Hochseilgaloppierend

Quatuor Modigliani und Sharon Kam spielen Schubert und Brahms

Wenn die Tücken der Programmplanung zum Aberwitz werden: Am Donnerstagabend spielen drei hervorragende Streichquartette gleichzeitig. Selbst in Berlin ist das kein Normalfall. Und schon gar nicht, dass zwei davon (Belcea im Boulezsaal und Modigliani im Kammermusiksaal) Schuberts Der Tod und das Mädchen spielen. Drittes Angebot in der Terminkollision wäre das Pavel Haas Quartett, das im Konzerthaus im Rahmen der Schostakowitsch-Hommage auftritt. Ich entscheide mich am Ende für die Modiglianis: weil ich die noch nie gehört habe und weil dort auch noch die israelische Klarinettistin Sharon Kam dabei ist. Und Brahms.

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Entnachtend

Klavierfreuden in Mendelssohn-Remise und Pianosalon Christophori, John Eliot Gardiner bei den Philharmonikern

Die kleinen Musikorte erholen sich – wie die freien Musiker – mühsamer von der langen Nacht der (wohl noch nicht beendeten) Pandemie, als es große Institutionen und begehrte Stars tun. Eine kleine Klavierrunde führte mich in der vergangenen Woche nordwärts in den Wedding, wo im Pianosalon Christophori an zwei Abenden die jungen Musiker Andrei Gologan und Florian Heinisch spielten, und tags zuvor in die feine Mendelssohn-Remise, unweit vom Gendarmenmarkt. Dort eröffnete gleichzeitig die große Elisabeth Leonskaja eine Schostakowitsch-Hommage, den lang geplanten und nun von kriegerischen Zeitläuften an den Rand des Heiklen geführten Programmschwerpunkt des Konzerthauses. Auf der breiten Freitreppe stimmt dort eine Menschenmenge gutgemeint, aber schwer erträglich ein von beschwingtem Moderator animiertes Lied für den Frieden an.

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Wiegemarschtanzend

Pablo Heras-Casado und das RSB spielen Debussy, de Falla, Bartók

Drei auf je eigene Weise tänzerischen Musiken stellt der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin kurzentschlossen die Berceuse héroïque voran, die Claude Debussy 1914 nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges komponierte: antrisches Wiegenlied, großes Crescendo und Generalpause, dann Trauermarsch. Ein eigenartiges Werk mit paradoxem Titel, aber der aktuellen Situation angemessen als Ausdruck eines gewissen Ratlosigkeit, des gleichzeitigen Drangs zum Sprechen und zum Verstummen. Und eine Ergänzung zu Vladimir Jurowskis Aufführung der ukrainischen Nationalhymne vor zehn Tagen. Dazu passt, dass Heras-Casado nicht viele Worte sagt wie Jurowski (sehr kluge, menschliche Worte), sondern nur: „Wir spielen das im Gedenken an die Ukraine.“ Beide Arten des Umgangs – die introvertierte wie die demonstrative – haben ihre Berechtigung.

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Trismegistisch

Collegium 1704, Les Arts Florissants und Jean Rondeau beim Barock-Festival in der Philharmonie

Drei sehr verschiedene Konzerte am zweiten (und letzten) Wochenende des Barock-Festivals, jedes auf seine Weise beeindruckend: trimagisch, ja geradezu trismegistisch. Den Anfang macht am Freitagabend das tschechische Collegium 1704 im Kammermusiksaal. Auf dem Programm steht unter anderem ein Bachkonzert (BWV 1060, c-Moll) mit den Solo-Instrumenten Oboe und Violine, während gleichzeitig die Berliner Philharmoniker im Großen Saal ebenfalls ein Bachkonzert mit Oboe spielen (BWV 1055R). Kuriose Selbstkannibalisierung. Das Barock-Festival ist ja eine Veranstaltung der Stiftung Berliner Philharmoniker, die Reihe „Originalklang“ in gebündelter Form, und das Collegium 1704 geladener Gast der Hausherr/*/frauschaft. Ohne dem Orchester, Dirigent Roth und vor allem Albrecht Mayer nahezutreten, den aufregenderen, quickigeren Bach gibt’s ziemlich gewiss bei den tschechischen Spezialisten.

