17.3.2016 – Glitzernd: RSB, Janowski und Arabella Steinbacher spielen Prokofjew, Schubert, Haydn

Bild: THOR

Auch wenn Sergej Prokofjew nicht jedermanns Lieblingskomponist ist, lohnt es, seine beiden Violinkonzerte im Vergleich zu erleben – vor allem wenn Arabella Steinbacher sie spielt. Nicht etwa, weil Steinbacher so gut aussieht, dass gerüchteweise sogar Taube ihretwegen in die Philharmonie kommen. Diese großartige Geigerin zu hören würde auch lohnen, wenn sie wie ein behaarter Klops aussähe! Nicht nur ihr violettes Kleid glitzert und funkelt, sondern auch Prokofjews 1. Violinkonzert D-Dur (1915/17, UA 1923), dem Steinbachers „transparenter silberner Ton“ (Deutschlandfunk) besonders gut steht. Dieses Werk ist so maximal entspannt, dass ein Baby in Block C völlig zurecht jauchzt. Störend hingegen der Reinklatscher aus Block G am Schluss: Gern ließe man diese Musik, in der ein Reiz auf den anderen folgt, noch in der Stille nachklingen, die flötenbegleiteten Pizzicati, das kristallin trillernde und glissierende Eisprinzessinnenfinish des ersten Satzes, das federleicht fliegende, sausende, schwirrende, auch trommelnde Vivacissimo. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski begleitet so akkurat und begeistert, wie man es von diesem Orchester mittlerweile selbstverständlich erwartet.

Prokofjews 2. Violinkonzert g-Moll klingt im Vergleich weniger originell, dafür ist es von einer direkteren Schönheit, die auch dem Tschaikowsky- und Sibeliusfreund gefällt, geradezu irritierend klangsatt und rhapsodisch, wenn man bedenkt, dass es 1935 entstand, kurz bevor Prokofjew in die Sowjetunion zurückkehrte, mittenmang in Stalins Großen Terror. Der Abgrund, den man in diese Musik hineinzuhören neigt, liegt am ehesten in seiner Abwesenheit. Steinbacher spielt und singt den schönen Ton aus, ein großer Genuss, mit Best-of-Classics-tauglichem Andante und funkensprühendem, präzise besoffenem Finale mit iberischem Einschlag.

Franz Schubert hingegen ist jedermanns Lieblingskomponist, aber sein „Frühwerk“ hat einen schweren Stand, Brahms erwog gar (wie man im wie stets lesenswerten Einführungstext von Steffen Georgi erfährt), Schuberts Symphonien 1 bis 3 aus der Gesamtausgabe auszusperren. Aber das RSB schießt jeden Verdacht beiseite, Schuberts 3. Symphonie D-Dur D 200 (1815) sei langweilig. Mit zackiger, fast aggressiver Lustigkeit legt das Stück eine überdrehte Motorik an den Tag, die an Prokofjew denken lässt. Immer wieder schön, wie die Zusammenhänge von Janowskis altmodisch wirkenden Programmen beim Hören unmittelbar einleuchten.

Keine Prinzessinnenmusik, sondern wahrhaft königlich ist Joseph Haydns Symphonie Nr. 85 B-Dur Hob I:85 „La Reine“ (1787), die zweite der Pariser Symphonien, angeblich ein Lieblingsstück von Marie Antoinette. Janowskis Haydn ist eine sichere Bank, doch ohne falsche Routine. Wie Schubert ohne eigentlich langsamen Satz (fürs Lyrische ist heute ausgerechnet Prokofjew zuständig), dafür mit herrlichem Flötensolo von Ulf-Dieter Schaaff in der Allegretto-Romanze und prima synkopenfreudigem Menuett. Haydn wie Schubert von Janowski auswendig dirigiert.

Als einziger Wermutstropfen sei wieder einmal die elende Husterei erwähnt, die den verschnupften Wunsch weckt, Einlass in die Philharmonie nur noch mit ärztlichem Attest über die Abwesenheit von Erkältungskrankheiten und zwangsneurotisch bedingten Bronchialkontraktionen zu gewähren. Siehe zu diesem leidigen Thema auch die Ausführungen des Konzertgängers über Hörstörungen.

