal lohnen. Wenngleich ein voller Saal natürlich schöner wäre. Und verdient, bei solchem Orchesterglanz, für den Enescu und das glanzvoll spielende DSO gleichermaßen zu loben sind.

Vor der Enescu-Symphonie gab es zwei strömende Hörerlebnisse anderer Art: Peter Ruzicka ist nicht nur Dirigent und Intendant, sondern komponiert vor allem, wie zuletzt beim Ultraschall-Festival zu hören. ‚R.W.‘ – Übermalung für Orchester von 2012 beginnt mit einem Wachmacherakkord und spinnt sich in luxuriösen Klängen fort, bald sirrend, bald knallend, aber immer angenehm zu hören. Man freut sich auch über die kaum übermalten, sondern recht unverhüllten Parsifalzitate. Der Konzertgänger fragt sich aber, ob 1) man die absteigenden Glockenquarten, die einem schon nach jedem Parsifal (jaja, großartig) zu den Ohren rauskommen, auch noch von einer Flöte hören muss, und 2) ob es eine gute Idee ist, die kargen, reduzierten Klänge des späten Liszt (auf dessen Am Grabe Richard Wagners Ruzicka sich bezieht) derart zu entkargen und dereduzieren. Im Publikum murmelt es nach dem Stück aber ringsum: Schön… ja, wirklich schön…

In Beethovens 4. Klavierkonzert G-Dur scheint der Dirigent Ruzicka an seine Grenzen zu stoßen, der Orchesterklang ist (bei aller Klangschönheit, die das DSO immer hat) recht breit, mitunter etwas unausgewogen und nicht immer präzise im Zusammenspiel mit dem Solisten. Der allerdings klingt hervorragend: Herbert Schuch (gebürtiger Banater Schwabe, was das Konzert eigenartig abrundet) ist ein Pianist der leisen, aber sehr deutlichen Töne, dem das langsame Tempo entgegenkommt. Das eröffnende piano dolce könnte man sich sinnierender nicht wünschen. Im Andante wird die Breite des Orchesters zur Tugend, aus dem Gegensatz zwischen einstimmigen Streichern und beschwörend gläsernem Klavierton entsteht größtmögliche Spannung. Spätestens die Zugabe, die Sarabande aus Bachs 3. Englischer Suite, von Schuch versunken, ja andächtig gespielt und mit ihren fast gotischen Bizarrerien faszinierend fremdartig, weckt den Wunsch, diesen interessanten Pianisten mit einem Solorezital zu erleben. Da muss der Berliner einmal Braunschweig und Gauting an der Würm beneiden.

Nachtrag: Aber nur bis zum 29. April 2017, dann gibt Schuch einen Klavierabend im Konzerthaus Berlin.

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18.3.2016 – Obertönend: RIAS Kammerchor und Münchener Kammerorchester lieben und loben Haas und Mendelssohn

Eine Liebeserklärung und ein Lobgesang, kann es ein schöneres Programm geben am Abend eines Tages, der sich trübsinnig weigerte, Frühling zu sein? Einen Tag nach der Uraufführung in München erblickte im Berliner Kammermusiksaal ein neues Werk von Georg Friedrich Haas noch einmal das Kunstlicht der Welt. Haas machte ja zuletzt mit intimen Bekenntnissen (Vorsicht, nicht jugendfreie Bilder) von sich reden, was grenzwertige Reaktionen (Vorsicht, nicht jugendfreie Sprache) hervorrief; aber auch aufschlussreiche Artikel (Vorsicht, Englisch). Jetzt kann man Haas‘ 3 Stücke für Mollena hören, entweder als Liebeserklärung an seine Frau (den unflätigen Gedanken an Richard Strauss‘ musikalische Ehe-Einblicke verdrängend) oder als mikrotonal überbordende Neue Musik, die ihr Klangspektrum aus der natürlichen Obertonreihe ableitet. Am besten aber als beides – oder einfach den waghalsigen Versuch, glückliche Musik zu schreiben (so Haas im Interview mit Nina Jozefowicz).