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Ukrainisch-umarmend

rsb, Jurowski, Alban Gerhardt spielen Werbyzkyj, Rubinstein, Smirnow und Tschaikowsky

Bei Vladimir Jurowski wird aus einem klaren politischen Statement gleich eine musikalische Weiterbohrung: Denn auf die ukrainische Nationalhymne, mit der nach spontaner Programmänderung das Konzert in der Philharmonie beginnt, spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin noch ein weiteres Werk ihres Komponisten Mychajlo Werbyzkyj, die gut gearbeitete Sinfonische Ouvertüre D-Dur, schmissig wie ein Stück von Suppé. Vor allem aber ergeben sich atemberaubende, in der Mitte geradezu verstörende Bezüge zum planmäßigen Rest des Programms, auf dem drei höchst unterschiedliche Werke russischer Komponisten stehen.

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Deconquista!

Accademia del Piacere beim Barock-Festival in der Philharmonie

Auf welcher Insel der Seligen man lebt, wird einem bewusst, wenn man in der Berliner Philharmonie entzückt beim Barock-Festival sitzt, während gerade ein demokratisches Land von den Panzern eines gewissenlosen Großmachtpsychopathen überrollt wird. Die Ukraine liegt näher an Berlin als Spanien, Kiew näher als Madrid oder gar Sevilla, wo die Accademia del Piacere ihren Sitz hat. Deren Zugabe im Kammermusiksaal widmet der Leiter Fahmi Alqhai der Kraft des Friedens; so wie die Berliner Philharmoniker nebenan im Großen Haus ihr Mahler-Konzert mit Gustavo Dudamel den Menschen in der Ukraine zueignen.

Hier also nur einige inselselige Notizen zum köstlichen Konzert der Accademia del Piacere. Spanische Tänze und Melodien aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in aufregender, aber nicht anbiedernder Verzeitgemäßung. Notierte Quellen sind offene Grundlage der Musik, nicht fertige Vorgabe. Nach zwei gediegenen, fast schulbuchmäßigen tänzerischen Nummern beginnt es schlagartig zu lodern: Über stehendem Bordunton setzt ein improvisatorisches Gambensolo von Fahmi Alqhai ein, immer wieder ins Mikrotonale pendelnd, rhythmisch sehr frei gefärbt vom Percussionisten Agustín Diassera.

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Kramsreif

Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, András Schiff spielen Brahms und Josef Suk

Von der Inspiration zum Repertoirewerk (Symbolbild)

Kirill Petrenko setzt bei den Philharmonikern seine Reihe Brahms plus Krams fort. Wobei mich vor allem der Krams reizt. Aber dem vorhergehenden 2. Klavierkonzert von Brahms mit András Schiff (ein Repertoire-Programmpunkt, der narrensicher für volles Haus auch für die folgende Ultra-Rarität sorgt) kann ich mehr abgewinnen als der zweiten Sinfonie im Januar, die mich nicht vollends überzeugte. Schiff ist hier natürlich eine Bank, auch wenn er so viel mehr gelehrt als instinktiv klingt. Vor kurzem brachte er eine der interessantesten Einspielungen der beiden Brahmskonzerte heraus, die es gibt, auf einem Blüthner gespielt.

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Entgelsend

Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko spielen Zimmermann, Lutosławski, Brahms

Komponist und Sparkasse Gelsenkirchen (Symbolbild)

Beim gerade stattgefundenen Ultraschall-Festival für neue Musik fragte ich mich, welches der dort gehörten Orchesterstücke wohl in einem „normalen“ Sinfoniekonzert anginge (und fand im Eröffnungskonzert ziemlich viel). Anlässlich des aktuellen Berliner Philharmoniker-Konzerts weist Malte Krasting zurecht darauf hin, dass ein vor 50 Jahren teils gemobbter Komponist wie Bernd Alois Zimmermann heute viel mehr gespielt wird als etwa der Avantgarde-Bully Stockhausen. Und man könnte ergänzen, dass auch mehr Menschen Zimmermann hören wollen, oder zumindest zu hören bereit sind. Photoptosis von 1968, mit dem Kirill Petrenko und die Philharmoniker beginnen, ist ein klarer Fall von Hören-Wollen.