Am 10. April ist Arabella Steinbacher wieder beim RSB, dann mit dem Mendelssohn-Violinkonzert.

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16.1.2016 – Gedrängt: Radiale Nacht mit Teodor Currentzis und Patricia Kopatchinskaja

Der Homo oeconomicus tickt seltsam: Eine Frau mokiert sich über die 50-Cent-Gebühr für die Garderobe – vor einem Konzert mit einer Besetzung, für die man in Salzburg locker das Fünffache blechen würde. Aus der auf Einlass wartenden Menge, in der dutzende Menschen gedrängt stehen, ruft ein Mann: Ich stehe hier gedrängt! Antänzer sind zum Glück nur aus der Sasha Waltz Compagnie zu befürchten. Im Radialsystem V gibt sich Teodor Currentzis (den manche für ein Genie, andere für einen Hallodri halten) mit seiner Permer Originalklang-Wundertüte MusicAeterna die Ehre, aus diesem Anlass findet eine Radiale Nacht mit allem Pipapo statt, Kammermusik in allen Kammern und Aftershow-DJ.

In die Studios im 4. und 5. Stock ist schwer hochzugelangen, wer zu Panikattacken oder Atemnot neigt, sollte sich nicht ins Getümmel stürzen. Beim Recital of the Fittest in Studio C spielt der junge israelische Pianist Iddo Bar-Shai mit hoch springender Linker und quirliger Rechter Haydns geistreiche Klaviersonate Nr. 39 D-Dur im CPE-Bach-Stil. Als im Moll-Adagio zwei Tänzerinnen sich wie im Traum von ihren Sitzen erheben, schaut Bar-Shai etwas verdutzt, und Haydn klingt vertanzt plötzlich nach Schumann. Bar-Shai lässt sich davon ebenso wenig irritieren wie von den Bässen des DJ Acid Pauli, die aus Studio A herabdringen. In der Lounge kann man währenddessen Kammermusik von Mozart, Prokofjew und Steve Reich hören und dabei Bio-Buletten knabbern; wenn die Atmosphäre zu kneipig wird, gibt es zum Glück Besucher, die um Ruhe zischen.

Dicht gedrängt ist das Programm auch im Hauptteil des Programms mit Currentzis und MusicAeterna: Im Dunkeln erklingt zunächst Arvo Pärts sämig archaisierender Psalom, dessen Mystik für den Konzertgänger eher nach Vangelis als Josquin Desprez klingt, tintinnabula-Technik hin oder her. Da ist der gute alte Barockböhme Heinrich Ignaz Franz Biber doch ein anderes Kaliber! Der erste Geiger führt das Ensemble energisch und cool durch die Battalia D-Dur, ein aufregendes musikalisches Schlachtengemälde, das sich zwischendurch in ein geniales Chaos verwickelt. Das Ensemble mit Kontrabassisten in Lederjacke und orangem T-Shirt kann sich als liederliche gselschaft von allerley Humor hören und sehen lassen. Die Tänzer von Sasha Waltz haben indessen ein Plakat mit einem Zitat von David Bowie auf die Bühne getragen, dem das Konzert gewidmet ist (und nicht etwa Pierre Boulez): THE SUN MACHINE IS COMING DOWN AND WE’RE GONNA HAVE A PARTY.

