Zum Heulen gewaltig: RSB unter Weigle spielt Hans Rott

Müsste man mal nachzählen, aber was das Spielen von Werken angeht, die hier sonst niemand spielt, dürfte unter Berlins großen Orchestern das Rundfunk-Sinfonieorchester vorn liegen – noch vor dem (auch sehr verdienten) DSO. Für Hans Rott gibts jedenfalls 60 von 60 möglichen Punkten: kein fünfminütiger Alibi-Gegenwarts-Appetizer, sondern das einstündige Monumentalwerk eines Verlorenen aus dem 19. Jahrhundert, die Sinfonie eines verfahrenen Gesellen. Hans Rotts 1. Sinfonie E-Dur (1878-1880) ist zugleich seine letzte. Ein unermessliches Unglück, wenn man dieses gewaltige, zum Heulen ergreifende RSB-Konzert in der Philharmonie unter Leitung von Sebastian Weigle gehört hat. Weiterlesen

Zumutig: Silvesterkonzert mit RSB, Rundfunkchor, Vladimir Jurowski

Beflügeltes Jahresendkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und des Rundfunkchors, mit dem der Chefdirigent Vladimir Jurowski seinem Publikum im Konzerthaus einiges zutraut und einiges zumutet.

Gut so! Denn eine zumutungsfreie Neunte ist die eigentliche Zumutung. Nicht nur montiert Jurowski (wie vor 40 Jahren Michael Gielen in Frankfurt) Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw mitten in Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie d-Moll hinein. Er spielt überdies den Beethoven-Remix von Gustav Mahler, der für seine eigenen Aufführungen spätromantische Orchesterretuschen an den Sinfonien verübte. Historisch informierte Aufführungspraxis mal anders, aber sowas von. Weiterlesen

Goldsilbrig: Mendelssohns „Italienische“ und Mahlers „Lied von der Erde“ im Konzerthaus

Es gibt Programme, die kicken den Konzertgänger auf den ersten Blick. Obwohl er auch auf den zweiten und dritten Blick nicht ganz sicher ist, warum. Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler, das ist so ein Fall. Iván Fischer kombiniert die beiden beim Konzerthausorchester, das man ja schon deshalb mögen muss, weil es sich ohne blöden Bindestrich schreibt. (Daher der ganze folgende Text über die dritte, samstagabendliche Aufführung ohne Bindestriche.)

Warum kickts nun? Weil da Tag und Nacht aufeinandertreffen? Das sonnensüdliche Diesseits der Italienischen Sinfonie  und das schwarzschattene Jenseits des Lieds von der Erde? Felix Yin Mendelssohn und Gustav Yang Mahler? Aufbruch und Abschied überdies, wie Jens Schubbe im Programmheft schreibt, ideales Italien und eigenartiges Chinafantasma. Und beide überaus sanglich. Weiterlesen

Hörstörung (19): Ohrenzuhalten bei Mahlers Neunter mit Haitink und den Berliner Philharmonikern

Quelle: Anne Wellmer

Um diesem hemmungslosen Aus- und Raushusten in den Pausen zwischen den Sätzen zu entgehen, dem vorsorglichen Geröchel, dem Schnäuzen und Ausschmeißen, dem raschelnden Bonbonauswickeln, dem Poltern hastigen Nacheinlasses, dem unvermeidlichen Nachstimmen zwischen zweitem und drittem Satz und vor allem dem nichtigen Geplapper — um all dem zu entgehen, muss man sich bloß zwischen den Sätzen mit spitzen Zeigefingern die Ohren zuhalten: Weiterlesen

Rausmarschierend: Kurzbesuch beim DSO

Der Konzertgänger marschiert raus, vom erwachten Pan verfolgt.

Normalerweise geht der Konzertgänger kaum je vorzeitig nach Hause, schon gar nicht nach dem ersten Satz. Aber bei dieser Mahler-Dritten: Kaum ist Pan erwacht und der Sommer einmarschiert, marschiert der Konzertgänger raus. (Günstig, dass das Publikum nach dem ersten Satz stürmisch applaudiert, so stört der Konzertabgänger nicht durch Tapsen und Türenknallen.)

Aber der Tagesspiegel-Kritiker schreibt, der erste Satz habe frühlingshaft knospend geklungen, und der Tagesspiegel-Kritiker ist ein ehrenwerter Mann.

