Prophetenmütterlich: Meyerbeers „Le Prophète“ an der Deutschen Oper

Sind die Täufer nicht slightly aktueller als der olle Luther? Nicht die Täufer im allgemeinen, sondern die von Münster, wie die Nachwelt (oder die Siegergeschichtsschreibung) sie darstellte: eschatologisch, apokalyptisch, menschheitserlösend, durchgeknallt, blutrünstig. Diese Art von Wiedertäufern gibts ja bis heute, sie führen Endzeitkämpfe aller Art. Sie haben das 20. Jahrhundert versaut, heute schneiden sie Ungläubigen die Köpfe ab oder wollen hierzulande unsere Kultur von Fremdkörpern reinigen.

Kein Wunder also, dass Giacomo Meyerbeers Le Prophète (uraufgeführt 1849, 14 Monate nach der Verfassung des Kommunistischen Manifests) derart knackt. Wenn die Aufführung so gut ist wie an der Deutschen Oper Berlin. Weiterlesen

Maeterlinck-Doppel: „Pelléas et Mélisande“ an der Komischen und „L’Invisible“ an der Deutschen Oper

Schöne Gelegenheit, zweimal Opern nach Maurice Maeterlinck zu sehen und zu hören: Samstag Pelléas et Mélisande an der Komischen Oper, Sonntag L’Invisible an der Deutschen Oper.

Zwei Wochen nach der Uraufführung von Aribert Reimanns neuer Oper (ausführliche Premierenkritik) ist der Saal der Deutschen Oper doch eher kammermusikalisch besetzt, zumindest im Rang. Trauriger Berliner Gleichmut gegenüber einer herausragenden Neuigkeit. Aber Reimann ist wieder da, diesmal sitzt er im ersten Rang! Weiterlesen

Schattensichtbar: Aribert Reimanns „L’Invisible“ an der Deutschen Oper Berlin

Der französische Titel lohnt allein schon deshalb, weil offen bleibt, ob er DER, DIE oder DAS UNSICHTBARE bedeutet. Aber das ist nur einer von vielen Gründen, warum Aribert Reimanns neue Oper L’Invisible, uraufgeführt am Sonntag an der Deutschen Oper Berlin, so sehr lohnt: Dringliche Empfehlung für alle, denen diese Kunstform am Herzen liegt!

Das WER, WIE, WAS der Oper ist allerdings komplex. Aber nicht esoterisch, sondern hinreichend durchdringbar, um eine packende Opernerfahrung zu machen. Vorausgesetzt, man macht sich vorher ein klein wenig mit dem dreiteiligen Aufbau der Sache vertraut.

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Kreuzluftspiegelnd: Wiederaufnahme „Don Carlo“ an der Deutschen Oper

alonso_sanchez_coello_koenig_philipp_ii._von_spanien_in_spanischer_hoftracht_mit_dem_orden_vom_goldenen_vlies_um_1568_originalHier keine Perlenfischer. In Berlin hat man ja den Luxus, nach anderen Perlen zu fischen: Man kann z.B. Giuseppe Verdis Don Carlo, gestern an der Deutschen Oper wiederaufgenommen, mit dem eben gehörten Don Carlo an der Staatsoper vergleichen. Dort alles in allem differenzierter, hier theatralischer, auch plakativer, für den Konzertgänger letztlich aber emotional berührender.

Noch anregender der Vergleich mit dem sehens- und hörenswerten Boris Godunow, der eben an der Deutschen Oper Premiere hatte: Traurige Despoten unter sich, der Boris und Carlos Vater Philipp (siehe rechts). Beide wahrscheinlich gar keine schlechten Könige, so sub specie historiae betrachtet. Aber wie sie sich quälen sich sub specie aeternitatis (im Puschkin-Russland) bzw sub specie amoris (im Schiller-Spanien). Weiterlesen

Basskreiselnd: Mussorgskys „Boris Godunow“ an der Deutschen Oper

Dieser neue Boris Godunow an der Deutschen Oper hat ein offensichtliches und ein offenhörliches Zentrum. Das offensichtliche ist ein bunter Kreisel: kein Brummkreisel, sondern ein schaurig stummer. Das offenhörliche sind die farbigen Bässe: keine Brummbässe, sondern melosströmende.