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Traumgärtnernd

RSB, Vladimir Jurowski und Seong-Jin Cho spielen Schumann, Firssowa, Schostakowitsch

Nanu, was macht denn der Schumann hier? Wie der Pontius ins Credo scheint das Klavierkonzert in dieses Programm geraten. Freilich, die Gelegenheit zu einem gemeinsamen Auftritt mit dem jungen Pianisten Seong-Jin Cho hat man offensichtlich beim Berliner Schopf gepackt. Cho gewann 2015 als 21jähriger den Chopinwettbewerb, nahm seither mindestens sechs Alben auf, scheint in Korea irre populär (die Philharmonie ist voll von jungen Landsleuten, die alle wie Musikstudierende wirken), und er lebt überdies hier in dem mit Seoul verglichen vermutlich arg beschaulichen Spreekaff. Hell ist sein Klang bei Schumann, ausgesprochen schön, sehr friedlich. Das kann man hochpoetisch finden oder ein wenig spannungsarm. Allzu schnell ist allerdings mancher Landsmensch meinerseits noch mit dem schaurigen Urteil bei der Hand, einem asiatischen Pianisten (so direkt spricht man das meist nicht aus, aber meint es doch) fehle die Tiefe für deutsche Romantik. Was für ein anmaßender Unfug. Und ein Fall, um sich besser mal zwickizwacki bei den eigenen Ohren zu packen und dem jungen, liebevoll klanggärtnernden Cho weiter zuzuhören, wohin die pianistische Reise des Hochbegabten gehen wird.

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Bescherlich

Frohe Musikbotschaften mit Staatsopern-Lohengrin, Mehta/Mahler und Prokofjews Cinderella beim RSB

„Geschenke, Geschenke / Sind daran, wo ich denke“, wie meine jüngeren Kinder zur Weihnachtszeit gern singen. Einer Bescherung gleich kommt es dem Berliner vor, dass seine Kulturinstitutionen im erneuten Pandemiewinter unseres Missvergnügens überhaupt noch offen sind und über den Jahreswechsel bleiben werden, wenngleich unter strengen Auflagen. Darum verpackt der Konzertbesucher – statt Geschenken – gern sich selbst, mit korrekt getragener Maske, Test & Booster-Impfung. Und beschenkt fühlt er sich etwa (obwohl die Karten nicht gerade spottbillig sind), wenn Zubin Mehta bei den Berliner Philharmonikern Gustav Mahlers 3. Sinfonie dirigiert.

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Schattengrell

Andris Nelsons, Håkan Hardenberger und die Berliner Philharmoniker spielen Reinvere, Weinberg, Strawinsky

Nanu, was treibt Nannerl Mozart denn da? Wie ein unruhiger Lohengrin-Traum, mit ziephohen Streichern beginnt das Notturno Maria Anna, wach, im Nebenzimmer des lettischen estnischen Komponisten Jüri Reinvere, mit dem Andris Nelsons und die Berliner Philharmoniker ihr Konzert beginnen: Musik aus dem Schatten, aus dem Maria Anna Mozart laut Wikipedia nie heraustrat, aber schönerweise ohne etwelche Mozartelei, sondern von ganz eigener konzentrierter Schemenhaftigkeit.