Vielleicht klang ja der erste Satz (nach einer vorhergehenden Meditation von Hosokawa, die ansprach, aber als Höröffner nicht recht schlüssig wirkte) wirklich frühlingshaft knospend, dann haben die Ohren des Konzertgängers an diesem Abend Hörschnupfen gehabt. Eine allergische Reaktion. Weiterlesen

Fein- bis überdimensioniert: Vladimir Jurowski beim RSB mit Isang Yun, Schönberg, Nono und Gustav van Beethoven

Verdient auch mal festgehalten zu werden: Von allen Berliner Orchester liefert allein das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin einen nennenswerten Beitrag zu einem der diesjährigen Themenschwerpunkte des Musikfests: Neben „Monteverdi 450“ ist das nämlich Isang Yun 100. Mit einem bedeutenden Werk des deutschkoreanischen Komponisten (1917-1995) eröffnet das RSB sein Konzert in der Philharmonie: und zwar nicht irgendeins, sondern sein Saisoneröffnungkonzert und das Antrittskonzert seines neuen Chefdirigenten Vladimir Jurowski. Es ist der Abschluss eines Isang Yun gewidmeten Tages und zugleich das Eingangstor zu einer wüst-genialen Programmmischung, wie Jurowski sie offenbar liebt: von Arnold Nono bis zu Gustav van Beethoven. Dafür muss man Jurowski zurücklieben. Weiterlesen

Flüchtig: Konzerthausorchester, Iván Fischer und Gustav Mahler spielen Gustav Mahler

Séance in der Philharmonie! Nicht nur das Konzerthausorchester verirrt sich beim Musikfest an diesen ungewohnten Ort, sondern Gustav Mahlers Geist erscheint höchstpersönlich. Und er findet sich dort schneller zurecht als Dirigent Iván Fischer, den man neulich bei Gardiners Poppea orientierungslos herumsuchen sah, bis das Personal ihn an seinen Platz in Block A führte. Gustav Mahler aber findet ohne Probleme den Steinway-Flügel, der für ihn vor dem wartenden Orchester aufgebaut ist. Weiterlesen

Weh: Konzerthaus-Saisoneröffnung mit Iván Fischer und Cameron Carpenter

Einiges tut weh bei dieser Saisoneröffnung im Konzerthaus Berlin. Zum Glück überwiegt das wohlige Weh.

Aber vor Mahlers Fünfter mit dem Konzerthausorchester gibt es erstmal Cameron Carpenter zu bestaunen, den Organisten, der Patricia Kopatchinskajas Nachfolge als Artist in Residence antritt. Zwangsvorstellung des Konzertgängers: dass bei Johann Sebastian Bach, als er in einer Leipziger Probe vor Ärger seine Perücke herunterriss und darauf herumtrampelte, eine ähnliche Haarbürste zum Vorschein käme wie auf Carpenters Kopf. Weiterlesen

Unruhevoll: Robin Ticciati & DSO spielen Gabrieli, Purcell, Adès, Mahler

Copy_of_Lute_Player_by_Frans_Hals_-_SK-A-134Rein äußerlich wirkt Robin Ticciati wie ein Student, der einem in der U-Bahn mit seiner Gitarre ein bissl auf den Senkel geht, aber dabei grundsympathisch ist auf seine wuschlig-schüchterne Art. Als Dirigent in der Philharmonie jedoch, noch dazu baldiger Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters, weiß er offenhörlich, was er tut. Beeindruckend hoher Klangsinn. Nur die ganz großen dramaturgischen Bögen in den ganz großen Werken scheinen manchmal brüchig. Aber nicht der Spannungsbogen des Konzerts: ein ausgefinkeltes, subtil zusammengestelltes Programm ist das. Weiterlesen

11.2.2017 – Ohrend, herzend: Berliner Philharmoniker, Rattle, Kopatchinskaja spielen Ligeti, Rihm, Mahler

mahler_gustav4Diesmal kann kein Nörgler sich beschweren, die Programme der Berliner Philharmoniker wären zu seicht: Hier stellt der großartige, der unsterbliche György Ligeti nicht nur Rihm (und Boulez) in den Schatten, sondern selbst Gustav Mahler, dessen 4. Sinfonie G-Dur nach der Pause natürlich der planmäßige Höhepunkt des Konzerts sein sollte.

Und ist auch keineswegs missglückt. Den ersten Satz gehen die Philharmoniker unter Simon Rattle zwar nicht gerade Bedächtig an, nicht subtil abgründig. Stattdessen heizt der glöckchenklingende Schlitten von Beginn an unter Hochdruck dem Abgrund entgegen. Die gemächliche Bewegung des zweiten Satzes ohne Hast scheint voller sehr giftiger Spitzen, am wärmsten klingt paradoxerweise die um einen Ganzton höhergestimmte Solovioline von Daniel Stabrawa.

