Jenrückend: Piotr Anderszewski spielt Bach und Beethoven

Welcher lebende Pianist kann Bach so schön romantisieren, ohne je ignorant zu wirken? Piotr-Anderszewski-Abende gehören mit dem gedimmten Licht und verinnerlichten Klavierspiel zu jenen unaufdringlich rituellen Ereignissen, von denen man sich wünscht, sie mögen einen am Ende des Lebens eben dieses ganze Leben begleitet haben. Hoffentlich wird Anderszewski nie im Großen Saal spielen. Darum: nicht bejubeln, nicht weiterempfehlen; und wenn doch, nur ganz unaufdringlich.

Im Kammermusiksaal spielt Anderszewski Bach und Beethoven. Im Publikum sitzen auch zwei ziemlich kleine, ziemlich blonde, ziemlich entzückende Mädchen. Ob sie wegen des Wohltemperiertes Klaviers II oder eher wegen der Diabelli-Variationen da sind? Weiterlesen

Dreiflügelig: Bach mit Vinnitskaya, Hadzigeorgieva, Koroliov und Kammerakademie Potsdam

Wenn die Kammerakademie Potsdam es regelmäßig nach Berlin schafft, kann mans als Berliner auch mal zur Kammerakademie nach Potsdam schaffen. Zumal bei einem so raren Programm mit so erlesenen Solisten. Zwar kommt man sich als Berliner in Potsdam immer ein bisschen vor wie der Gassenstrolch im piekfeinen Nachbarhaus. Aber die Potsdamer sind gastfreundlich, zumal im entspannten Nikolaisaal, wo man behaglicher sitzt als auf den meisten Berliner Konzertsesseln. Unbehagen nur ein paar Stunden vorher, wenn man bereits im aprilsommerlichen Potsdam eingetroffen ist, voller Vorfreude auf drei koryphänomenale Pianisten, die Bach, Bach und nochmals Bach spielen sollen — und dann spazierengehenderweise am Eingang des Nikolaisaals liest:

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Gedämpft profiliert: Piotr Anderszewski im Boulezsaal

Interessante chemische Versuchsanordnung: der Stimmungskünstler Piotr Anderszewski im Pierre-Boulez-Saal, dem üble Lästerzungen ja Plenarsaal-Atmosphäre nachreden. Wird das gutgehen, fragt man sich vor dem Haus stehend, während Profilierungsfahrer die Französische Straße runterbrettern, ein Blitzermarathon schert ja keinen Totfahrer nicht. In der verblüffenden Aprilsommerabendsonne steht auch Nike Wagner, konzentriert in die Lektüre des Programmhefts vertieft, das Gegenteil eines Profilierungsfahrers.

Und Anderszewski ist wahrlich das Gegenteil eines Profilierungspianisten. Weiterlesen

Aufatmend: „Johannespassion“ mit Audi Jugendchorakademie und Akademie für Alte Musik

Das ist mal was anderes von der deutschen Autoindustrie als Diesel, Diesel, Diesel: Licht, Luft und freier Atem mit der Audi Jugendchorakademie. Dieses verdienstvolle Projekt hat talentierte junge Sänger nicht nur nach Montréal oder in die Elbphilharmonie (mit Kent Nagano) geführt, sondern nun schon zum vierten Mal mit der Akademie für Alte Musik in die Berliner Gethsemanekirche. Zuletzt vor zwei Jahren mit der h-Moll-Messe – nun gabs Johann Sebastian Bachs Johannespassion. Wieder vorzüglich. Weiterlesen

Oboenrein vielfältig: Ensemble Berlin Prag spielt Zelenka, Isang Yun, Bach, F. Couperin

Isang Yun und Jan Dismas Zelenka im Kammermusiksaal, zwei Komponisten mit der stärksten Sogwirkung überhaupt –  eine glühende Kandidatur für die schönste Kombination des Jahres! Der Konzertgänger hat beide erst in jüngerer Zeit für sich entdeckt: den tschechisch-dresdnerischen Barockkomponisten tippelschwrittweise in den vergangenen Jahren, den deutschkoreanischen Klangdenker und Kulturenverschmelzer im zu Ende gehenden Jahr, in dem Yun hundert geworden wäre.

