Orpheen, anders: Ilya Gringolts und Sunhae Im beim Musikfest

Lohnende Abstecher während der dreiabendigen Monteverdi-Hochgebirgstour mit Gardiner: eine violinistische und eine gesangliche Gipfelbesteigung im Kammermusiksaal. Die Akademie für Alte Musik tritt mit der umwerfenden Sopranistin Sunhae Im auf, der russische Geiger Ilya Gringolts ganz allein mit seiner Guarneri „del Gesù“.  Weiterlesen

Urklänge, chorphisch: Monteverdis „L’Orfeo“ mit John Eliot Gardiner

Belcanto? Belrecitando! Aufbruch zu einer Reise in die Urgründe der Oper mit Sir John Eliot Gardiner und seinen Musikern, die zu Claudio Monteverdis 450. Geburtstag mit dessen drei erhaltenen Opern durch die Weltgeschichte tingeln, beginnend mit L’Orfeo. Sollte das den Beteiligten schon zum Hals heraushängen, lassen sie sich auf ihrer einzigen Station in Deutschland, beim Musikfest in der Philharmonie, nichts anmerken.

Keine Ermüdungserscheinungen? Weiterlesen

Nichtsnah, himmelwärts: Isabelle Faust und Kristian Bezuidenhout beim Musikfest

Zur Geigerin Isabelle Faust geht der Konzertgänger stets mit den höchsten Erwartungen. Aber dann werden sie doch jedesmal übertroffen.

Was für eine kunstvolle Programm-Architektur bei Faust und dem Cembalisten Kristian Bezuidenhout. Und das einen Tag, nachdem Barenboim und die Staatskapelle ihre Saison und nebenbei das Musikfest Berlin mit einem Programm eröffneten, wie man es sich schwerer (was das Werk selbst angeht) und zugleich unambitionierter (als Saison- und Festivaleröffnung) nicht vorstellen kann: nämlich Bruckner ohne alles (Tagesspiegel-Kritik).

Nun im Kammermusiksaal Bach plus Frühbarock, fast drei Stunden lang. Welche Zusammenhänge und Kontraste sich da hörend erschließen! Weiterlesen

Vorschau Musikfest

Den Sommer verbringt der Konzertgänger nicht als Festivalhopper, sondern als Hochgebirgssteiger und Konservenhörer. Live gehts ab September wieder los, mit Konzertmarathon beim Musikfest Berlin und Berichten in diesem Blog in neuem Gewand. Zur Einstimmung eine Konservenliste auf Idagio:

Claudio Monteverdi trifft auf Isang Yun, Renaissance-Avantgarde auf Zeitgenössisches, große Symphonik auf virtuose Kapricen: Die neue Konzertsaison wird in Berlin traditionell vom Musikfest eingeläutet. Der bescheidene Name (denn Musikfeste gibt es auch in Hinter-Posemuckel, und oft keine schlechten) mag untypisch sein für die gern großspurig daherkommende Hauptstadt der Superlative. Schließlich gibt es hier die meisten Spitzenorchester des Landes, die teuersten Opernrenovierungen und sogar mystische Flughafenbaustellen, die als Gleichnis der Unendlichkeit zu lesen sind. Weiterlesen und -hören

17.9.2016 – Verfilzt: Ensemble Resonanz und Tabea Zimmermann spielen Saunders, Poppe, Schubert

giovanni_folo_agostini_tofanelli_-_a_ninfa_ecoDas Musikfest Berlin bietet nicht nur großorchestrale Feuerwerke, sondern auch kammermusikalische Sternstunden. Eine fand am Samstag statt: Das Ensemble Resonanz (beheimatet in St. Pauli und bald, oho, erstes Residenzensemble im Kammermusiksaal der Elbphilharmonie, quasi als Resonanzresidenz) präsentierte ein Programm von zeitlicher wie ästhetischer Überlänge, in dem Franz Schubert, Enno Poppe und Rebecca Saunders einander resonierten und echoten. Und zwar in der klammerförmigen Anordnung Schubert/ Poppe/ Saunders/ Saunders/ Poppe/ Schubert, summa summarum etwas über 180 Minuten, keine zuviel. Weiterlesen

15.9.2016 – Veränderlich: John Adams bei den Berliner Philharmonikern

Für das Bekenntnis, dass mir der Klang von Zwölftonmusik überhaupt nicht gefällt, wird heutzutage zum Glück niemand mehr vor den Darmstädter Wohlfahrtsausschuss zitiert. So kann sich der amerikanische Komponist John Adams (der das 2008 in seiner Autobiografie schrieb) ohne Gefahr für Leib und Leben ins Alte Europa begeben, um hier ein Jahr als Artist in Residence der Berliner Philharmoniker zu verbringen. 2012 war er bereits mit dem BBC Symphony Orchestra beim Musikfest zu Gast, um seine Oper Nixon in China konzertant aufzuführen.