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12.8.2016 – Jugendstilrotbullig: Mahlers Dritte in Toblach

gustav-mahler-grandhotel-toblach-dobbiacoJugendstil statt Décadence: Im aus kakanischer Vorzeit auf uns gekommenen Grand Hotel Toblach, durch das der Geist Gustav Mahlers spukt, befindet sich heute eine Jugendherberge. Ebenso erfrischend ist es, wenn ein vorzügliches Ensemble junger Musiker, nämlich (Achtung:) Orchester und Chor der Musikakademie der Studienstiftung des Deutschen Volkes im Konzertsaal des Grand Hotels einen Brocken wie Mahlers Sinfonie Nr. 3 wuppt. Angesichts dieses juvenilen Flairs hat der Konzertgänger seine sechsjährige, mit der Bernstein-Aufnahme wohlpräparierte Tochter mitgebracht, deren lebhafter Fantasie Mahlers blumige Klangsprache durchaus entgegenkommt.

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Ichlöschend: Ingo Metzmacher und das DSO spielen Xenakis, Mahler und Schönbergs ‚Jakobsleiter‘

Schon vor der Pause fließen Blut und Tränen: Iannis Xenakis‘ Shaar für großes Streichorchester (1983) ist Neue Musik für Slayerfans – was den Druck angeht, nicht etwa den Lärmpegel. Der hält sich in Grenzen, auch wenn der Anfang klingt wie der Angriff der Killerbienen. Oder ein Fliegerangriff. Die Energie von Shaar entsteht aus dem Wechsel von Gleiten und Pochen: einerseits heftige Glissandi, oft gegeneinander verlaufend, und mächtige Cluster, andererseits vehemente Tonwiederholungen. Schließlich völlig überraschend ein Einschnitt, zarte Töne: eine einzelne Geige beginnt zu singen, dann eine zweite. Xenakis ließ sich, wie man im aufschlussreichen Essay von Habakuk Traber erfährt, von einer kabbalistischen Legende inspirieren: Verfolgung durch das geballte Böse und, anders als in der Sage, Zuflucht durch ein geheimes Tor (shaar) aus der Welt. Auch allerlei mathematische (oder eher zahlenmystische) Elemente verstecken sich in der Komposition. Seltsame Angelegenheit, die stochastische Musik, aber Xenakis ist immer packend, das hat der Konzertgänger schon bei einem Streichquartett im Konzerthaus und der Oresteia im Parkhaus der Deutschen Oper erfahren. Faszinierend und perfekt gespielt, wie in Shaar der Klang am Ende ins Nichts verschwindet und dann noch einmal anschwillt. Der Konzertgänger merkt, dass er aus der Nase blutet.

Tränen dann bei Gustav Mahlers Kindertotenliedern. Die alte Dame neben dem Konzertgänger fängt zuerst mit dem Weinen an, im dritten Lied Wenn Dein Mütterlein tritt zur Tür herein. Dabei drückt das Deutsche Symphonie-Orchester gar nicht auf die Tränendrüse, auch wenn Ingo Metzmacher beim Dirigieren öfter in die Knie geht. Wiebke Lehmkuhl singt ergreifend, wenn auch nicht immer sehr textdeutlich; jedenfalls ist sie keine Konsonantenspuckerin. Die Kindertotenlieder sind ohnehin kaum zu ertragen, aber wie sie hier aus dem Xenakis-Inferno hervorgehen, steigert ihre Wirkung noch erheblich. Im Saus und Braus und Graus des fünften Liedes hat man den vorhergehenden Shaar-Sturm wieder ganz präsent. Kaum jemand entwirft so aufregende Programme wie Metzmacher. Auch hier am Schluss ein Tor, eher Resignation als Hoffnung: von keinem Sturme erschrecket, von Gottes Hand bedecket.

Featured imageHauptwerk des Abends ist Arnold Schönbergs Fragment gebliebenes Oratorium Die Jakobsleiter. Trotzdem ist die Philharmonie ausverkauft: Das können doch nicht alles Alttestamentler sein? Nein, im Foyer sieht der Konzertgänger auch den Bäcker aus seinem Kiez.