Und wie klingt das nun? Es ist ein berauschendes, unmittelbar zugängliches Klangerlebnis. Im ersten Stück das Ende der Sehnsucht sind überwältigende Cluster zu hören, der von Denis Comtet einstudierte RIAS Kammerchor schwelgt in Vokalisen auf Sechstel- und sonstigen Zwischentönen; für den Laien unfassbar, dass man das präzise singen kann, aber vermutlich kann es auch kaum ein Chor so gut wie dieser. Trotzdem ziehen sich starke Linien durch diese Klangwolke, so dass eine fast archaisch wirkende Klarheit entsteht. Schließlich lösen sich zwei (Brust-)Stimmen aus dem Cluster, ein Mann und eine Frau – eine so eindringliche wie diskrete Vereinigung im Raum der Wünsche. Im zweiten Stück Harmonie ordnet sich die Musik in drei Etagen, ganz oben und ganz unten die hohen und tiefen Instrumente des hervorragenden Münchener Kammerorchesters unter der Leitung von Alexander Liebreich, im Zentrum die menschlichen Stimmen. Der dritte Satz mit dem kuriosen Titel Hochzeitsmarsch ist eine einzige Beschleunigung, nun nicht mehr mikrotonal, sondern rhythmisch entfesselt: ein riesenhaftes Accelerando, das (wie man liest, nicht hört) auch einen 47/16-Takt durchsaust. Egal welche Farbe dieses Begehren hat, es ist ein eindeutig orgasmischer Sound, körperlich und kosmisch kopulierend. Als kompositorisch total durchkontrollierte Entgrenzung ist es aber auch ein merkwürdiges Erlebnis. Und wenn man die 3 Stücke für Mollena, obwohl bereits am Anfang dieser glücklichen Musik die Nacht fast vergangen ist, in die Tradition der Per-aspera-ad-astra-Werke stellt, ruft wieder einmal das Sternenfinale die größte Skepsis hervor. Freilich ein Eindruck nach einmaligem Hören, der sich vielleicht ändert, wenn man dieses faszinierende Werk hoffentlich bald im Konzertsaal wiederhört.

Bis dahin kann man sich am Radiomitschnitt berauschen:

Georg Friedrich Haas‘ Oper Morgen und Abend, die in wenigen Wochen an der Deutschen Oper Premiere hat, darf man jedenfalls mit Spannung entgegensehen.

Wenn man fürchtet, nach diesem Obertonrausch könnte Mendelssohn etwas dünne klingen, hat man sich geschnitten. Dass auch der Lobgesang op. 52 B-Dur (vulgo Sinfonie Nr. 2) von Felix Mendelssohn Bartholdy berauscht, liegt zunächst einmal an der schlanken Besetzung und dem historischen Instrumentarium, mit denen das Münchener Kammerorchester diesen Preisgesang Gottes und des Buchdrucks angeht: Was mitunter etwas sperrig oder rauh klingt, lässt Holzbläser wie Singstimmen um so leuchtender strahlen. Dann sind es aber auch die fast erotischen Obertöne, die Mendelssohns Verhältnis zum deutschen Protestantismus und der Idee der Bildung hat.

Nach dem mit drei Sätzern sehnsuchtsvoll langen instrumentalen Vorspiel hat der Einsatz des Chors Alles, was Odem hat, lobe den Herrn eine gewaltige Wirkung. Attilio Glaser ist ein so exakter wie klangschöner Tenor, die kurzfristig eingesprungene Sopranistin Julia Sophie Wagner kehrt mit ihrer sinnlichen Stimme die dürstenden und lechzenden Facetten dieser Musik hervor: Die Nacht ist vergangen!, beantwortet sie die fahl bebende Frage des Tenors an den Hüter, ob die Nacht bald hin sei. Der Dirigent Alexander Liebreich verausgabt sich, manchmal beunruhigend nah am hinteren Rand des Podests, das Münchener Kammerorchester spielt nicht nur genau, sondern strahlt mitreißende Freude an dieser Musik aus – beim a cappella einsetzenden Choral Nun danket alle Gott sieht man einen Hornisten sogar leise mitsingen. Man fragt sich, warum dieses Stück im Gegensatz zu durchaus vergleichbaren Kantaten-Symphonie-Zwittern von Berlioz so selten gespielt wird; das Sujet Roméo und Juliette zieht wohl mehr als Protestantismus und Buchdruck. Doch die lange Stille nach dem Schluss spricht für sich, so würde man sich das Berliner Publikum immer wünschen. Wunderbar diese Art von Symphonik, die in der Großen Halle der Klassik verloren ist, im Kammermusiksaal zu hören.