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Hörstörung (29)

Eine Jacke nervt beim Quatuor Ebène

„Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen“, empfindet der Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag: weil das Wort Gestrüpp „die Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ ausdrücke. Seine Konzertjacke hängt ein Herr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie (bei einem der vermutlich letzten Konzerte, das vor der Niederkunft des nächsten Lockdowns noch stattfindet, einem Streichquartettabend des formidablen Quatuor Ebène) über die Holzplatte, die im Mittelknick von Block A zwischen linker und rechter Seite steht. Und bevor noch Joseph Haydns Streichquartett D-Dur Hob. III:34 beginnt, fragt er das auf der anderen Seite des Mittelknicks sitzende Paar, ob seine abgeworfene Jacke dort es störe? Nein, sagt er. Schön sei es allerdings nicht, fügt sie mit ernstem Blick hinzu, und da hängt er seine Jacke ab. Um sie nach der Pause dann zusammengefaltet auf den leeren Sitz zu seiner anderen Seite gelegt zu haben: mit dem Zweck, zwei amerikanische Studentinnen daran zu hindern, sich unbefugt auf zwei freie teure Plätze zu setzen, um das formidable Quartett besser zu hören. Worauf ein Konzertgänger in derselben Reihe spontan das tut, was ein musikliebender Mensch tun muss: nämlich einen Platz aufzurücken, damit die beiden Studentinnen sich doch gemeinsam auf die guten Plätze setzen können. Denn es wäre ein Jammer um jeden guten Platz, der leerbliebe bei diesem Konzert, in dem nach Haydn noch Leoš Janáčeks ungeheures 1. Streichquartett „Kreutzersonate“ erklingt, in dem schroffe Kratzklangflächen abrupt auf zarteste Momente purer Schönheit stoßen, eine kammermusikalische Oper nicht weniger aufregend als die gerade an der Komischen Oper neuinszenierte Katja Kabanowa (und wie sympathisch, dass der Seelenkauz Janáček die Erzählung Kreutzersonate des von ihm verehrten misogynen Nieselpriems Tolstoi kurzerhand komplett umdreht, um mit der von Tolstoi verachteten Frauenseele mitzufühlen – fast als musikalisches Äquivalent zu der, Janáček unbekannten, Gegenerzählung Eine Frage der Schuld von Sofia Tolstaja), sowie schließlich Robert Schumanns 2. Streichquartett F-Dur op. 41, 2, eine Herrlichkeit vom ersten Thema des Kopfsatzes an, das einer nicht enden wollenden Arabeske gleicht. Höchstens, dass das formidable Quatuor Ebène manchmal fast zu formidabel klingt. Welch Glück, dass der Hörstörversuch der verirrten Jacke gescheitert ist.

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Goethetortig: RSB und Jurowski fausten

Franz Liszt serviert dem Konzertgänger Goethes Faust (Symbolbild)

Here we go again. Wien, Leipzig, Dresden sind schon dicht, München fast; aber in Berlin mit (noch) nicht ganz so schlimmer Lage wird erstmal weiter gespielt. Man fragt sich, wie lange wohl und darf ich das noch? Und geht doch halbwegs guten Gewissens, risikoreduziert durch Impfung und Test und FFP2-Maske, und überhaupt lieber auf Weihnachtsmärkte und Restaurants und Familienfeiern verzichtend als auf Konzerte und Theater. Ist so. Selbst wenn’s die komische Torte Faust-Sinfonie des Liszt Ferenc ist. Ist nämlich mit Rundfunk-Sinfonieorchester und Vladimir Jurowski. Mit denen droht (fast) alles interessant zu werden.

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Rosengeistig: Schubert und Berlioz mit FBO, Heras-Casado, Crebassa

Eine Bereicherung ist es, dass sich klassische Sinfonieorchester immer mal wieder in „historische“ Spielweisen zurückwagen (in Berlin macht das DSO es toll, früher öfter mit Roger Norrington, der jüngst seine Dirigentenkarriere beendete). Und ebenso, dass ehedeme Alte-Musik-Spezialensembles sich ins „romantische“ Repertoire vorwagen. Das Freiburger Barockorchester spielt auf seiner aktuellen Tour in Berlin, Köln, Freiburg und Baden-Baden Franz Schubert und Hector Berlioz. Weiß nicht, ob ich den beiden Komponisten schon je innerhalb eines und desselben Konzerts begegnet bin.

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