Die Jakobsleiter ist theologisch nicht so gewieft wie die spätere (ebenfalls unvollendete) Oper Moses und Aron, sondern hat noch viel von expressionistischem Menschheitsdrama. Von den kollektiv Jubelnden (famoser Rundfunkchor) bis zum einsam Sterbenden (Edda Moser, sprechend) treten die Erdenbewohner dem oberlehrerhaften Erzengel Gabriel gegenüber; die Sanftergebenen mit ihrem schwebenden Ja, ja erinnern sogar an Kurt Weill. Die Hauptattraktion des Stücks ist aber der Schluss, wo vier Fernensembles aus der Höhe die Musik in die Ewigkeit verwehen lassen – das dritte Tor an diesem Abend. Der Blick in andere Sphären beginnt mit einer Sologeige auf der Empore und endet mit dem sterbenden Ich, das in D SONDERPLÄTZE verlischt. Ein Sopran singt dort oben lange Vokalisen auf A. Übrigens eine merkwürdige Querverbindung zu Carl Nielsens 3. Symphonie, in der gestern zu ganz anderen Zwecken ähnlich gesummt wurde: Pastorale statt Transzendenz. Ob das Summen der Seele bei Schönberg geschmackssicherer und tiefsinniger ist als bei Nielsen, sei dahingestellt. Aber zweifellos ist es eine große Konzerterfahrung: einschüchternd und beeindruckend.

Mal den Bäcker fragen, was er dazu meint.

Zum Konzert

Aufhellend: Marek Janowski und das RSB spielen Mahler, Schönberg und Nielsens Dritte

Der Akkord! So wie die Kinder des Konzertgängers über einen Witz, den sie schon hundertmal gehört (oder erzählt) haben, immer wieder lachen, so erschrickt der Konzertgänger jedesmal von neuem, wenn in Gustav Mahlers Adagio  aus der unvollendeten 10. Symphonie der Akkord kommt: das dissonante Neunton-Ungeheuer. Marek Janowski lässt das Rundfunk-Sinfonieorchester nicht mal besonders laut spielen, aber das Blut gefriert einem in den Adern. Dabei hat man die ganze Zeit schon auf diesen Akkord gewartet.

Mit ihm verglichen wirkt beim frühen Schönberg alles harmlos, auch der Tod Toves, den das Lied der Waldtaube aus den Gurre-Liedern erzählt, hier in einer hörenswerten Fassung für mittlere Stimme und Kammerorchester, die Arnold Schönberg persönlich 1922 eingerichtet hat. Durch die kleine Besetzung, v.a. mit Holzbläsern, aber auch Klavier und Harmonium, kommt die Stimme wunderbar zur Geltung. Die schottische Mezzosopranistin Karen Cargill ist nicht nur eine beeindruckende Erscheinung, sondern singt mit umwerfend verschwenderischem Vibrato – für eine gurrende Waldtaube ganz angemessen.

Mit den Gurre-Liedern sind wir schon in Dänemark. Das Konzert ist, janowski-typisch sachlich, der heimliche Höhepunkt des Musikfestes, erstens weil unsere eigenen Berliner Orchester letztlich doch die besten sind (poltere nicht, flüstert seine Frau dem Konzertgänger zu) und zweitens, weil hier die drei Schwerpunkte Mahler, Schönberg, Nielsen in einem einzigen Konzert aufeinandertreffen. Etwas viele Schwerpunkte, Mahler zu hören ist immer schön, aber mehr Nielsen wäre noch schöner gewesen, da seltener; aber in diesem Konzert geht es auf. Schönberg ist hier das Bindeglied zwischen Nielsen und Mahler, über den er schrieb: Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Featured imageCarl Nielsen ist mit seinen sechs Symphonien längst nicht so weit gekommen, und nirgends ist er von der Lösung der letzten Rätsel weiter entfernt als in der 3. Sinfonie Sinfonia espansiva (1910/11). Zum Glück! Viel einfacher gestrickt als die weltkriegserschütterte Fünfte, die das Royal Danish Orchestra gespielt hat, und die zerfledderte Sechste, die das Mahler Chamber Orchestra in einer Kammerversion vorgestellt hat, ist die Dritte genau das Richtige für die schöne Schwangere, die in der Pause im Foyer ihren Bauch streichelt: eine Extradosis Lebensenergie. Der begeisterte Schwung des ersten Satzes Allegro espansivo ist pure Freude, frei von jeder hässlichen vitalistisch-biologistischen Ideologie. Im folgenden Andante Pastorale summen Sopran und Bass im Block H stehend auf Aah, ähnlich wie in der (viel abgründigeren) Pastoral Symphony von Ralph Vaughan Williams: Da bekommt der Konzertgänger das Gefühl, ganz allgemein über der Weite des Lebens zu schweben. Ein gutes Gefühl! Das bis ins Finale anhält: ein hymnisches, mitunter etwas redundantes Finale mit viel Posaune. Es kreist vor sich hin, könnte ewig so weitergehen, aber das wäre gar nicht schlimm. Das Gegenteil des Akkords. Expansive Freude allseits!