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1.1.2016 – Wintersommernachtstagtraum: Purcells „Fairy Queen“ in der Philharmonie

Berlin am Neujahrstag sieht aus wie London nach dem Great Fire – kann man das neue Jahr also besser beginnen als mit The Fairy-Queen, Henry Purcells märchenhafter Feenweltmusik, sehr frei nach Shakespeares Sommernachtstraum? Zumal im zuschanden gefeierten Tiergarten undurchdringlicher Themse-Nebel wabert. Das Publikum im ausverkauften Großen Saal der Philharmonie sieht nach der Silvesternacht etwas zerknittert aus, nur die Musiker des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik sind offenhörlich unverkatert.

Aus Purcells Fairy Queen (1692) wird meist nur die schöne Suite gespielt, das komplette Werk gilt als schwer vermittelbar: eine Semi-Oper nach speziell englischem Geschmack  mit viel gesprochenem Text, da die englische Veranlagung das unablässige Singen nicht schätzt (so der Dichter P.A. Bois, den Roman Hinke im lesenswerten Programmheft zitiert) – vor allem aber äußerst konfus. Eine gute und eine schlechte Nachricht: Die schlechte ist, dass es wirklich konfus ist, wer eine stringente Handlung oder gar einen roten Faden sucht, ist verloren. Nicht erst Berlioz hat Shakespeare skrupellos verwurstet.

Die gute Nachricht ist, dass das vollkommen egal ist.

Es gibt zwar keine aufwändige barocke Bühnenmaschinerie in der Philharmonie, aber Regisseur Christoph von Bernuth hat das Stück dezent szenisch eingerichtet: Chor und Sänger kommen von den Rängen herab und verschwinden wieder, legen sich unter einer großen Decke schlafen, lassen mit Taschenlampen nächtliches Gelichter aufscheinen, der Sonnengott Phoebus bringt einen Koffer voll Sonnenbrillen mit, der Zwerg Puck tanzt durch die Reihen. Natürlich ist der Originaltext begrüßenswert gekürzt. Wobei eigentlich alles sehr wirklichkeitsnah ist: etwa wenn ein Poet sich und der Dämonenwelt eingesteht, nicht nur besoffen, sondern auch ein lausiger Dichter zu sein; oder wenn eine Feenkönigin sich in einen Esel verliebt, aber nur für eine Nacht.

Purcell hat einen großen Sack herrlicher Musik über das Shakespeare-Vaudeville gekippt: etwa das Nachtigallen-Prelude der Blockflöten im zweiten Akt oder die Final-Chaconne, die den letzten Rest von Silvesterkrach aus den Ohren zaubert. Ein besonderer Höhepunkt sind die vier Lieder von NIGHT, MYSTERY, SECRECY (das berühmte One Charming Night) und SLEEP im zweiten Akt. Wie der unnachahmliche Samuel Pepys in sein Tagebuch schrieb: Was mir mehr als alles in der Welt gefiel, war die Musik.

Im letzten Akt sogar lamentoses Dido and Aeneas-Flair mit dem Klagelied O let me weep, das die ansonsten starke Sopranistin Ruby Hughes etwas laut singt (wunderbar begleitet vom Geiger Georg Kallweit). Unter den Solisten ragt der Bass Roderick Williams heraus. Sängerisch bräuchte es gar keine externen Solisten, wie die durchweg fabelhaften Solo-Auftritte aus den Reihen des RIAS Kammerchors zeigen. Reines Hörglück, wie beweglich und agil der Ensembleklang ist. Der Dirigent Rinaldo Alessandrini, dieses Jahr Conductor in Residence (nächstes Konzert am 31. Januar), singt mit, regelt aufmerksamst nach und verkörpert bei aller sympathischen Zurückhaltung die enorme Spielfreude, die den ganzen Abend auszeichnet. Die Akademie für Alte Musik ist bei Purcell mit seinen HornpipesJigs und Fairy Dances natürlich auf ureigenem Terrain.

