Jenrückend: Piotr Anderszewski spielt Bach und Beethoven

Welcher lebende Pianist kann Bach so schön romantisieren, ohne je ignorant zu wirken? Piotr-Anderszewski-Abende gehören mit dem gedimmten Licht und verinnerlichten Klavierspiel zu jenen unaufdringlich rituellen Ereignissen, von denen man sich wünscht, sie mögen einen am Ende des Lebens eben dieses ganze Leben begleitet haben. Hoffentlich wird Anderszewski nie im Großen Saal spielen. Darum: nicht bejubeln, nicht weiterempfehlen; und wenn doch, nur ganz unaufdringlich.

Im Kammermusiksaal spielt Anderszewski Bach und Beethoven. Im Publikum sitzen auch zwei ziemlich kleine, ziemlich blonde, ziemlich entzückende Mädchen. Ob sie wegen des Wohltemperiertes Klaviers II oder eher wegen der Diabelli-Variationen da sind? Weiterlesen

Gedämpft profiliert: Piotr Anderszewski im Boulezsaal

Interessante chemische Versuchsanordnung: der Stimmungskünstler Piotr Anderszewski im Pierre-Boulez-Saal, dem üble Lästerzungen ja Plenarsaal-Atmosphäre nachreden. Wird das gutgehen, fragt man sich vor dem Haus stehend, während Profilierungsfahrer die Französische Straße runterbrettern, ein Blitzermarathon schert ja keinen Totfahrer nicht. In der verblüffenden Aprilsommerabendsonne steht auch Nike Wagner, konzentriert in die Lektüre des Programmhefts vertieft, das Gegenteil eines Profilierungsfahrers.

Und Anderszewski ist wahrlich das Gegenteil eines Profilierungspianisten. Weiterlesen

22.2.2016 – Geist(er)reich: Piotr Anderszewski im Kammermusiksaal

Dieses Konzert hat kein Programm, sondern eine Form: das romantische Muster ABCBA. Zwei Partiten von Bach (A) rahmen drei geisterhafte Stücke, nämlich den Faschingsspuk Papillons und die Geistervariationen von Schumann (B) sowie Karol Szymanowskis mediterranen Homer-Tagtraum Métopes (C).

Ein sehr ähnliches Konzert hat der polnische Pianist Piotr Anderszewski bereits im November 2014 im Konzerthaus gespielt, damals war der Saal unbegreiflicherweise halbleer. Der Kammermusiksaal, der fast genauso viele Plätze hat, ist dagegen ausverkauft, was wohl kaum nur an der besseren Akustik liegen kann; denn richtig gut hört man ein Klavierrezital im Kammermusiksaal nur in den Blöcken A, D und E.

Dort allerdings entfaltet sich die romantische Aura auf vollkommene Weise; wem der wunderbare Francesco Piemontesi zu nüchtern schien, der ist bei Anderszewski bestens aufgehoben. Der Saal ist atmosphärisch verdunkelt, der wie immer schwarzgekleidete Anderszewski sitzt auf einem Stuhl, keinem Klavierschemel – Stimmungszauberei, doch ohne Weihrauch. In den hochstilisierten Tänzen von Johann Sebastians Bach Partita Nr. 6 e-Moll BWV 830 huschen die Schlüsse gespenstisch vorüber. Anderszewski bewirbt sich um keine Settecento-Originalklang-Medaille, stattdessen möchte man fast von Sfumato sprechen, wenn es nicht so nach Pedalmissbrauch klänge. Denn auch wo Anderszewski viel Pedal benutzt, etwa in der Sarabande, herrscht der Eindruck völliger Klarheit, ein durchsichtiger Klangnebel. Vor allem aber erklingen in diesem nichts verschleiernden Sfumato die klarsten Abstufungen, die man sich wünschen kann, jede Linie wird herausziseliert und farbig nuanciert. Umgekehrt bleiben auch durchaus wuchtige Klänge, etwa die Arpeggien in der eröffnenden Toccata, feinsinnig abgetönt. – Eine ebenso stilisierte Tanzsuite, nun aber aus romantischem Geist, sind Robert Schumanns Papillons op. 2, in denen die Walzer, Polonaisen usw einer Faschingsnacht aphoristisch vorbeiflattern. Mögen sich hartherzige Puristen an Anderszewskis Bach noch stoßen, kann es an seinem innigen Schumann keinen Zweifel geben. Der einzige Einwand des Konzertgängers richtet sich gegen den Komponisten selbst: Am Schluss hat Schumann ein paar Töne zu viel komponiert, die kurz vor Ultimo erklingenden sechs Glockenschläge im Diskant wären der vollkommene Schluss.

Spiegelbildlich die zweite Hälfte des Konzerts: erst Schumann, dann Bach. Schumanns zur Zeit seines Zusammenbruchs entstandenen  „Geister-Variationen“ Es-Dur mögen keine große Variationenkunst wie etwa die Sinfonischen Etüden sein, es legen sich ja lediglich einige Tonnebel und -schwaden um das Thema; aber dieses letzte Thema ist nun mal zum Zerschmelzen schön, und wen die todtraurigen Geistervariationen nicht rühren, der hat kein Herz. Ohne Unterbrechung schließt Anderszewski Bachs Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825 an, die nun klingt, als wollte Bach dem armen Schumann die Ruhe und den Frieden schenken, die dieser in unserer Welt nicht mehr erlangen konnte. Wenn in der abschließenden Gigue die Hände sich à la Scarlatti oder Rameau kunstvoll kreuzen, klingt das wie spielerische Erlösung.

Dazwischen – und auf diese Weise dezent ins Zentrum des Konzerts gerückt – spielt Anderszewski die Métopes op. 29 von Karol Szymanowski. Wer Skrjabin oder Ravels Gaspard mag, wird auch diesen sonnendurchfluteten Tagtraum nach Homers Odyssee lieben. Tempelreliefs aus Selinunt inspirierten Szymanowski zu dem dreisätzigen Stück, das das Gegenteil von klassischem Bildungsstaub ist: die körperlichste Musik an diesem Abend. Sie erinnert nicht nur an die Antike, sondern auch an Zeiten, als Süditalien und Nordafrika noch das Sehnsuchtsland der verfemten bürgerlichen Homosexuellen Europas waren. Erst die Sirenen, dann Kalypso, schließlich Nausikaa: Diese sirrende, flirrende Musik ist ein einziges Locken; alle Sätze steigern sich und kulminieren in dreifacher Erlösung, die durchaus ejakulativ klingt.

Ein be- und vergeisterndes geist(er)reiches Konzert, das der Stimmungszauberer Piotr Anderszewski mit drei Zugaben von Leoš Janáček beschließt.

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