Beethovens 5. Symphonie c-Moll dirigiert Teodor Currentzis dann ebenfalls im Geist einer battaglia, mit der Betonung auf con brio. Seinen weite Kreise ziehenden Dirigierstil kann man tänzerisch oder hampelig nennen, auf jeden Fall intensiv. Die Interpretation sieht allerdings extravaganter aus als sie klingt, es ist eine sehr solide Aufführung in hohem Tempo mit scharfen Akzenten, dem historischen Aufführungsstandard entsprechend, aber ohne die Differenziertheit eines Harnoncourt oder Norrington. Trotz Extrem-Fermate-Pausen gibt es doch bemerkenswert spannungsarme Übergänge bei diesem Hochdruck-Beethoven, der manchmal eher gedrängt als drängend wirkt. Dass die Waltz-Compagnie (in sehenswerten Kostümen von Esther Perbandt) die Symphonie vertanzt, ist schön anzusehen, gereicht der Musik aber nicht immer zum Vorteil: Ungebrochenes Freiheitspathos am Beginn (Hände recken sich durch Gitter), heftiges Gewirbel während der Durchführung oder ein sehnsüchtiger Blick im Andante con moto tragen nichts Erhellendes bei, sondern affirmieren die bleischweren Klischees, die diese Symphonie belasten. Gerade als man die Tanz-Choreografie als kompletten Fehlgriff abtun will, kommt es aber zu einem Clou, der alles rechtfertigt: Im Übergang vom Scherzo zum Finale mischen sich die Musiker mit den Tänzern – doch als das große Jubelfinale beginnt, erstarren die Tänzer mit konsternierten Blicken und… tanzen nicht mehr, sondern gehen umstandslos ab. Das ist ein beeindruckender Kontrast, der diese Symbiose von Musik und Tanz doch unvergesslich macht. Das Jubeln bleibt einem im Halse stecken, aber das Publikum bricht doch in frenetischen Beifall aus; was zumindest der musikantischen Wucht dieser Aufführung angemessen ist.

Gleichwohl kommt mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch ein gänzlich anderes Niveau in den Abend – und nun auch wirkliche musikalische Extravaganz. Statt Beethovens Violinkonzert spielt sie kurzentschlossen das Violinkonzert Nr. 5 A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart. Currentzis brummelt irgendetwas Unverständliches in die vorderen drei Reihen, vielleicht eine Warnung vor dem, was Mozart gleich blüht. Den Eingang zum Allegro aperto spielt Kopatchinskaja mit Ultra-Flageolett, dass man einen Moment fürchtet, sie habe aus Versehen die chinesische Fabrikgeige ihrer zweijährigen Nichte mitgebracht. Auch die Kadenzen und die Übergänge zu den Ritornellen im Rondo schrubbt, knallt und fiepst sie, mal heftig, mal zart und gläsern, doch immer so bizarr, als hätte sie die Noten auf den Kopf gestellt, nach Beethovens Motto: Andersrum hab ich’s schon versucht. Das Wort Originalklang bekommt eine völlig neue Bedeutung: So hat man dieses Violinkonzert noch nie gehört. Wie keine andere Spitzengeigerin ist Kopatchinskaja bereit, schöne Stellen zu vergewaltigen; doch sie hat auch einen atemberaubend innigen Ton, etwa im melancholisch bis todtraurig singenden Adagio. Eine einzigartige Musikerin, wirklich nicht nur wegen ihrer nackten Füße.

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11.10.2015 – Gigantisch leicht: Francesco Piemontesi spielt Haydn, Mozart, Beethoven und… Stockhausen

Einen gewaltloseren Pianisten als den jungen Schweizer Francesco Piemontesi kann man sich nicht vorstellen. Trotzdem klagt ein älterer Herr in der Pause, er fühle sich erschlagen. Seine Begleiterin mutmaßt gar, in der Philharmonie würden Pianisten gezwungen, sowas zu spielen. Was ist passiert? Ein paar Minuten Stockhausen, vor immerhin 60 Jahren komponiert, inmitten von Haydn, Mozart, Beethoven.

Dabei ist es ein überaus durchdachtes Programm, von Provokation keine Spur: Nach den Haydn-Variationen klingt Karlheinz Stockhausens Klavierstück IX wie ein Thema mit Variationen, nach der Mozart-Fantasie das Klavierstück V wie eine völlig freie Fantasie. Piemontesi spielt die beiden Stücke im Kammermusiksaal an einem zweiten Steinway, der hinter dem Klassiker-Steinway steht, und dieser hallt vor allem in Stück IX wunderbar mit – so wie man umgekehrt bei den jeweils folgenden Beethoven-Sonaten stets Stockhausen mithört. Man glaubt kaum, dass das 50er-Jahre-Avantgarde ist, man braucht keinen Adorno, um diese sinnliche, ja romantische Klaviermusik zu hören.

