27.+28.11.2015 – Bruckner-Wochenende mit Marek Janowski und dem RSB

Zweimal Bruckner…

Ach, der Beckenschlag! Sogar der Sohn des Konzertgängers hat schon mal davon gehört: Dass ein Musiker in einem über einstündigen Werk nur einen einzigen Einsatz hat, findet er toll. Dass dieser Umstand bereits einen Neunjährigen beeindruckt, der Anton Bruckners 7. Sinfonie E-Dur noch nie gehört hat, beweist: 1. dass Bruckners Einflüsterer ganz richtig kalkulierten, als sie ihm den effektvollen Beckenschlag aufschwatzten; und 2. dass der besonders seriöse Interpret diesen Effekt guten Gewissens weglassen kann. Wie es mancher Tintenbube verlangt.

Marek Janowski muss seine Seriosität aber nicht beweisen, indem er naive Hörer vor den Kopf stößt: So wenig wie die Siebte den Beckenschlag braucht, so wenig braucht sie es, ihn wegzulassen. Dass Marek Janowskis Bruckner eine Bank ist, weiß man; aber wie gut diese Siebte ist, verschlägt einem trotzdem den Atem. Bereits der Anfang ist ein Wunder an Klarheit. Je durchsichtiger Bruckner klingt, desto mysteriöser: Der erste Satz scheint wie eine Phrase, ein einziger langer Atemzug, und alles taghell; umso eindrucksvoller dann der erdige Klang der Wagnertuben zu Beginn des Adagio und später das Herniedersinken der Nacht. Bis ins Finale hält der Sog: Über einen Tremoloteppich gelangen wir in die Ewigkeit, über einen Tremoloteppich müssen wir wieder hinaus. Für so einen Bruckner ist man: dankbar. (Obwohl der Konzertgänger etwas eifersüchtig auf Bruckner ist, diesen Hagestolz, der in den Frauen Ekstasen hervorruft, wie es dem schnöden Gatten nie gelingt.)

Die Siebte am Samstagabend ist der krönende Abschluss eines originellen Konzertpaares, das das Rundfunk-Sinfonieorchester am Freitag mit Bruckners Messe Nr. 2 für achtstimmigen Chor und Bläser e-Moll begann. Der Verzicht auf Streicher hat einen äußerlichen Grund, Bruckner komponierte die Messe für eine Freiluftaufführung auf der Baustelle des neuen Linzer Doms 1869. Sie fördert aber auch einen Eindruck von Strenge, der mit den eklektischen Elementen (Gregorianik-Sound, Kontrapunktik, Wagner-Anklänge im Agnus Dei) eine eigenartige und faszinierende Verbindung ergibt. Überraschende Assoziationen stellen sich ein, die Holzbläserketten zu Beginn des Gloria erinnern an Strawinsky, das gleißende Hosanna in excelsis im Sanctus an Messiaen, die fast poppige Auferstehung im Credo gar an Michael Nyman… Vor allem aber glänzt hier der von Florian Benfer geleitete MDR Rundfunkchor Leipzig, der etwa im miserere nobis des Agnus Dei Momente von überirdischer Schönheit schafft.

… und dazu Bach, Britten, Hindemith

Eigenartig und faszinierend auch, wie Janowski und das RSB Bruckner kombinieren: Im Anschluss an die Messe für Chor und Bläser erklingen zwei Werke, in denen nur die Streicher des Orchesters spielen – und natürlich das Cembalo in J.S. Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 3 G-Dur. Bach hat hier einen satten Sound, der fast altmodisch wirkt. Zugleich geht Janowski es, wenn auch gewiss nicht „historisch“, so doch ziemlich flott und mit scharfen Kontrasten an. Wunderbar die Grummelpassage der Bässe im ersten Satz. Der motorische Schlusssatz erinnert fast an den Kopfsatz einer Schumannsymphonie; trotz Hochdruck wirkt dieser Bach aber geradezu beiläufig.

In Benjamin Brittens Les illuminations nach Texten von Arthur Rimbaud  (1939) gibt es jede Menge Bläser, aber sie werden alle von Streichern gespielt: so bereits die Fanfare im ersten Stück, die die Bratschen schmettern. Auch Gläser und Glocken (Phrase) oder Lauten (Antique) können die Streicher des RSB. Es singt Jacquelyn Wagner , die beim RSB 2014 bereits Florence Schmitts durchgeknallten 47. Psalm darbot, ein unvergesslich irres Konzerterlebnis. Mag ihr nicht gerade fragiler Sopran das Mysteriöse etwa des Being Beauteous vielleicht etwas subilluminieren, so beeindrucken die famosen Wogen des Marine (das dann als Zugabe wiederholt wird) umso stärker.

Eine harte Nuss, die Janowski mit der geradezu bizarren Kombination Brucknermesse – Bach – Britten/Rimbaud dem denkenden Hörer zu knacken gibt!

Etwas ratlos machte den Konzertgänger hingegen Paul Hindemiths Konzert für Orgel und Orchester (1962), das am Samstag vor der Siebten erklang: Mal etwas anderes als Saint-Saëns‘ Orgelsymphonie, freut man sich – und hört dann ein behäbiges Klangspektakel für ausgemachte Hindemith-Fans, eine aussterbende Spezies. Orchester und Orgel treten sich als zwei gleichmächtige Blöcke gegenüber, die Registerwechsel sind auf Dauer wenig faszinierend, trotz eindrucksvoll sirrender Passagen und kräftiger Steigerungen fühlt der Konzertgänger sich wie auf einem rauh bezogenen Altherrenohrensessel mit Fernet branca und Werther’s Echten. Oder wie der gemeine Hindemith-Skeptiker gern sagt: Es klingt spröde. Aber das mag auch an den Ohren des Hörers liegen, nicht an Hindemith.