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Schmerzlich: Brittens „Billy Ohnesorg“ an der Deutschen Oper

Black_sea_by_Ivan_Aivazovsky2. Juni, schmerzlicher Abschied von Benjamin Brittens Billy Budd: für diese Saison, hoffentlich nicht für immer. Aber wo soll die Deutsche Oper Berlin das Publikum herzaubern für dieses Juwel? Besser kann sie ja kaum sein, dieser Billy Budd gehört(e) zum Stärksten, Eindrucksvollsten, Berührendsten, was hier in den letzten Jahren auf die Bühne gekommen ist. Weiterlesen

Hochseetüchtig? Dirigent Moritz Gnann zur Wiederaufnahme von „Billy Budd“ an der Deutschen Oper

WinslowHomer-Eight_Bells_1886Zu den verdienstvollsten Bemühungen der letzten Jahre an der Deutschen Oper gehört das Engagement für das Werk von Benjamin Britten — zuletzt Death in Venice. Frommer Wunsch, weil’s wahrscheinlich der Highway to Pleite wäre: nicht nur Verdi- und Wagner-Wochen, sondern einmal eine Britten-Woche, inklusive The Rape of Lucretia.

Jetzt kommt der großartige Billy Budd wieder, jene geheimnisvolle Melville-Veroperung, in der es nicht nur um Männerliebe geht, die sich nicht anders als in Hass auszusprechen vermag, sondern auch um die mystische Kraft des Stotterns. Wo wird in der Operngeschichte sonst so bedeutungsvoll gestottert?

Der Dirigent Moritz Gnann dirigiert Billy Budd dreimal (24. & 26. Mai, 2. Juni), zudem in einer kuriosen Kombination Donizettis L’Elisir d’Amore am 23. & 27. Mai. Zuvor hat der dem Konzertgänger ein paar Fragen beantwortet. Weiterlesen

Schwarzgrünschwarz: Wagners „Fliegender Holländer“ an der Deutschen Oper

Kohlrabendüsterer neuer Holländer, der eigentlich Erik und Senta heißen müsste – sowohl was Sängerleistungen als auch was Regiekonzept angeht.

August_Strindberg_-_Storm_in_the_Skerries._-The_Flying_Dutchman-_-_Google_Art_Project Weiterlesen

Resonanz und Hygiene

Was wird nicht alles bekakelt, wenn es um die Klassik geht! Unsterbliche und vergessene Werke, spektakuläre und enttäuschende Aufführungen, Weltstars, Blender, geheime Sandrart-cupidMeister ihres Fachs – keine unwichtigen Dinge, gewiss. Doch wer spricht von den Toiletten? Dabei kann niemand bestreiten, dass der Konzertbesucher dort Minuten von hoher Dringlichkeit verbringt. Nicht nur, weil es innerste Bedürfnisse gilt, sondern auch, weil Musik nachklingen will und muss.

Doch hält das stille Örtchen, was sein Name verheißt? Dieser Frage gehe ich im neuen VAN-Magazin nach. Ein investigativer Blick in die Eingeweide der Klassik.

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Ewiglächelnd: „Götterdämmerung“ an der Deutschen Oper

„Vivat Götz!“ schallt es aus Reihe 16 oder 17, nachdem der letzte Ton der Götterdämmerung verklungen ist und damit der erste von zwei Abschiedszyklen des Rings des Nibelungen vorbei. Aber genau mit dieser Götzdämmerung lässt die Deutsche Oper ja ihren Götz Friedrich hochleben, indem sie sich, wie er es schon zu Lebzeiten wollte, ab 2020 an einen neuen 800px-Siegfried_and_the_Twilight_of_the_Gods_p_130Ring macht. Für diesmal aber kommt der Konzertgänger mit guter Kunde zurück aus dem alten Ring. Noch einmal – zum letzten Mal – lächelte ewig der Gott.

Nur kaltschnäuzige Opernfreunde und, zugegeben, auch die ächzende Bühnenapparatur ersehnen schon lange das Ende der ewigen Qual. Fataler Hörfehler, denn Waltraute singt ja vom Ende der Ewigen Qual! (Wie macht man beim Singen Groß- und Kleinschreibung hinreichend deutlich?)

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Entflammend: „Siegfried“ beim vorletzten Tunnel-Ring an der Deutschen Oper

Im Siegfried möchte der Konzertgänger normalerweise immer vorspulen. Nicht so in dieser Aufführung an der Deutschen Oper, mit der der vorletzte Zyklus von Götz Ring45Friedrichs legendärer Ring-Inszenierung seinem Ende zu eilt. Es ist, als wollte alles die Zeit anhalten.