In Stück IX gibt es erstmal lange dasselbe, nämlich 227mal den gleichen Akkord, aber er klingt jedesmal anders. Wenn dann in Beethovens 31. Sonate As-Dur op. 110 vor dem Klagenden Gesang vierzehnmal das A wiederholt wird, erst recht in den zehn Wiederholungen des G-Dur-Akkords, bevor die rettende Fuge nach u. nach sich neu belebt, staunt man ergriffen über die faszinierenden Zusammenhänge, die da hörbar werden.

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Noch bewundernswerter als die Programmgestaltung ist freilich Francesco Piemontesis Anschlag: Es muss wahnsinnig schwer sein, so leicht zu spielen. Joseph Haydns wunderbare Variationen f-Moll Hob. XVII,6 spielt er in nächtlicher Sanftmut, fast verhangen, aber nie verschwommen, mit sehr weichem Anschlag und perlenden Läufen. Das lange Pedal am Schluss weist schon auf die Nachhall-Effekte bei Stockhausen voraus. Wolfgang Amadeus Mozart scheint Piemontesis Herz besonders nah, in der Fantasie d-Moll KV 397 sind die sich wiederholenden Akkorde gebrochen, verflüssigt, und das abrupte Abbrechen der Gedanken weist ohnehin über jede klassische Stil-Einheit hinaus.

In Beethovens 30. Sonate E-Dur op. 109, die den ersten Teil des Abends krönt, liegen ihm natürlich besonders die bagatellenartigen Vivace-Passagen des ersten Satzes (piano, dolce); in den Kontrasten klingt für den Hörer das Stockhausen-Erlebnis mit. Den zweiten Satz, Prestissimo mit passacaglia-artigem Bass, spielt Piemontesi nicht bärbeißig oder grimmig, sondern auch im Fortissimo ganz fließend. Das große Variationenfinale Gesangvoll, mit innigster Empfindung geht er langsam, ja gedehnt an, aber der Konzertgänger hört es in atemloser Spannung – auch deshalb, weil er es so gesangvoll in der Tat kaum je gehört hat, selbst in den höchsten Regionen über dem gewaltigen Trillerrauschen in der letzten Variation. Klangschön wie Wilhelm Kempff, aber technisch natürlich viel perfekter. Der Konzertgänger hört die E-Dur-Sonate ziemlich oft, manchmal ist er etwas enttäuscht; bei Piemontesi aber denkt er: Darauf hast du die ganze Zeit gewartet.

Ebenso vollkommen die oben schon erwähnte As-Dur-Sonate, mit der der Abend endet: der schwerelose Mozarttonfall am seltsam klassizistischen Beginn, der ungeheuerlich fahle Ton der folgenden Moll-Wendung; die sanfte Wanderung des Fugenthemas in den Bass im Finale, schließlich höchste Lautstärke ohne jedes Fugenmeistergerummse – in nur 15 Minuten werden Welten durchschritten.

Es gehört nicht viel Mut dazu, Piemontesi eine große Pianistenkarriere vorherzusagen. Braucht es Mut, als Zugabe mal eben Debussys Feux d’artifice scheinbar locker aus dem Ärmel zu schütteln? Es klingt unfassbar leicht. Das muss, wie gesagt, ungeheuer schwer sein. Nach dem Konzert ist der gewaltlose Piemontesi durchgeschwitzt, abgekämpft; aber hoffentlich ebenso glücklich wie seine Hörer.

Nachtrag: Zweite Zugabe, vom Konzertgänger nicht erkannt, war die Etüde a-Moll opus 104 von Mendelssohn – herzlichen Dank an Francesco Piemontesi für die Auskunft!