Beim Weiterentdecken hilft ihm das fünfköpfige, 2011 gegründete Ensemble Berlin Prag auf die Sprünge, Weiterlesen

Zwischenapplauswert: Eduardo Strausser und Isabelle Faust beim DSO

Mal ein Lob dem ungebildeten Zwischenapplaus inmitten eines mehrsätzigen Werks: Sowieso die geringste aller denkbaren Hörstörungen, kann er auch eine befreiende und aufmunternde Wirkung haben. Zum Beispiel bei so einem Extrem-Einspringing, wie es der junge brasilianische Dirigent Eduardo Strausser beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin am Freitag hinlegt. Chefdirigent Robin Ticciati ist nämlich unpässlich geworden, offenbar äußerst kurzfristig: erst nach der Generalprobe, wie man hört, wieder der Rücken.

Johann Sebastian Bachs 4. Orchestersuite D-Dur BWV 1069 könnte das Orchester wohl auch dirigentenlos spielen, Konzertmeister Wei Lu würde das schaukeln, so wohlpräpariert ist das. Weiterlesen

Blau: Víkingur Ólafsson im Pianosalon Christophori

Zwei Ereignisse, die das Menschengeschlecht voranbringen, ereigneten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf Island: Erstens wurden Fußbälle auf die einsame Insel gebracht, zweitens Klaviere.

Um sich von der segensreichen Wirkung des Letzteren zu überzeugen, radelt der Konzertgänger an der schönen blauen Panke entlang zum Weddinger Pianosalon Christophori. Dort erwartet ihn ein tiefgestimmter, ja blauer Novemberabend: Das Klavierrezital von Víkingur Ólafsson bewegt sich in zweieinhalb Stunden nur einen Halbton aufwärts, von e-Moll nach f-Moll.

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Kregelkompetent: Berliner Philharmoniker und Ton Koopman mit Bachs h-Moll-Messe

Champagnerschwaden statt Haschischrauch! Das stilgerechte Aufführen von alter Musik, über deren wilde Undergroundzeiten Ton Koopman lustig erzählen kann, ist längst philharmonabel geworden. Irgendwie nostalgisch also, dass vor der Berliner-Philharmoniker-Aufführung von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe BWV 232 ein pechschwarz gekleideter, schlohweißhaariger Herr sich auf der philharmonischen Toilette etwas Undefinierbares aus einem perlenbesetzten Hippiedöschen in die Nase zieht. Diese Soziologieprofessoren i.R. kennen da nix.

Koopmans so mitreißende wie ulkige Ganzkörper-Fuchteltechnik hat was von Ministry of Silly Conducting. Es wird geraunt, einige Sänger und Musiker mache das ganz wuschig. Aber die musikalische Gesamtsituation in der Philharmonie ist ausgesprochen kregel und die Aufführung hinreichend unfuchtelig-präzise. Weiterlesen

Hörstörung (17): Eine Dame fächert den Takt auf

Eine Frage, die nicht beantwortet wird, und einen Wunsch, der sich nicht erfüllt, ruft die ausdauernd fächerwedelnde Dame in der eigenartigen Aufführung der h-Moll-Messe durch die Berliner Philharmoniker unter Ton Koopman (Bericht) beim Konzertgänger hervor.

Wäre es besser, so die Frage, die Dame würde mit ihrem Fächer im Takt wedeln statt in jener freien Polyrhythmik, die im Zusammenspiel mit Bach den Eindruck einer Bild-Ton-Schere evoziert, oder wäre Wedelei im Taktmaß noch ärger?

Der Wunsch indes, die hinter der luftbedürftigen Polyrhythmikerin sitzende elegante Seniorin möge ihrem deutlich erkennbaren Impuls willfahren, nach vorne zu greifen und den Fächer an sich und zu zer-reißen, scheitert offenbar am unabkratzbaren Firnis der Zivilisation; was diese elegante Seniorin zu einem bewundernswerten Menschen macht, aber doch auch schade ist.

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Nervig, kickig: DSO & Ticciati im Kraftwerk Berlin

Neue Wege! Experimente! Manchmal kicken sie dich, manchmal nerven sie. So auch bei diesem dritten Termin des Mini-Festivals, das das Deutsche Symphonie-Orchester anlässlich des Amtsantritts seines neuen Chefdirigenten Robin Ticciati veranstaltet: nach Symphonic Mob im Shopping-Center und einem ambitionierten Philharmonie-Konzert jetzt ein dreistündiges Konzert-Event-Ding im Kraftwerk Berlin, dieser Betonkathedrale mit Techno-Flair. (Für die Jüngeren unter uns: Was war Techno?)