Adams eröffnet sein erstes Konzert in der Philharmonie mit der dreiteiligen Harmonielehre (1985), deren Titel sich auf Arnold Schönbergs Buch von 1911 bezieht (hier eine lustige zeitgenössische Lobbuckelei des Schönbergianers Heinrich Jalowetz). Wunderbar, dieses berühmte Stück von Adams einmal live zu hören: nicht weniger als ein Hauptwerk des 20. Jahrhunderts, wenn man Alex Ross‘ Buch The Rest Is Noise folgt, Weiterlesen

14.9.2016 – Sorgfältig ekstatisch: Bayerisches Staatsorchester, Kirill Petrenko, Frank Peter Zimmermann spielen Ligeti, Bartók, Strauss

anthony_van_dyck_-_family_portraitSelbst eingefleischte Richard-Strauss-Muffel wie der Konzertgänger können dieser Sinfonia Domestica nicht widerstehen, die das Konzert des Bayerischen Staatsorchesters beim Musikfest Berlin in der Philharmonie beschließt. Die Kluft zwischen dem privaten Sujet und den musikalischen Mitteln des Werkes (womit nicht die Größe des Orchesters gemeint ist, sondern die pompöse Klangsprache) ist und bleibt zwar bizarr, ja lächerlich. Sinfonische Dichtung Ein Eheleben. Der Konzertgänger kann nie umhin, sich bei den instrumentalen Potenzierungen des dritten Themas ein 60 Meter großes Frankensteinbaby „Bubi“ vorzustellen.

Aber das Bayerische Staatsorchester zeichnet sich unter Kirill Petrenko durch eine so hinreißende Klangkultur aus, dass alles egal wird. Weiterlesen

11.9.2016 – Fraktal: Junge Deutsche Philharmonie, Nott, Kuusisto spielen Varèse, Ligeti, Beethoven

toffifee

Philharmonie (Detail)

Die Tochter des Konzertgängers kommt am Sonntagvormittag nicht nur deshalb mit in die Philharmonie, weil deren goldene Fassadenplatten sie an Toffifee erinnern, sondern auch weil der Geiger Pekka Kuusisto und die Streicher der Jungen Deutschen Philharmonie sich in György Ligetis Violinkonzert (1990) alles erlauben dürfen und müssen, was die Geigenlehrerin ihrer Schülerin auszutreiben versucht: Weiterlesen

9.9.2016 – Arkanisch: Berliner Philharmoniker mit Andris Nelsons spielen Debussy, Varèse, Berlioz

Scheinbar wohlig, weich, warm ist Edgar Varèse hier gebettet zwischen Debussy und Berlioz, trotzdem sind die Arcana (1927, rev. 1960) in diesem gelungenen Konzert alles andere als Alibi-Moderne. varese1-kleinMancher im Publikum stöhnt auf bei dieser bumpernden, schrillen, mitreißenden Attacke aufs Gehör. Dabei sollte auch der Varèse-Muffel froh sein, dass die Berliner Philharmoniker nicht Dieter Schnebels Ratschlag folgen und verlangen, diese Musik ohne Kleider zu vernehmen. (Ein Nackt-Konzert wäre vielleicht mal eine Idee fürs Radialsystem.)

In der Tat sind die Arcana eine unmittelbare leibliche Erfahrung, zugleich äußerst kurzweilig wegen der simpel wirkenden Kontrasttechnik von gewaltigem Anschwellen und abrupter Stille. Das wirkt keineswegs zerrissen, stattdessen entsteht ein Flow, der an das eingangs gehörte Prélude à lʼaprès-midi dʼun faune von Claude Debussy erinnert, aber alchemistisch verhexenküchelt: Weiterlesen

7.9.2016 – Sphärisch: Rued Langgaard und 1. Akt Walküre mit der Deutschen Oper beim Musikfest

harnonicesmundiNur ca. 2,37 % der Besucher sind wegen Rued Immanuel Langgaards Sphärenmusik in die Philharmonie gekommen, darunter der Konzertgänger; aber der 1. Aufzug von Richard Wagners Walküre ist auch ganz hübsch. Wenngleich Tomi Mäkelä im sphärisch mäandernden Programmheft schreibt:

DIE WALKÜRE ist im Vergleich zu Langgaards „Sphärenmusik“ leichte Kost.

Word! Aber bei einer Luxusbesetzung mit Peter Seiffert, Anja Harteros und Georg Zeppenfeld darf man zumindest von Feinkost sprechen, Delikatesse, Comestibles, hochergötzlicher Ohrenschmaus.