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10.10.2015 – Paradiesisch: Vogler-Quartett und Gäste spielen Haydn, Beethoven, Eggert

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Nach einem Tag voller unangenehmer Erlebnisse am Abend das Sonnenaufgangsquartett: reines Glück. Alltäglicher wie existenzieller Ärger verpuffen, wenn sich zu Beginn die Geigenmelodie über einer ruhigen Klangfläche erhebt, und beim großen B-Dur-Fortissimo durchflutet bereits pure Freude den Konzertgänger – zu einem Zeitpunkt, als Joseph Haydns Streichquartett op. 76, Nr. 4 B-Dur erst ein paar Takte alt ist. Das choralartige Adagio ist einer der berührendsten langsamen Sätze von Haydn, das Quartett stammt von 1797, es klingt manchmal schon nach romantischen Gefühlssphären.

Dabei musiziert das Vogler-Quartett völlig unsentimental. Tim Vogler hat das Gegenteil eines überpolierten Tons, er spielt manchmal rauh, aber immer bewegt, lebendig und in perfekter Koordination mit seinen Kollegen. Man hört und sieht die Erfahrung dieses Quartetts, das seit 30 Jahren in dieser Besetzung musiziert: vier brillentragende Herren mittleren Alters, von denen die mild migrationshintergründige Frau des Konzertgängers sagt, sie sähen so deutsch und protestantisch aus, dass es knallt. Aus ihrem Mund ist das ein Kompliment.

Die weibliche Note bringt dann die junge britische Schlagzeugerin Sabrina Ma auf die Bühne. In Moritz Eggerts Stücken Croatoan I-III, die sich eher assoziativ als konkret auf das mysteriöse Verschwinden einer amerikanischen Siedlerkolonie im 16. Jahrhundert beziehen (mehr dazu hier), gesellen sich nacheinander ein Glockenspiel, ein breites Percussion-Arsenal und eine Große Trommel zum Streichquartett. Die flächigen tonalen Klänge in Croatoan I – Englische Stimmen, hinter denen Glöckchensterne funkeln, verbinden sich im Ohr des Hörers mit dem Beginn des Sonnenaufgangsquartetts. In Croatoan II – Im Sandkasten verschwindet Ma hinter ihrem riesigen Notenblatt, aber man sieht zum Glück ihre Hände, die sich zwischen Bongos, Tambourin, Klingel, einer Ratsche und noch viel mehr bewegen. Auch die Streicher stampfen, scharren, klopfen und bimmeln schließlich mit Glöckchen, die an den Notenständern hängen. Den vier seriösen Herren scheint es wie dem Publikum zu gehen: Erst kostet es etwas Überwindung, dann bereit es große Freude. Schließlich die volle Dröhnung, als in Croatoan III – Perpetuum mobile die Große Trommel den Kleinen Saal des Konzerthauses erbeben lässt, Fasolt-Fafner-Stampfen mit Phasenverschiebung, mitunter auch leise Töne.

Nach der Pause gehört das Podium Moritz Eggert, der so extrovertiert auftritt wie seine Musik klingt. Seine eigene Komposition Hämmerklavier XXV: Abweichung (Hommage à Beethoven) rauscht angenehm, aber etwas undringlich am Publikum vorbei. In Ludwig van Beethovens frühem Klavierquartett Es-Dur op. 16 übernimmt er dann den Klavierpart. Zunächst runzelt man die Stirn über den grimassierenden Paradiesvogler am Klavier, aber man lässt sich schnell überzeugen, dass Eggert ein erstklassiger Pianist ist: Beethovens Witze klingen witzig, die Läufe fetzen. Im zweiten Satz, dem Andante cantabile, trägt er die Streicher auf sanften Flügeln. Eine gelungenes Zusammenspiel, die den drei grundseriösen Herren vom Vogler-Quartett das Extraquäntchen Lockerheit gibt. Und den Hörern Lust auf die nächsten Termine mit dem deutschen, protestantischen, paradiesischen Vogler-Quartett macht.