Am Schluss gibt es Bravi für die Continuo-Gruppe, wann hat man das je erlebt? Musikalisch beglückender hätte das Jahr 2016 nicht beginnen können. A thousand, thousand ways we’ll find / To entertain the hours…

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10.11.2015 – Liegestuhlsterblich: RIAS Kammerchor singt amerikanische Opa- und europäische Enkel-Musik

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Dharma-Abend im Kammermusiksaal? Von der west-östlichen Diva John Cage bis zum Schweizer Zen-Funk-Ritual-Groover Nik Bärtsch spannt sich das Programm, das der RIAS Kammerchor vor einigen Tagen in Amsterdam präsentiert hat und nun in Berlin singt. Dabei treffen vier Werke der US-amerikanischen Moderne auf die äußerst ambitionierte Uraufführung des Grenzgängers Bärtsch. Obwohl im Programmheft als Brückenschlag von den Großvätern in Amerika zu ihren Enkeln diesseits des Atlantiks angekündigt, scheinen die Verwandtschaftsverhältnisse doch etwas komplizierter.

Die New York School of Music hat zweifellos etwas von einer Familie, verlotterter als die Zweite Wiener Schule mit ihrem gestrengen Patriarchen Arnold Sch., aber nicht ganz so verlottert wie die Hippiefamilie des Westküstenminimalismus, dessen tonale Wonnen Alex Ross in seinem Buch The Rest Is Noise ausgiebig bis enervierend preist. Wenn man die drei New Yorker Cage, Wolff und Feldman hintereinander hört, fallen die kompositorischen Eigenheiten deutlich ins Ohr.

John Cages spätes Werk Four2 (1990) ist abstrakt, spirituell und witzig zugleich: Aus den höheren Reihen des Kammermusiksaals ertönen im Wechsel langgezogene Töne, die kleine Sängergruppen in freier Entscheidung beginnen und enden lassen. Ein Teil des Publikums wendet wie beim Tennis die Köpfe hin und her, um die jeweils neue Klangquelle zu orten; schnell wird klar, man sollte, um die Raumwirkung sich entfalten zu lassen, die Augen schließen. Und siehe, bzw höre, als der Konzertgänger die Augen schließt, wird der Traum wahr, den Cage viel früher in jugendlichem Überschwang träumte, dass nämlich jeder zufällige Laut Musik sei – zumindest teilweise: Husten und Niesen des Publikums wird nie integrierbar sein, aber das ferne Wispern einiger Besucher aus Block E passt wunderbar zu den auratischen Schwingungen der Stimmen. Und auch wenn der Sound nach abstrahierten buddhistischen Mönchsgesängen klingt, setzt sich der Text aus den Buchstaben des Namens Oregon zusammen.

In Christian Wolffs Liedern Evening Shade und Wake Up (2004) entfaltet sich ein viel beweglicherer Klang, zumal als die Sänger sich umgruppieren, kreisförmig in alle Richtungen singen und schließlich einer nach dem anderen die Bühne verlassen – die Männer auf leisen Sohlen, die Frauen auf klackenden Absätzen. Etwas enttäuschend wirken dagegen die fast ein halbes Jahrhundert früher entstandenen Duos for Pianists (1957/58), die die Lieder einrahmen. Die allerdings äußerst hörens- und auch sehenswerten Pianistinnen Ufuk und Bahar Dördüncü (beide in einer Art türkischem 80er-Jahre-Kunstleder-Blouson) spielen die etwas läppischen Elemente mit großer Geste. Trotz vielfältiger Spielweisen am und im Klavier ergibt sich nur etwas sehr Kleinteiliges, der Höhepunkt ist das gemeinsame Stoppuhr-Ausschalten der Schwestern.