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6.9.2016 – Unbehaglich: Münchner Philharmoniker und Valery Gergiev spielen Ustwolskaja und Schostakowitsch

Zwei Wege ins Innerste, einer der äußersten Stille (Nonos Lontananza) und einer der äußersten Härte (Rihms Tutuguri), prägten das Eröffnungswochenende des Musikfests Berlin. Im Gastspiel der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev nun treffen beide, Stille und Härte, in einem Konzert aufeinander: in Galina Ustwolskajas 3. und Schostakowitschs 4. Sinfonie.

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Galina Ustwolskaja (1919-2006)

Lange hat das allzu spärlich erschienene Publikum Gelegenheit, die ungewöhnliche Besetzung von Galina Ustwolskajas Sinfonie Nr. 3 „Isése Messija, Spasi nas!“ für Sprecher und Orchester zu studieren: an Streichern nur Kontrabässe, als Instrumente der Tiefe außerdem Posaune und drei Tuben; für die Höhen je fünf Trompeten und Oboen; dazu ein Klavier und drei Schlagzeuger (2 Große, 1 Tenor-Trommel). Denn der Maestro und der Rezitator lassen lange auf sich warten, auch als es aus Block K schallt: Hallo, wir sind schon da! und ein Teil des Publikums sich des rhythmischen Klatschens nicht entblödet. Es wird unbehaglich, Gerüchte über Gergievs Allüren und Publikumsverachtung machen die Runde, jemand blökt: Geld zurück!

Aus gut informierten Kreisen ist aber nach dem Konzert zu erfahren Weiterlesen

3.9.2016 – Immersiv: Rihms „Tutuguri“ mit dem BR-Symphonieorchester

Nach dem bezaubernden kammermusikalischen Vorabend mit Isabelle Faust eröffnet das Musikfest Berlin offiziell und gelivestreamt mit einem solchen Klopper von Konzert, dass der Konzertgänger sich schon in der Pause wieder urlaubsreif fühlt – vier Tage nach seiner Rückkehr aus dem montanen Exil.

Auch wenn Wolfgang Rihms Tutuguri (1980-82) einen Angriff aufs Trommelfell (so Rihm im Interview) darstellt, ist es bei aller aggressiven Gigantomanie doch ein höchst pragmatisches und disponentenfreundliches Werk. Weiterlesen

2.9.2016 – Raumzeitwandernd: GrauSchumacher Piano Duo und Isabelle Faust eröffnen das Musikfest

Salzburg hat eine Ouverture spirituelle, das Musikfest Berlin eine Art Ouverture conceptionnelle: Vor dem ersten dicken Sinfoniekonzert gibt es zwei Kammerkonzerte, eins über den Raum und eins über die Zeit. Bevor Isabelle Faust Luigi Nonos La lontananza aufführt, spielt das GrauSchumacher Piano Duo: Le temps, mode d’emploi (2014) von Philippe Manoury.

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20.9.2015 – Haltlos: Arditti-Quartett spielt Schönberg und Ferneyhough

Malheurs, wie der Konzertgänger sie nur von seiner Geige übenden Tochter kennt: Schon im 1. Satz fallen dem zweiten Geiger die Noten zu Boden. Als er sich bückt, um sie aufzuheben, segelt die Kinnstütze durch die Gegend. Entscheidender Unterschied zur geigenden Tochter: Ashot Sarkissjan lässt sich nicht aus dem Konzept bringen, sondern spielt unbeirrt weiter.

Der Konzertgänger würde es zwar nicht merken, wenn in Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 3, op.30 (1927) ein paar Noten fehlten; aber es klingt ungeheuer vollständig, logisch und schlüssig. Und trotzdem schmissig: Das Stück, immerhin eine der ersten Kompositionen in Zwölftontechnik, ist absurd klassizistisch. Viersätzig natürlich, Kopfsatz mit pochendem Thema, Variationen-Adagio, menuettähnliches Intermezzo, Rondo-Finale. Für die Ausdrucksmittel gilt das noch mehr: Es klingt wie ein geradezu epigonales Streichquartett, nur eben mit „schiefen“ Tönen. Es wird wohl Schönbergs Anliegen gewesen sein zu beweisen, dass mit der neuen Technik Traditionen nicht über Bord geworfen, sondern fortgesetzt werden. Aber für den heutigen Hörer, der ganz andere Klänge achselzuckend hinnimmt, ist etwas die Luft raus. Zumindest für den Konzertgänger. Dabei ist die Brillanz des Arditti-Quartetts mit seinem Gründer Irvine Arditti, dem nervenstarken Ashot Sarkissjan sowie Ralf Ehlers (Bratsche) und Lucas Fels (Cello) äußerst beeindruckend.