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Trop molle et trop dure: Iván Fischer, Philippe Jaroussky und das Konzerthausorchester spielen Dalbavie und Mahler

Nichts so schön wie der Jammer: etwas ganz anderes als Jammern. Es ist das passende Wetter für ein richtiges Lamento, durch Wind und Regen radelt der Konzertgänger Sonntagvormittag zur Philharmonie, wo das Konzerthausorchester für das Musikfest ein Auswärtsspiel gibt. Mit demselben Programm hat es am Freitag bereits im Stammhaus am Gendarmenmarkt seine Saison eröffnet; dort hielt Iván Fischer vor dem Konzert eine kurze Ansprache, die zeigt, warum man ihn auch jenseits des Musikalischen schätzen muss:

In der Philharmonie hat am Abend zuvor noch das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons Mahlers Sechste gespielt: unbefriedigend, sagt der alte Herr, der neben dem Konzertgänger sitzt und jede Mahlersymphonie schon hundertmal gehört hat, kalte Perfektion, zu laut, nur gut, dass Nelsons nicht Philharmoniker-Chef geworden sei. (Dabei sind dieser und jener Kritiker hellauf begeistert.) Etwas entfernt unterhalten sich 3 Jungdirigenten über die entsetzlichsten Studentenkompositionen, die sie aufzuführen hatten.

Über Marc-André Dalbavies Sonnets de Louise Labé von 2008 dürften sie sich nicht beschweren, das ist ein beglückendes Klangerlebnis, komplex und abwechslungsreich komponiert und zugleich atmosphärisch dicht, als dunkelsüchtiger Teenager hätte der Konzertgänger solche Musik tagelang hören mögen. Hier dauert es 20 schöne Minuten. Philippe Jaroussky singt die Liebesklagen der Renaissance-Dichterin Louise Labé in perfektem When-I-Am-Laid-In-Earth-Sound: La vie m’est et trop molle et trop dure. Dalbavie komponiert mit viel Respekt für den Text, zum großen Teil syllabisch, manchmal rezitativisch, die feste Stimme des Countertenors schwebt in stabiler Schwermut über aufgefächerten Klangflächen, die sich mehrmals massiv zusammenballen. Im Sonett Lut, compagnon de ma calamité schreitet die Harfe (anstelle der Laute) minutenlang immergleich in die Tiefe, im letzten Sonett Ô longs desirs scheint der Streicherklang der Stimme einen mysteriösen Hall zu verleihen, bevor sie den Vers car ie suis tant nauree en toutes part (ich bin ja überall schon so zerschunden) mit ausgiebigem Melisma auf part zelebriert, eine zerschundene Koloratur sozusagen; am Ende verschmilzt die Stimme mit der Flöte.

Nach der Pause gibt es noch mehr vormittägliche Nachtmusik: Gustav Mahlers 7. Symphonie, die wegen des ordinären Finales seltener gespielt wird als ihre Schwestern. In der Mitte des Orchesters sitzt zwischen Celli und Bratschen das Tenorhorn, das sich aus der Blaskapelle ins Symphonieorchester verirrt hat; für den Konzertgänger ein bizarrer Gruß aus Südtirol, wo er bis vor wenigen Tagen war. Featured imageIván Fischer ist der vollkommene Dirigent für alles, was wie aus der Ferne klingt, die Mitte des 1. Satzes etwa und dann natürlich die 3 Mittelsätze: In der Nachtmusik I muss der Konzertgänger, als sich die Kuhglocken zu dem wiederkehrenden echoenden Horn gesellen, vor Glück die Augen schließen. Wie Fischer anschließend das schattenhafte Scherzo in Gang zaubert – dafür nähme man das Finale in Kauf, selbst wenn es 3 Stunden dauern würde. Doch zunächst bleibt die Musik im Zauberreich, in der Nachtmusik II, einer Serenade mit Gitarre und Mandoline.

Wie stets dann zu viel Dur im Rondo-Finale, das als Allegro ordinario beginnt. Fischer und das Konzerthausorchester machen das Beste aus diesem Satz, versuchen Freude statt Lärm zu evozieren, soweit die Paritur es eben zulässt. Wenn man den ersten Schreck überwunden hat, kann man es auch für mitreißende Musik halten, vor allem das irre Schlussspektakel; dem Konzertgänger kommt es trotzdem vor wie eine symphonische Dichtung über die Schrecken des Erwachens aus seligen Nachtgefilden.

So gut habe er Mahlers Siebte noch nie gehört, sagt der Herr, der jede Mahlersymphonie schon hundertmal gehört hat.

Eine Aufzeichnung des Konzerts wird am 19. September im Kulturradio gesendet.

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Philippe Jaroussky als Artist in Residence im Konzerthaus 2015/16