Obwohl von Morton Feldman, dauert Christian Wolff in Cambridge (1963) nicht drei Stunden, sondern nur drei Minuten. Diese musikalische Reflexion über den unbewegt am Schreibtisch sitzenden Wolff ist eine asketische Erfahrung, die Sänger singen nur den Laut u, nach kurzer Zeit dürstet die Seele des Konzertgängers nach einem a oder i, zugleich fühlt sie sich tief geborgen im u, das in immer neuen Tonhöhenkombinationen erklingt. Auch das ist abstrakt, spirituell und witzig, aber ohne Cages Mönchskitsch, dafür mit jenem speziellen Feldman-Sound, der in der Beschreibung unmöglich wirkt, aber im Hören umwerfend stringent klingt (wie sich auch bei Feldmans Footfalls in der Staatsoper zeigte).

Elliot Carter hatte nichts mit Cage & Co zu tun, sondern war auch aus alteuropäisch-avantgardistischer Sicht ein richtiger Komponist. Im kuriosen Stück The Defense of Corinth (1941) begleitet ein strawinskyesker Klaviersatz (bei dem das Gebaren der Dördüncü-Schwestern nun ein großer Gewinn ist) einen Männerchor, der einen Text aus Rabelais‘ Gargantua (in englischer Übersetzung!) singt. Andrew Redmond gibt den Sprecher in dieser komplexen, gleichwohl sehr heiteren Kriegsmusik, die umso irritierender wirkt, da man bei dieser Besetzung zwangsläufig an Schönbergs sechs Jahre später entstandenen Überlebenden aus Warschau denkt.

Es ist eine gute Entscheidung, vor der Uraufführung auch Carter zu spielen. Die Musik des Schweizers Nik Bärtsch ist nämlich trotz hübscher patterns kaum als Minimalismus-Nachfahre zu etikettieren, sondern speist sich offenhörlich aus zahllosen Quellen, wie man auf seinem Youtube-Kanal nachhören kann:

Bärtschs Auftragswerk mit dem umständlichen Titel AIM – Ich gehe. Musik zu drei Texten über den Aufbruch in den Tod uns ins Leben ist thematisch vielleicht etwas überladen, aber was soll’s, der Konzertgänger wird als Hörer lieber erschlagen als unterfordert. Der RIAS Kammerchor unter Florian Helgath lässt sich jedenfalls nicht erschlagen, sondern durchschreitet die sehr verschiedenen musikalischen Idiome beeindruckend souverän.

Der erste der drei ineinander geschnittenen Texte ist Heiner Müllers Traumtext, in dem ein Vater seine kleine Tochter in einem Bambuskorb am Rand eines riesigen Wasserbeckens trägt, gefangen in einem schröcklichen Kessel. Die Vision wird von verschiedenen Männerstimmen des RIAS Kammerchores gesprochen und geechot, die Dördüncü-Schwestern zeigen jetzt ihre hohe Kunst an einem konventionell gestimmten und einem präparierten, oft perkussiv eingesetzten Flügel.

Zarteste Sangessphären dagegen im reizvoll schwelgerischen Märchen Die schöne Mondblüte, das Bärtschs achtjährige Tochter Aina geschrieben hat (und das sich nicht kindischer liest als so mancher spätromantische oder expressionistische Text, den etwa Schönberg, Berg und Webern vertont haben). Mondblütes Schwester Windhauch zeigt sich in schwirrenden Diskantklängen, die an Strawinskys Nachtigall erinnern.

Als Müllers Träumender in einem Liegestuhl einen Mann sterben sieht, biegt die Musik in eine mitreißend synkopische Funk-Nummer ab, die den dritten Text birgt, die King Fool Episode aus Shakespeares King Lear. Zuerst klar voneinander getrennt, verschmelzen die musikalischen Sphären zunehmend, so wie die Texte alle auf eine Art Abgang führen – in den Tod oder ins Leben oder beides zugleich. Inhaltlich hat die Verzahnung der Texte trotzdem etwas Gewaltsames, aber musikalisch ergibt sich am Ende ein intensives Ganzes von starker Sogwirkung. Alle Sänger gemeinsam sprechen den Satz: Wir gehen, unsere Kinder in aus Bambus geflochtenen Körben auf unseren Rücken. Statt Schlussakkord ein kollektives Fußstampfen.