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Webseite des Vogler-Quartetts

Moritz Eggert und sein Bad Blog of Muzick

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4.10.2015 – Friedensbewegt: Akademie für Alte Musik und RIAS-Kammerchor unter Łukasz Borowicz spielen Haydn und Wranitzky

Wranitzky? Tschechischer Name, wird sich also um einen österreichischen Bundeskanzler handeln, irgendwo zwischen Kreisky und Klima. Nein? Ein deutsch-mährisch-österreichischer Komponist und Dirigent der Wiener Klassik? Da gab es mehr als diese drei? Ja, von Haydns Bruder Michael hat der Konzertgänger schon gehört, auch von Kozeluch, Dittersdorf, Hummel…

Ihre Musik lernt man kennen, wenn man öfter mal Konzerte der Akademie für Alte Musik besucht. Von Pavel Vranický alias Paul Wranitzky, dessen Name in Charles Rosens Der klassische Stil nicht einmal erwähnt wird, gab es am 4. Oktober im Konzerthaus ein Werk, dessen Titel allein schon Spannung verheißt: die überaus bewegte Grande Sinfonie caractéristique pour la paix avec la République française c-Moll aus dem kriegerischen Jahr 1797.

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So richtig battaglia-mäßig geht es allerdings erst im dritten Satz zu, wenn die Tambourtrommel von der Orgelempore knallt und im Tumult munter die Piccoloflöte pfeift. Im zweiten Satz verliert, nachdem die Klarinette (Ernst Schlader) die  Wendung des Adagio-Idylls ins Düstere vorbereitet hat, Ludwig XVI. unter schnarrenden Dissonanzen sein Haupt; in letzten Flötentönen haucht der König sein Leben aus und wird dann in einem Trauermarsch beweint. Den man natürlich so wenig am Trauermarsch der Eroica messen darf wie die Guillotinierung an der Symphonie fantastique. Die Revolution im ersten Satz ist pingelig durchstrukturiert, bei allem, was passiert, kann man bis 4 zählen, und es ist auch manche Marschmusik dabei, wie sie Opa Erwin gefällt. Nach so viel Gradzahligkeit genießt man in den Friedensverhandlungen im Finale das tänzerische Andante grazioso, ehe im Freudengeschrei der 4/4-Takt wiederkehrt.

Nicht jede Ausgrabung kann ein Meisterwerk zutage fördern, aber hörenswert ist es allemal. Und bessere Fürsprecher als die Akademie für Alte Musik mit ihrer unvergleichlichen Spielfreude und den enthusiastischen Dirigenten Łukasz Borowicz, der im lang anhaltenden Applaus mehrmals die Partitur emporreckt, kann Wranitzky sich nicht wünschen. Der umtriebige Borowicz, der im Interview im Programmheft eine Art Initiativbewerbung für freiwerdende Stellen in Berlin abgibt („Ich träume davon, eines Tages sagen zu können: Ich bin ein Berliner!“), wird dem Konzertgänger jederzeit willkommen sein.

Die Unruhe, mit der das Kyrie in Joseph Haydns Missa in tempore belli C-Dur (1796) beginnt, hört man danach mit anderen Ohren. Die berühmten Pauken im abschließenden Agnus Dei, von denen dieses Werk seinen Rufnamen Paukenmesse trägt, lassen ohnehin keinen Zweifel an ihrer militärischen Herkunft. Die Kombination mit Wranitzkys Kriegssymphonie macht diese Bitte um Frieden umso dringlicher: Haydn hat vielleicht noch keine Finalsymphonie geschrieben, aber ganz sicher eine Finalmesse. Der glanzvolle RIAS Kammerchor und die hervorragenden Solisten Robin Johannsen (Sopran), Stefanie Irányi (Alt, kurzfristig eingesprungen), Attilio Glaser (Tenor) und – besonders hervorzuheben – Andreas Wolf (Bass) musizieren wie die Akademie für Alte Musik auf höchstem Niveau. Eine ergreifende Aufführung.

Begonnen hat der Abend mit Joseph Haydns frühem Te Deum C-Dur (1763), das reine Glaubensfreude ohne jede protestantisch-bachsche Zerknirschung ausstrahlt. Wer da Atheist sein will, ist selbst schuld.