Auf fast sechs Stunden dehnt sich der Mittwochabend, nicht nur wegen der ausgedehnten Pausen, sondern auch weil das Orchester (Sonderpunkte für Klarinette und Horn im zweiten Aufzug) unter Donald Runnicles, ohne Bummelei zwar, den Abschied weidlich zelebriert. Der Nachbar des Konzertgängers, der Urväter-Ring-Weisheit mit Löffeln gefressen hat, kann den Unterschied zu Böhms und Karajans Zeiten minutiös, ja sekundös belegen. Weiterlesen

Zeittunnelsausend: Erster letzter „Ring des Nibelungen“ an der Deutschen Oper

Tube Shelter Perspective 1941 by Henry Moore OM, CH 1898-1986

Henry Moore, Tube Shelter Perspective 1941, Copyright Tate

Hojotoho, Abschiedssause im Zeittunnel! Mit Rheingold und Walküre begann am Wochenende der erste der beiden letzten Zyklen, den die Deutsche Oper ihrem Ring des Nibelungen gewährt. In der legendären Götz-Friedrich-Inszenierung, die gefühlt älter ist als der Ring selbst. Ein düst`rer Tag dämmert dem Tunnel, in zwei Wochen geht’s mit Alba ab zum Recyclinghof.

Schon wieder eine Unendlichkeit vorbei also. Zu End‘ ewiges Wissen, wie Wilhelm Busch dichtete, hinab zur Mutter, hinab! Oder in Richard Wagners unsterblichen Versen: Eins, zwei, drei im Sauseschritt saust die Zeit, wir sausen mitWeiterlesen

Sterbensschön: Brittens „Tod in Venedig“ an der Deutschen Oper Berlin

Vor der Schönheit dieser Musik werden auch geringere Schriftsteller als Gustav von Aschenbach krank: Zwar nicht mit Cholera, aber doch gesundheitlich angegriffen wohnt der Konzertgänger der Premiere des Tod in Venedig bei, mit dem die Deutsche Oper Berlin ihren Benjamin-Britten-Zyklus nicht vollendet, aber beschließt – nach vier von zwölf The_grand_canal_of_Venice_(Blue_Venice)_-_Edouard_ManetOpernVorläufig sei dieser Abschluss, orakelt Dirigent Donald Runnicles im Programmheft.

Im Tod in Venedig, Brittens letzter Oper von 1973, ist alles endgültig. Das Pendel, das bekanntlich schon in Thomas Manns Erzählung zwischen schwulem (genauer: päderastischem) Begehren und Todesvision hin und herschwingt, schlägt hier stärker in die letale Richtung aus. Weiterlesen

19.2.2017 – Sprachlos: Scartazzinis „Edward II.“ an der Deutschen Oper

king_edward_ii_of_englandUm mal mit einer Äußerlichkeit anzufangen: Warum machen sich neue Opern gerne klein, indem sie auf eine Pause verzichten? Nun befinden wir uns im zweiten Jahr, da die Deutsche Oper Berlin höchst löblich beschlossen hat, alljährlich eine große Uraufführung zu stemmen. Und wie im letzten Jahr bei G. F. Haas‘ Morgen und Abend vergehen auch heuer bei Andrea Lorenzo Scartazzinis Edward II. neunzig ununterbrochene Minuten wie im Fluge.

Aber dass sie wie im Fluge vergehe, ist ein zwiespältiges Lob für eine Oper, zumal wenn der Regisseur Christof Loy sie im Interview gar mit Giacomo Meyerbeers Grand Opéra Die Hugenotten vergleicht. Weiterlesen

Taststörung

Zu den unangenehmsten Kindheitserfahrungen gehören Erwachsene, die einen ungefragt anfassen.

pompeo_batoni_-_dido_and_aeneas_1747Auch im Konzert und in der Oper kann man, nebst Hörstörungen und Sehstörungen, solche Taststörungen erleben. Nur dass die Taststörung nicht unbedingt vom Nachbarn ausgeht, mit dem in Körperkontakt zu treten man genötigt ist, sondern von den Künstlern verschuldet wird: Etwa wenn das Publikum im Radialsystem beim Rameau-Gastspiel von Teodor Currentzis‘ MusicAeterna (2015) Ringelpiez mit Anfassen spielen soll.

Etwas Ähnliches war nun in der Tischlerei der Deutschen Oper zu erleben: bei Dido, Henry Purcells Meisterwerk reloaded beziehungsweise bruchgelandet. Weiterlesen