Bei Brian Ferneyhough gibt es deutlich mehr als zwölf Töne. Sein Streichquartett Nr. 6 (2010) wäre ein guter Kandidat für die interessante Reihe 2x hören im Konzerthaus. Beim ersten Hören klingt es mit seinen ständigen Abbrüchen und Splittern, die gekratzt, gehauen und gefiepst werden, ungeheuer aufregend, aber der Hörer findet kaum einen Halt. Deshalb klammert er sich an das, was er findet: Hier ein gemeinsamer klirrender Klang, der die Frau des Konzertgängers an die mysteriöse Glasharmonika erinnert. Dort ein ausgiebiges Solo, in dem Irvine Arditti vorführt, was er auf der Geige alles kann (extrem viel, wenn auch ganz anderes als Paganini). Wenn gar nichts mehr hilft, kann man auch wie die ältere Dame vor dem Konzertgänger mit dem Smartphone die Decke des Kammermusiksaals fotografieren.

Konsequenz: Mehr Ferneyhough, bitte! Das Arditti-Quartett macht mit der Zugabe einen Anfang. Die schlechte Nachricht sei, so der Chef, dass man jetzt noch ein Streichquartett von Ferneyhough spielen werde; die gute, dass es nur anderthalb Minuten dauere. Von wegen! Der Konzertgänger geht jetzt, wo das Musikfest zuende ist, erstmal die Partitur studieren:

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Arditti-Quartett

19.9.2015 – Blau: Stockhausens ‚Erzengel Michael‘

Bei Stockhausen ist es wie weiland bei Wagner, man muss vom Zirkus um die Person absehen, um die Musik wahrzunehmen. Als die Frau des Konzertgängers Stockhausen, Opernzyklus, LICHT hört, befürchtet sie esoterischen Schmu in Überlänge, mindestens sieben Stunden atonale Geheimlehre, und weigert sich glattweg mitzukommen. (Dabei liebt sie den Ring.) Erst als sie erfährt, dass es nur eine gute Stunde geht, schwingt sie sich aufs Rad.

Das Ensemble Musikfabrik unter Ilan Volkov spielt im Haus der Berliner Festspiele ein Drittel eines Siebtels von LICHT, nämlich den II. Akt aus dem DONNERSTAG plus eine Art Ouvertüre sowie Nachspiel vor der Tür. Mit diesen Stücken begann Stockhausen Ende der 70er Jahre seine Arbeit an dem Zyklus. Es ist eine gute Entscheidung, das Stück über die spirituell-musikalische Weltreise des inkarnierten Erzengels Michael (die Stockhausens Curriculum Vitae entspricht) von der heiteren Seite zu nehmen: Schon als der Trompeter Marco Blaauw im drolligen Ritterwams auftritt, weiß man, dass die zahlreich erschienenen Kinder hier richtig sind. Der Posaune spielende Luzifer erscheint mit Umhang wie der Teufel im Kasperletheater. Vor allem aber ist die Musik so sinnlich und aufregend, dass sie unverbildete Hörer unmittelbar anspringt.

Featured imageIm Grunde ist ein fabelhaftes, hochvirtuoses Trompetenkonzert mit einigen szenischen Elementen zu erleben. Die Farbe Blau, die Michael zugeordnet ist, dominiert. Die Stationen der Reise werden mit simplen Requisiten dargestellt: Dom für Köln, siebenstrahlige Krone für New York, Bonsaibäumchen für Japan, Holzmaske für Bali usw. Musikalisch ist von serialistischen Umtrieben über gamelanige Weltmusik und erotische Harfenarpeggien bis zu elektronischer Echokunst alles dabei. Nur gesungen wird in dieser Oper nicht, auch nicht gesprochen, höchstens gehaucht, gepustet, geploppt, in Japan auch murmelnd bis 13 gezählt… Ein Klarinette spielendes Schwalbenpärchen sorgt für eine buffoneske Ebene. Das Bassetthorn des überaus reizenden Sternenmädchens (Merve Kazokoğlu) erklingt zunächst aus jenseitigen Sphären und rettet Michael vor dem Tuba-Drachen, doch dann mündet die Begegnung in eine ziemlich irdische Schäkerei zwischen den Instrumenten. Einen Augenblick muss der Konzertgänger ans Liebesgeplänkel im Heldenleben denken, einem seiner großen Ungunststücke; nein, lieber Stockhausen als Strauss.

Eins, zwei, drei im Sauseschritt folgen noch Verspottung, Kreuzigung, Himmelfahrt; etwas verquast ist es schon. Auch der nicht sehr beeindruckenden Elektronik merkt man an, dass Stockhausens Komposition schon fast 40 Jahre auf dem Buckel hat. Aber es ist herrliche Musik. Findet auch die Frau des Konzertgängers.

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Ensemble Musikfabrik