Was also kickt, was nervt?

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Weh: Konzerthaus-Saisoneröffnung mit Iván Fischer und Cameron Carpenter

Einiges tut weh bei dieser Saisoneröffnung im Konzerthaus Berlin. Zum Glück überwiegt das wohlige Weh.

Aber vor Mahlers Fünfter mit dem Konzerthausorchester gibt es erstmal Cameron Carpenter zu bestaunen, den Organisten, der Patricia Kopatchinskajas Nachfolge als Artist in Residence antritt. Zwangsvorstellung des Konzertgängers: dass bei Johann Sebastian Bach, als er in einer Leipziger Probe vor Ärger seine Perücke herunterriss und darauf herumtrampelte, eine ähnliche Haarbürste zum Vorschein käme wie auf Carpenters Kopf. Weiterlesen

Nichtsnah, himmelwärts: Isabelle Faust und Kristian Bezuidenhout beim Musikfest

Zur Geigerin Isabelle Faust geht der Konzertgänger stets mit den höchsten Erwartungen. Aber dann werden sie doch jedesmal übertroffen.

Was für eine kunstvolle Programm-Architektur bei Faust und dem Cembalisten Kristian Bezuidenhout. Und das einen Tag, nachdem Barenboim und die Staatskapelle ihre Saison und nebenbei das Musikfest Berlin mit einem Programm eröffneten, wie man es sich schwerer (was das Werk selbst angeht) und zugleich unambitionierter (als Saison- und Festivaleröffnung) nicht vorstellen kann: nämlich Bruckner ohne alles (Tagesspiegel-Kritik).

Nun im Kammermusiksaal Bach plus Frühbarock, fast drei Stunden lang. Welche Zusammenhänge und Kontraste sich da hörend erschließen! Weiterlesen

Rotstachlig: Igor Levit variiert Bach, Beethoven, Rzewski

Georgia_O'Keeffe,_The_Flag,_watercolor,_1918 (2)Respekt nicht bloß dafür, dass der Pianist Igor Levit „etwas Modernes“ spielt, noch dazu einen 60-Minuten-Klopper: Respekt erst recht für die Beharrlichkeit, mit der er seit Jahren für Frederic Rzewskis 36 Variations on „The People United Will Never Be Defeated!“ wirbt. Oder kämpft, müsste man wohl sujetgemäßer schreiben im Falle dieser Revolutionsmusik von 1975. Er kämpft/spielt das Stück auch in seinem zweiten Konzert im Kammermusiksaal. Im überreichen Doppelpack mit den Diabelli-Variationen, zwei Tage nach den Goldberg-Variationen (über die Bekannte des Konzertgängers des Lobes voll sind). Weiterlesen

Augenschließend: Beatrice Rana spielt Goldberg-Variationen

Canon_triplex_3Im Konzert gewesen. Verliebt.

Nicht in die Frau Beatrice Rana! Die wirkt zwar hinreißend, aber der Konzertgänger ist bereits verheiratet mit einer schlechthin vollkommenen Frau. Beatrice Ranas Klavierspiel aber weckt schon nach wenigen Tönen das unwiderstehliche Bedürfnis, die Augen zu schließen, um die Ohren so weit es geht zu öffnen. Der Konzertgänger gibt dem Bedürfnis nach und wird die Augen siebzig Minuten lang nicht mehr öffnen, bis zum letzten G mit dem himmlischen Vorschlag. Und das will bei einer so attraktiven Pianistin etwas heißen.

Denn schon die Aria von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 kündigt an, dass das etwas Außergewöhnliches wird zum Abschluss des Berliner Klavierfestivals im Kleinen Saal des Konzerthauses. Rana spielt langsam, voller Anmut und Konzentration, mit fast sachlichen Verzierungen. Die Basslinie in der Linken, wo sich das Thema versteckt, hebt sie deutlich, aber ohne einen Anflug von Zeigefingerhaftigkeit hervor. Weiterlesen