Ganz sicher liegt es nicht an der großartigen Organistin Iveta Apkalna (im weißen Hosenanzug und mit güldenem Haarkranz & Schuhwerk). Die Zugabe, ein Stück von Thierry Escaich, fegt jeden Hörer vom Sessel.

Und dann folgt ja noch Bruckners Siebte.

Zum Konzert am 27. und am 28. November

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2. Oktober 2015 – Kohärent rauschhaft: Marek Janowski und das RSB spielen Debussy, Szymanowski und Schumann

Ist man ein Depp, wenn man bei den Nuages die Augen schließt und sich Wolken vorstellt? Vielleicht hat der Konzertgänger dieses Bedürfnis nicht wegen Debussy, sondern weil er auf dem Weg in die Philharmonie Schreckliches erlebt und erhört hat: eine heftig bumpernde Anfeierprobe am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit, vor dem Brandenburger Tor, das durch ein funkelndes Riesenrad verdeckt ist, Partystimmung at its worst, deutsches Dismaland. Da müssen sich Claude Debussys Trois Nocturnes (1897-99) erst den Weg zum geschändeten Gehör verschaffen.

In Nuages blähen sich keine impressionistisch verschwommenen Gebilde, sondern in allen Grautönen abgestufte Wolken am nächtlichen Himmel. Das Englischhorn spielt eine wichtige Rolle, und der Konzertgänger muss kurz die Augen öffnen, um dem ausgezeichneten Englischhornisten Thomas Herzog zuzusehen, der stets mit eigentümlich ausgestreckten Beinen bläst. Das Rundfunk-Sinfonieorchester skizziert die Linien dieser Musik so klar, dass die Wolken auch bei offenen Augen nicht flöten gehen. Im Anschluss gebietet Marek Janowski, als das Pausengehuste zu eskalieren droht, energisch den Einsatz der Fêtes: entfesselte Festmusik, wie man sie den Menschen vor dem Brandenburger Tor wünschte, mit viel Laut, aber auch geheimnisvollem Marschtanz-Wispern von Pauke, Harfe, gestopften Trompeten oder leisen Späßchen von Flöte und Tuba. Zum Abschluss summen die Sirènes von der Empore G Sonderplätze. Janowski regelt viel mit der Linken nach, es ist faszinierend zu hören, wie sein Orchester und die Damen des MDR-Rundfunkchors auf jeden Fingerzeig reagieren. Auch wenn das über zehnminütige Sirenengesumme nicht Debussys unermüdendste Komposition ist.

Featured imageZiemlich eso klingt auch der Chor in Karol Szymanowskis 3. Symphonie B-Dur ‚Das Lied von der Nacht‘ (1914-16). Sie hat den ganz speziellen Szymanowski-Sound, der im unvergleichlich schönen Stabat Mater von 1926 gipfelt. Das Lied von der Nacht ist ein überwältigender Klangrausch, in dem man Gott und die Sterne und noch viel mehr sieht, tanzende Derwische und schöne Huris; eine musikalische Ekstase, deren Voraussetzung das ist, was Janowski in lustiger Sachlichkeit Herstellung der Orchesterkohäsion nennt. Die kammermusikalischen Inseln sind ebenso präzise wie der entgrenzte Taumel; mystisch, aber deutlich singt auch der russische Tenor Dmitry Korchak den vom Persischen ins Deutsche und dann ins Polnische übersetzten (!) mittelalterlichen Sufi-Text.

Im November wird der Konzertgänger 40 Jahre alt und wünscht sich: einen Szymanowski-Zyklus in Berlin, inklusive der Oper Król Roger.

Robert Schumanns Symphonien hingegen würde der Konzertgänger, wäre er Dirigent, gewiss meiden. Janowski aber dirigiert sie mit diesem Orchester seit 2001 zum dreizehnten Mal. Irgendwas muss also dran sein. Vielleicht hat es mit Orchestererziehung zu tun. Dem Konzertgänger jedenfalls, bei aller Sympathie für Schumann und Liebe zu seiner Klaviermusik, erschließen sich diese Symphonien nicht.

Nicht mal durch eine zweifellos erstklassige Aufführung wie diese: Die 4. Symphonie d-Moll (revidierte Fassung, 1851) geht Janowski lebhaft an, ziemlich schnell und scharf akzentuiert. So treten die gesanglichen Abschnitte im Kopfsatz schön hervor. Der kreisende Leerlauf und Aktionismus der Symphonie bleibt trotzdem mühsam; ohne die herrlichen Violingirlanden in den Mittelteilen des zweiten (Solo von Rainer Wolter) und dritten Satzes würde der Konzertgänger sie kaum aushalten. Dann die Einleitung zum Finale: einer dieser verheißungsvollen Satzanfänge in Schumannsymphonien, ein großes Versprechen, doch dann… wieder das leere Kreisen.

So schlimm wie das Bumpern am Brandenburger Tor ist es aber nicht.

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