Philharmonikerkonzerte machen den Konzertgänger manchmal ratlos: das brillanteste Orchester mit dem törichtsten Publikum. Da gibt es Abonnenten, die den Erasmusstudenten anpflaumen, weil er die Reihe von der falschen Seite aus betritt; feine Herren, die in der Pause schwadronieren, so einen Durchblick wie Helmut Schmidt werde Angela Merkel nie haben und Muslime hätten keine Kultur; eine alte Dame, die bei einem Stück von Lachenmann einen verächtlichen Lachkrampf bekommt; kollektives Husten, wenn mal Anton Webern gespielt wird.
Dabei machen die Philharmoniker es ihrem Publikum meistens nicht schwer, so ungewöhnliche oder riskante Programme wie beim DSO oder RSB gibt es selten. Auch heute Abend fragt der Konzertgänger sich zunächst nach dem Zusammenhang zwischen Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, Schostakowitschs 2. Violinkonzert und Ravels Daphnis und Chloé-Suite. Vielleicht nur der, dass es drei brillante Stücke sind, auch wenn eins einen spröden Titel hat und eins extrem depressiv klingt. Natürlich ausverkauft, zumal einer der besten Dirigenten der Welt, Mariss Jansons, und einer der besten Geiger, Frank Peter Zimmermann, zu Gast sind.
Bela Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta ist, wenig originell, der Lieblingsbartók des Konzertgängers; dieses eigenartige Stück ist ja mittlerweile ein Klassiker, trotz des (zurückhaltend gesagt) sachlichen Titels, Bartók war kein Marketinggenie. Der 1. Satz mit ihrer schreitenden, anschwellenden Fuge, die sich nach silbrigem Celesta-Regen umkehrt, wieder leiser wird und verschwindet, ist ein Wunder an Einfachheit. Den fast unhörbar leisen Anfang bekommen in Berlin nur die Philharmoniker so perfekt hin; trotzdem wird dieses Mirakel verhustet. Der 3. Satz, das Adagio, beginnt mit geheimnisvoll freischwebenden Xylophonschlägen auf demselben Ton und bizarren Paukenglissandi, die hier überraschend klar, fast trocken klingen; umso ätherischer dann die extrem fragilen Flageolettklänge, das Sprudeln und Perlen der Celesta, sie sich erst mit dem Klavier, dann der Harfe verbindet; und umso heftiger der große Ausbruch in der Mitte des Satzes. Der 4. Satz, in dem es heftig fetzt und bumpert, besorgt den Rest, das Publikum bricht in Jubelstürme aus. Der Husten hat längst nachgelassen; so gesehen ist die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta eins der wenigen unmittelbar überzeugenden Werke des 20. Jahrhunderts, ein Stück, auf das sich Ewiggestrige und Ewigmorgige einigen können.
Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 2 cis-Dur gehört zum völlig verdüsterten Spätwerk, am grausigsten sind die Lichtblicke, etwa die abgerissenen fröhlichen Momente im 1. Satz. Aus dem grellen Sarkasmus des frühen Schostakowitsch (die Trompeten) ist hier depressiver Sarkasmus geworden (das Horn). Bei einem Pizzicato-Piccolo-Triumphlied spielt die Geige nur einen Ton, verzweifelt verzagt. Überhaupt spielt die Geige im ganzen Stück gefühlt nur 3 bis 4 Töne in ständigen Wiederholungen, es klingt, als hätte sie maximal 2 Saiten, ein depressives Tatü-Tata. Dabei ist äußerlich alles ganz klassisch mit Dreisätzigkeit, Kadenz und allem Pipapo. Das Finale in Rondoform hat burleske Züge und bietet dem Interpreten Gelegenheit, in der ausgedehnten Solokadenz zu brillieren – über welches andere ernstzunehmende Stück im 20. Jahrhundert könnte im Programmheft ein solcher, selbst fast schon burlesker Satz stehen? Auch diese extrem reduzierte Verzweiflungsmusik mit ihren unverständlichen Zitaten löst ekstatischen Jubel aus. Sehr befremdlich. Sicher gilt die Begeisterung dem großartigen Geiger Frank Peter Zimmermann. Nach dieser jenseitslosen Musik ist man für die obligatorische Bachzugabe mehr als dankbar. Zimmermann hat sich allerdings zunächst gegen eine Zugabe gesträubt, wurde aber durch Applaus und Aufforderung des Konzertmeisters quasi gezwungen.
Allerdings macht dieser Trost den Kontrast zwischen Schostakowitschs Fahlheit und dem überreichen Farbenreichtum von Maurice Ravels Daphnis und Chloé-Suite Nr. 2 zunichte. Vielleicht ist das aber auch gut so. Ravels am größten besetztes Orchesterwerk, das Jansons auswendig dirigiert, ist ein Glanzstück wie Bruckners Achte oder Strauss‘ Alpensymphonie. Es beginnt ebenfalls mit dem Sonnenaufgang – ein sechsminütiges Tageserwachen, viel suggestiver als Strauss, aber ebenfalls sehr pompös. Jeder Solist darf mal brillieren, allen voran die Soloflöte im 2. Satz. Der 3. Satz, der Schlusstanz im 5/4-Takt, ist auch ohne den stöhnenden Chor, den Ravel im Originalballett verlangt, eine ekstatische Klangorgie. Begeisternde Showmusik; trotzdem gut, dass Ravel danach andere Wege eingeschlagen hat.
Das Philharmonikerkonzert ist an dieser Stelle zu Ende. Morgen wird das gleiche Programm im Kino übertragen. Auf dem Heimweg radelt der Konzertgänger am nächtlichen Spreeufer vorbei, aus der Dunkelheit ist furchtbare Musik zu hören, aber das Klappern der Bierflaschen erinnert an das Xylophon am Anfang des Bartók-Adagio.
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