Nik Bärtsch

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4.10.2015 – Friedensbewegt: Akademie für Alte Musik und RIAS-Kammerchor unter Łukasz Borowicz spielen Haydn und Wranitzky

Wranitzky? Tschechischer Name, wird sich also um einen österreichischen Bundeskanzler handeln, irgendwo zwischen Kreisky und Klima. Nein? Ein deutsch-mährisch-österreichischer Komponist und Dirigent der Wiener Klassik? Da gab es mehr als diese drei? Ja, von Haydns Bruder Michael hat der Konzertgänger schon gehört, auch von Kozeluch, Dittersdorf, Hummel…

Ihre Musik lernt man kennen, wenn man öfter mal Konzerte der Akademie für Alte Musik besucht. Von Pavel Vranický alias Paul Wranitzky, dessen Name in Charles Rosens Der klassische Stil nicht einmal erwähnt wird, gab es am 4. Oktober im Konzerthaus ein Werk, dessen Titel allein schon Spannung verheißt: die überaus bewegte Grande Sinfonie caractéristique pour la paix avec la République française c-Moll aus dem kriegerischen Jahr 1797.

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So richtig battaglia-mäßig geht es allerdings erst im dritten Satz zu, wenn die Tambourtrommel von der Orgelempore knallt und im Tumult munter die Piccoloflöte pfeift. Im zweiten Satz verliert, nachdem die Klarinette (Ernst Schlader) die  Wendung des Adagio-Idylls ins Düstere vorbereitet hat, Ludwig XVI. unter schnarrenden Dissonanzen sein Haupt; in letzten Flötentönen haucht der König sein Leben aus und wird dann in einem Trauermarsch beweint. Den man natürlich so wenig am Trauermarsch der Eroica messen darf wie die Guillotinierung an der Symphonie fantastique. Die Revolution im ersten Satz ist pingelig durchstrukturiert, bei allem, was passiert, kann man bis 4 zählen, und es ist auch manche Marschmusik dabei, wie sie Opa Erwin gefällt. Nach so viel Gradzahligkeit genießt man in den Friedensverhandlungen im Finale das tänzerische Andante grazioso, ehe im Freudengeschrei der 4/4-Takt wiederkehrt.

Nicht jede Ausgrabung kann ein Meisterwerk zutage fördern, aber hörenswert ist es allemal. Und bessere Fürsprecher als die Akademie für Alte Musik mit ihrer unvergleichlichen Spielfreude und den enthusiastischen Dirigenten Łukasz Borowicz, der im lang anhaltenden Applaus mehrmals die Partitur emporreckt, kann Wranitzky sich nicht wünschen. Der umtriebige Borowicz, der im Interview im Programmheft eine Art Initiativbewerbung für freiwerdende Stellen in Berlin abgibt („Ich träume davon, eines Tages sagen zu können: Ich bin ein Berliner!“), wird dem Konzertgänger jederzeit willkommen sein.

Die Unruhe, mit der das Kyrie in Joseph Haydns Missa in tempore belli C-Dur (1796) beginnt, hört man danach mit anderen Ohren. Die berühmten Pauken im abschließenden Agnus Dei, von denen dieses Werk seinen Rufnamen Paukenmesse trägt, lassen ohnehin keinen Zweifel an ihrer militärischen Herkunft. Die Kombination mit Wranitzkys Kriegssymphonie macht diese Bitte um Frieden umso dringlicher: Haydn hat vielleicht noch keine Finalsymphonie geschrieben, aber ganz sicher eine Finalmesse. Der glanzvolle RIAS Kammerchor und die hervorragenden Solisten Robin Johannsen (Sopran), Stefanie Irányi (Alt, kurzfristig eingesprungen), Attilio Glaser (Tenor) und – besonders hervorzuheben – Andreas Wolf (Bass) musizieren wie die Akademie für Alte Musik auf höchstem Niveau. Eine ergreifende Aufführung.

Begonnen hat der Abend mit Joseph Haydns frühem Te Deum C-Dur (1763), das reine Glaubensfreude ohne jede protestantisch-bachsche Zerknirschung ausstrahlt. Wer da Atheist sein will, ist selbst schuld.

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