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28.9.2015 – Schneeglöckleinläutend: Mark Padmore und Kristian Bezuidenhout mit Liedern von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert

Lieder von Haydn? Was es nicht alles gibt. Höchste Zeit, sie kennenzulernen… Ein Konzert mit Haydn, Mozart, Beethoven fällt in die Kategorie Special interest, wenn es ein Liederabend ist; nur Schubert ist Mainstream. Sofern man bei einem Liederabend davon zu reden wagt.

Trotzdem ist der Kleine Saal des Konzerthauses ziemlich voll, dafür sorgt der Ruf des britischen Tenors Mark Padmore und des südafrikanischen Pianisten Kristian Bezuidenhout am Hammerklavier. Von wegen verstaubt und deutsch: Ein auffällig junges und ziemlich internationales Publikum ist da, links neben dem Konzertgänger sitzen Franzosen, rechts Spanier, hinter ihm ein kunstliedliebendes englisches Ehepaar. Als Padmore am Ende des Konzerts Schuberts letztes Lied als Zugabe ankündigt, flüstert der Engländer in antizipierender Verzückung seiner Frau zu: Aah… the Taubenpost… Von seinen Besuchern kann Berlin lernen, was gut ist!

Englisch geht es auch los, denn wie man lernt, hat Joseph Haydn erst in London 1794/95 seine besten Lieder komponiert. Den äußerst sparsamen Klaviersatz bringt das Hammmerklavier perfekt zur Geltung. Das verlöschende smiling at grieffff in der Shakespeare-Vertonung She Never Told Her Love und das dämonische hark! hark! in The Spirit’s Song nach Haydns Muse Anne Hunter sind erste Höhepunkte. Spätestens als Mark Padmore dann in der Antwort auf die Frage eines Mädchens das schöne deutsche Wort Vergissmeinnicht meistert, weiß man, dass man es mit einem großen Liedsänger zu tun hat. Ungeheure Ausstrahlung, einzigartige Ausdruckskraft in jeder Silbe bei vollkommen austarierter Dynamik und nicht zuletzt der Vorzug, dass er seine Hand niemals liederabendbetulich auf den Flügel legt; er braucht seine Hände, um sie zu ringen.

Kristian Bezuidenhout ist ein sympathisch grimassierender Begleiter, der in feinster Abstufung begleitet. Bei Mozart und Beethoven hat er zunehmend zu tun und kann auch die vier Pedale seines Hammerklaviers einsetzen, differenzierte Klangsphären, die ein moderner Konzertflügel niemals bietet. Das tut Wunderwirkung, wenn es in beiden Teilen dieses durchdachten Programms Abend werden will: vor der Pause mit Mozarts Abendempfindung, nach der Pause mit Beethovens Resignation (mit einem sucht, das wie das Verlöschen einer Flamme klingt) und Abendlied unter gestirntem Himmel, einem ergreifend einfachen Weltabschied mit berückendem Pedalschluss.

Featured imageIn der Liederdämmerung erscheint, wer sonst, nur noch Franz Schubert: am Ende des ersten Teils mit Viola, einem Lied so schön, das man es kaum ertragen kann. Grandios, wie kunstvoll Padmore seine Stimme quetscht, wenn er singt: Ach! der Lieb‘ und Sehnsucht Schmerz hat die Zärtliche erdrückt. Immer wieder kehrt der einfache Refrain Schneeglöcklein, o Schneeglöcklein, himmlische Länge, man wünscht sich, dieses Lied möge nie aufhören.

Den zweiten Teil beschließt gleich ein halbes Dutzend Schubertlieder, die sich wie von Zauberhand zu einem Zyklus verbinden, eine Wanderung im Mondschein: An den Mond in einer Herbstnacht (in der in einer letzten Aufwallung von Angst ein schrecklicher Geier an der Seele nagt, bevor die ewige Ruhe den Wanderer erlöst), Der Wanderer an den Mond, Am Fenster, Im Freien, Bei dir allein… am Ende des Liederabends steht Freude. Schubertsche Freude: voll Sehnsucht und Trauer. Und schließlich die Zugabe: aah… the Taubenpost

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Liederabende im Kleinen Saal